Berlin, 9. Juni: Erneuter Bildungsprotest – aber leider auch eine Chance verpasst
Seit Jahren sorgt das Streichkonzert der Regierung von SPD und LINKEN für Ärger an den Berliner Schulen. Immer wieder kommt es zu Protestaktionen. Am Dienstag, den 5. April tat sich Beachtliches: 6.000 LehrerInnen beteiligten sich an einem Warnstreik der GEW. Es brodelte, die Stimmung näherte sich dem Siedepunkt. Nun, am 9. Juni, demonstrierten wieder 5.000, dieses Mal vor allem SchülerInnen, aber auch einige Eltern. Allerdings fand dieser Ausstand gut zwei Monate nach dem kämpferischen Warnstreik der LehrerInnen statt – damit hatte die GEW-Spitze die Protestbewegung verschleppt und auch zu wenig unternommen, die Lehrkräfte wieder in großer Zahl ins Boot zu holen. So ist die Gefahr gewachsen, dass der Unmut erst mal wieder verdampft.
von Aron Amm, Elternvertreter der Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule im Prenzlauer Berg
Das Duchschnittsalter der LehrerInnen an der Spree beträgt 50,3 Jahre. Die Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte wurde seit 1990 um vier Stunden raufgesetzt.
„Knallharter Konsolidierungskurs“
In dieser Legislaturperiode senkte „Rot-Rot“ den Personalschlüssel von 105,5 auf 100 Prozent ab (plus drei Prozent Krankheitsvertretung). Die Folge: ein Krankenstand von zehn Prozent, 1.000 Langzeitkranke. Angesichts dieser Entwicklung forderte die GEW beim Warnstreik im April einen Personalschlüssel von 110 Prozent, die Absenkung der Pflichtstunden und die Wiedereinführung der Altersteilzeit.
Zehn Jahre „Sparen, bis es quietscht“ unter Klaus Wowereit (SPD) haben nicht nur steigenden Unterrichtsausfall zur Folge, sondern führen auch zu einer immer dramatischeren Unterfinanzierung der Schulen sowie zu einer maroden baulichen Situation.
Alle SchülerInnen, Eltern und Lehrkräfte haben das Gefühl, es geht bergab und die Regierenden treten dabei noch aufs Gaspedal: Während Berlin sich am Bankenrettungspaket beteiligte und Prestigevorhaben wie den Wiederaufbau des Stadtschlosses verfolgt, hat das Land weiterhin 60 Milliarden Euro Schulden. Jahr für Jahr fließen über 2,5 Milliarden Euro Schuldzinsgelder an Banker und Spekulanten. Am 15. April verpflichtete sich der Senat gegenüber der Bundesregierung über einen „Konsolidierungsvertrag“ zur sogenannten Schuldenbremse. Für Finanzsenator Ulrich Nußbaum heißt das: Es gibt „keine Alternative zum knallharten Konsolidierungskurs“.
Berufskrankheit Schulstress
Jeder macht seine eigenen Erfahrungen mit der Dauerbaustelle „Berliner Bildungssystem“. Bevor mein Junge eingeschult wurde, freute er sich – wie die meisten Kinder – riesig auf die Schule. Aber schon nach drei Monaten fragte er eines Morgens niedergeschlagen: „Muss ich heute wieder zur Arbeit?“ In der 3. Klasse hatte er schon eine 40-Stunden-Woche: Obwohl er in eine Ganztagsschule ging, sollten wir an den Nachmittagen plötzlich Diktate schreiben und das große Einmaleins pauken. In der 4. Klasse konnten mehrere MitschülerInnen vor Klassenarbeiten keinen Schlaf finden. Immer wieder hörte ich: „Ich habe Kopfweh“ (ein Viertel aller GymnasiastInnen klagt regelmäßig über Kopfschnerzen, so die Krankenkasse DAK).
Nach der 4. Klasse gelang es uns, einen Platz in einer der wenigen Berliner Gemeinschaftsschulen (gerade mal 17 in einer Stadt von 3,4 Millionen Menschen) zu ergattern – noch dazu einer, in der es bis Klasse 10 keine Noten gibt und die Lehrerin unserer Lerngruppe beim ersten Elternabend meinte, das Ziel der Schule sei es nicht (wie Ochsen) zu büffeln, sondern „das Lernen zu lernen“.
Aber auch in unserer Schule wachsen die Bäume nicht in den Himmel – wie sollte das unter Schulsenator Jürgen Zöllner auch der Fall sein?! Letzten Winter führte der vom Senat verordnete Personalschlüssel dazu, dass ein Viertel aller LehrerInnen ausfiel – nachdem das Kollegium für einzelne Erkrankte wochenlang eingesprungen war und sich irgendwann von der Unzahl an Überstunden erschöpft zeigte. Eines der drei Schulgebäude und die Mensa sind seit zwei Jahren Dauerbaustellen.
Der 9. Juni als eine Möglichkeit, dem Ärger Luft zu machen
Für die Wilhelm-von-Humboldt-Schule war der Protesttag am 9. Juni ein wichtiger Termin. Zunächst hatten wir am 1. März eine mit 200 TeilnehmerInnen hervorragend besuchte Elterntagung über die bildungspolitische Misere. Dann diskutierten eine AG „Politische Arbeit“, die Gesamtelternvertretung und ein „Protest-Ausschuss“ die Lage. Da die Schule erst vor drei Jahren gegründet wurde und die ältesten Kinder zehn, höchstens elf Jahre sind, entschied man sich, am 5. April nicht teilzunehmen. Immerhin wurden ein halbes Dutzend Transparente gemalt und in den Folgewochen aus den Fenstern des Schulgebäudes gehängt. Da jedoch der Bedarf stieg, seiner Empörung auch öffentlich – und gemeinsam mit anderen Betroffenen – Ausdruck zu verleihen, wurden die Stimmen lauter, doch endlich am 9. Juni mit von der Partie zu sein.
