Was passierte nach der letzten Montagsdemo wirklich?
Letzte Woche verkündete die Bahn, den Bau von Stuttgart 21 wieder aufzunehmen. Selbst linke Medien sinnierten darüber, warum das nicht zu größeren Protesten führte und beachteten nicht, dass wir Stuttgart-21-GegnerInnen mit gutem Grund die Bahn der Rubrik „Lügenpack“ zuordnen. Tatsächlich hat es nie einen völligen Baustopp gegeben.
von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Seit 6. Juni werden die Bautätigkeiten wieder hochgefahren. Das hat dazu geführt, dass S-21-GegnerInnen verstärkt blockieren. Ab der zweiten Juni-Woche wurden oft und bis zu acht Baufahrzeuge mit bis zu 300 Blockierern stundenlang blockiert. Um Blockaden zu erschweren, sperrte die Polizei am 20. Juni die Straße zwischen Südflügel und Park ab.
Hintergrund
Der Südflügel ist in den letzten Wochen teilweise entkernt worden. Seine völlige Entkernung und sein Abriss werden für die nächsten Monate befürchtet. Der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) ist seit dem 1. April 2010 geschlossen. Das Gelände wurde eingezäunt und zum Deponieren für Material für S21-Bauarbeiten verwendet. Direkt daneben liegt der Teil des Schlossgartens, in dem in der Nacht zum 1. Oktober 2010 nach dem brutalen Polizeieinsatz des „schwarzen Donnerstags“ die Bäume gefällt wurden.
Dort wurde seitdem das Gebäude für das „Grundwassermanagement“ errichtet. Mit dem „Grundwassermanagement“ soll das Grundwasser abgesenkt werden, um die Bauarbeiten für den unterirdischen Bahnhof für S21 zu ermöglichen. Dafür sollen 17 km Röhren in der Innenstadt verlegt werden. Das „Grundwassermanagement“ gefährdet die Parkbäume in der Umgebung und die zweitgrößten Mineralquellen Europas. Außerdem will die Bahn mehr als doppelt so viel Wasser abpumpen, wie ihr genehmigt wurde. Ein Gutachten des Umweltministeriums besagt, dass dafür ein neues Planfeststellungsverfahren erforderlich ist. Trotzdem will die Bahn bauen und Rohre verlegen. Welchen Durchmesser die Rohre haben müssen, soll wohl später geklärt werden?
Montag, der 20. Juni am Vormittag
Kein Wunder, dass die Straßensperrung durch die Polizei am 20. Juni von den Stuttgart-21-GegnerInnen als besondere Provokation empfunden wurden.
Montag Morgen wurde der „Parkschützer-Alarm“ ausgelöst. Auf der Ende 2009 gestarteten Parkschützer-Website können sich AktivistInnen eintragen, wenn sie den Stuttgarter Schlossgarten schützen wollen. Bisher haben das 32.700 gemacht. Sie können auch eine Handy-Nummer angeben und erhalten dann in dringenden Fällen eine SMS. Von dieser Möglichkeit haben auch viele Tausende Gebrauch gemacht, die dann am Montag morgen mobilisiert wurden.
Der Parkschützer-Alarm funktionierte am 30. September ausgezeichnet, als 2.000 SchülerInnen zwei Straßen weiter demonstrierten und in wenigen Minuten im Park waren und „die Stellung hielten“, bis weitere AktivistInnen sie verstärkten. In anderen Fällen, so auch am Montag Morgen, war die Zeit zu kurz, um größere Zahlen von AktivistInnen rechtzeitig zu mobilisieren.
Faktisch blockierten am Montag Morgen die AktivistInnen, die unabhängig vom Parkschützer-Alarm, aufgrund der Ankündigungen der Vortage, gekommen waren. Die Polizei erteilte den BlockiererInnen, die die Blockade nicht räumten, einen pauschalen Platzverweis bis Mittwoch 24.00 Uhr.
In den folgenden Stunden kamen ein paar Hundert weitere AktivistInnen. Da es sich zeigte, dass sich vor Ort gerade nicht so viel machen ließ, einigte man sich auf eine Spontandemo zum Rathaus, um dort gegen den Polizeieinsatz zu demonstrieren. Dort ließ sich sogar Ordnungsbürgermeister Martin Schairer (CDU) herab, mit den DemonstrantInnen zu sprechen. So weit, die an ihn gestellten Fragen ernsthaft zu beantworten, ging seine Kooperation allerdings nicht.
79. Montagsdemo
Am Abend fand die 79. Montagsdemo statt. Da in der Woche zuvor wegen Pfingstmontag keine Montagsdemo stattgefunden hatte, war es die erste Montagsdemo seit dem offiziellen Bau-Neubeginn. Die Beteiligung war deutlich größer als in den Wochen zuvor und die Stimmung kämpferisch. Selbst der Moderator trat kämpferisch auf und forderte nur leicht verklausuliert zur Teilnahme an Blockaden auf – obwohl er Stadtrat der Grünen ist.
Joe Bauer, Kolumnist der ansonsten Stuttgart-21-freundlichen Stuttgarter Nachrichten (also eine Art weißer Rabe), begann seinen Redebeitrag mit dem Hinweis, dass der 20. Juni der Todestag von Clara Zetkin ist, die viele Jahre in Stuttgart gelebt hatte. Nachdem er Clara Zetkin für den Weitblick gelobt hatte, den sie mit ihrem Austritt aus der SPD bewies, zog er über die aktuelle Stuttgarter Politik vom Leder. Er beendete seinen Redebeitrag mit dem Hinweis auf einen anderen Jahrestag: Der 14. Juli ist nicht nur der Tag der Bekanntgabe des Stresstests, sondern auch der Jahrestag des Sturms auf die Bastille.
Platzbesetzung
Geplant war im Anschluss eine Kurzdemonstration zum Südflügel, wo ein kurzer Vortrag von Dr. Norbert Bongartz (ehemaliger Mitarbeiter des aufgelösten Landesdenkmalamts) über den Hauptbahnhof-Südflügel stattfinden sollte. Aber offenbar waren einige DemonstrantInnen der Ansicht, dass der abgezäunte ehemalige ZOB auf der anderen Straßenseite keine Bastille ist und man deshalb nicht auf den 14. Juli zu warten braucht.
Der Bauzaun wurde in eine horizontalere Lage gebracht und mindestens 1.000 Leute besetzten den Platz. Die Menschen auf dem Platz waren ein bunter Querschnitt der Bewegung gegen S21. RentnerInnen, Menschen mit Anzug und Krawatte, Familien mit Kindern und andere. Unter anderem sah ich mehrere Betriebsräte aus Metallbetrieben und einen emiritierten Universitätsprofessor. Einige besetzten auch das Dach des Grundwassermanagement-Gebäudes nebenan und ließen Transparente (unter anderem von der „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“) herab.
Die Stimmung war ausgezeichnet. Vielen AktivistInnen war anzumerken, dass sie davor Sorgen gehabt hatten, der Widerstand könnte sich in eine falsche Richtung entwickeln, und ihnen jetzt ein Stein vom Herzen fiel.
Die Polizei war mit einem Großaufgebot da, beschränkte sich aber die ersten Stunden darauf, zu verhindern, dass mehr Leute zum GWM-Gebäude vordringen konnten. Nach etwa zwei Stunden gab es einen neuen Parkschützer-Alarm, durch den aufgefordert wurde, zur Unterstützung zu kommen.
Die Besetzung konnte trotzdem nicht die ganze Nacht aufrechterhalten werden. Sie war aber eine ernste Warnung an Grube, Schuster und Co. Viele S-21-Gegnerinnen und Gegner, die am Montag die Baustelle besetzten hatten, hätten sich das vor einer Woche noch nicht vorstellen können.
Propaganda-Offensive
Die Befürworter von S21 wissen auch, dass ihr Projekt ernsthaft gefährdet ist, wenn größere Schichten von S21-GegnerInnen zu zivilem Ungehorsam bereit sind und nicht passiv abwarten, ob das Projekt an seinen inneren Widersprüchen scheitert.
Deshalb versuchten sie mit Berichten über angebliche Gewalt bei der Platzbesetzung wieder in die Offensive zu kommen. Natürlich gab es „Gewalt gegen Sachen“. Einen Bauzaun bringt man nicht mit Worten zum Umfallen. Außerdem kam es – neben dem Malen von Parolen mit Kreide auf dem Boden oder dem Anbringen von Anti-S21-Aufklebern an Baufahrzeugen – auch zum Verringern des Luftdrucks in Reifen von Baufahrzeugen, dem Abfüllen von Sand in Spezialbaumaschinen und ähnlichem. Ob dadurch wirklich eine Million Euro Sachschaden entstanden ist, ist offen. Selbst wenn es so wäre, wäre es ein Klacks gegen die durch die bei der Verwirklichung von Stuttgart 21 drohenden Schäden.
Nach Polizei-Angaben sind auch neun Polizisten verletzt worden, acht davon durch den Knall bei der Explosion eines Böllers. Seltsam ist nur, dass auf Videos zu sehen ist, dass DemonstrantInnen viel näher bei dem Böller standen… Warum haben sie keine Hörschäden davon getragen? Wer den Böller mitgebracht und gezündet hat, wissen wir nicht. Er hat sicher die Leute, die auf der Straße neben dem besetzten Platz standen, nicht animiert, sich an der Besetzung zu beteiligen. Dass das das Werk eines Polizeiprovokateurs war, können wir nicht ausschließen.
Bei dem neunten Polizist handelte es sich um einen Polizisten in zivil, der sich unter die BesetzerInnen gemischt hatte und offenbar als Provokateur tätig war. Als er enttarnt wurde – er hatte seine Dienstwaffe dabei! – wurde er von PlatzbesetzerInnen weg begleitet. Auf Videos ist zu sehen, dass einzelne dabei handgreiflich wurden, während andere ihn abzuschirmen versuchten. Die Aufnahmen lassen die Polizeiaussagen von schweren Verletzungen aber als völlig unglaubwürdig erscheinen. Wenn jetzt die Stuttgarter Staatsanwaltschaft wegen „versuchtem Totschlag“ ermittelt, dann sagt das nichts über die Ereignisse vom Montag und alles über den Charakter der Stuttgarter Staatsanwaltschaft aus, die unter Oberstaatsanwalt Bernhard Häussler die ganze Zeit versucht, die Bewegung gegen S21 zu kriminalisieren, während Ermittlungen wegen der Polizeigewalt vom 30. September reihenweise eingestellt wurden. (Oberstaatsanwalt Häussler fiel schon die letzten Jahre dadurch auf, dass er durchgestrichene und zerschlagene Hakenkreuze als verbotene nationalsozialistische Symbole verfolgen ließ und dass er seit über neun Jahren die Anklage gegen Mitglieder der 16. SS-Panzerdivision wegen der Ermordung von 560 EinwohnerInnen des italienischen Dorfs Sant’Anna di Stazzema verschleppt.)
Dass die Stuttgart-21-Befürworter alles aufgreifen, was sie für politisch nutzbar halten, ist verständlich. Aber die Bewegung gegen S21 sollte sich davon nicht in die Defensive drängen lassen, sondern lieber thematisieren, warum auch unter einem grünen Ministerpräsidenten weiter Polizeiprovokateure gegen Stuttgart-21-Proteste eingesetzt werden und der neue SPD-Innenminister mit dem erneuten Einsatz von Wasserwerfern droht.