Aber alles nicht so einfach. Das Kollegium ließ sich von den Androhungen des Senats (Disziplinarmaßnahmen bis hin zur Kündigung) stark einschüchtern. Dann entschieden sich eine Reihe von Eltern, die Kinder mitzunehmen; allerdings hatte man vor drei Monaten zur Entlastung der LehrerInnen bei der Zeugnisvorbereitung beschlossen, den 8. Juni zu einem Elterntag zu machen. Da viele Mütter und Väter schon an diesem Tag frei nehmen mussten, konnten sie dann nicht auch noch am 9. Juni auf der Matte stehen. Schlussendlich war die Schule bei der Demonstration dann mit gut 40 Eltern und Kindern – und vielen selbstgebastelten Schildern und Transparenten („Bei den Banken sind sie fix, für die Bildung tun sie nix“, „Unser Schulessen stinkt zum Himmel“, „Mehr Lehrer und mehr Geld!“ und und und) vertreten.
Chance vertan
Beim Warnstreik der LehrerInnen am 5. April war deutlich geworden, wie ernst die Lage ist. Immer mehr Pädagogen müssen über Hörstürze, Herzinfarkte und Burn-Out-Syndrome klagen. Trotz Zöllners Appell an die Rektoren, „schwarze Listen“ aller Streikwilligen zu erstellen, und der Androhung von Gehaltseinbußen und Abmahnungen war jeder fünfte Lehrer der Streikaufforderung gefolgt. Bei der anschließenden Versammlung im „Cubix“-Kino pochten viele darauf, diesem Warnstreik rasch weitere Widerstandsaktionen folgen zu lassen. Die GEW-Führung nutzte diese Bereitschaft aber in keiner Weise, sondern bremste den Schwung wieder ab. Erstens verlegte sie den nächsten Protest auf den 9. Juni – zweieinhalb Wochen vor Beginn der Sommerferien. Zweitens unterließ sie eine effektive Mobilisierung. Drittens verband sie den Demostart um 12.30 Uhr nicht mit einem Streikaufruf. Viertens ließ sie sich vom Senat einschüchtern – dabei hatte man den Repressionsdrohungen noch zwei Monate zuvor erfolgreich stand gehalten.
Anders als am 5. April waren deshalb nur einige hundert LehrerInnen auf den Beinen. Dabei hatte der Warnstreik bewiesen, dass das Potenzial für Arbeitsniederlegungen der Pädagogen existiert. Hätte die GEW Entschlossenheit gezeigt, zum Streik aufgerufen und dafür mobilisiert, wären sicherlich Tausende LehrerInnen auch am 9. Juni aktiv geworden – im Wissen, dass bei einer massenhaften Streikbeteiligung die Waffe des Senats, „Sanktion“, stumpf geworden wäre. Da der Landeselternausschuss, die Schülervertretung und die Initiative „Bildungsblockaden einreißen“ ebenfalls aufgerufen hatten, kam dann trotzdem eine Zahl von 5.000 Protestierenden zustande.
René Kiesel (Schülervertreter am OSZ Bürowirtschaft II in Lichtenberg, Aktivist des Bündnisses „Für eine bessere Schule in Berlin“ und SAV-Mitglied) gehörte am 5. April und am 9. Juni zu den RednerInnen der beiden Kundgebungen. René Kiesel hatte sich (wie die SAV Berlin in ihrem aktuellen Flugblatt) dafür eingesetzt, die Bewegung weiter aufzubauen und zu steigern. Nach dem erfolgreichen Warnstreik hätte wenige Wochen später, nicht erst im Juni, ein solcher Sternmarsch, also ein machtvoller gemeinsamer Protest von SchülerInnen, Eltern und streikenden LehrerInnen folgen sollen – als Vorbereitung auf einen eintägigen Streiktag des Lehrpersonals und der SchülerInnen, unter Beteiligung vieler Eltern. Da am 18. September die Abgeordnetenhauswahlen anstehen, hätte man so massiven Druck auf die Kürzungspolitiker ausüben können.
Bedauerlicherweise will die GEW-Spitze an ihrem Kurs vereinzelter Proteste festhalten und jetzt für den 10. September (einen Samstag!) zur nächsten Kundgebung aufrufen. Es gilt, die Politik der GEW-Führung zu problematisieren, weiter für eine Steigerung der Proteste einzutreten und für einen gemeinsamen eintägigen Streiktag – vor dem Wahltermin am 18. September – zu argumentieren. Um darauf hinzuwirken, kann auch die Schaffung von Schul- beziehungsweise Aktionskomitees aus SchülerInnen, LehrerInnen und Elternschaft hilfreich sein.
Es brennt – an Schulen und Unis, bundesweit
Der 9. Juni war der Tag der Kultusministerkonferenz (KMK). Aus diesem Anlass waren neben den 5.000 in Berlin bundesweit insgesamt 70.000 auf die Straße gegangen. Die Unterfinanzierung betrifft im Übrigen nicht nur Schulen, sondern auch die Universitäten. So zogen in Hamburg am 7. Juni auch 15.000 Studierende gegen Etatkürzungen von sechs bis zehn Prozent durch die Innenstadt!
Es brennt also an Schulen und Universitäten. Die verantwortlichen Bildungspolitiker fungieren nicht als Feuerlöscher, sondern als Brandbeschleuniger. Folglich muss in der LINKEN und in den Gewerkschaften für eine offensive Ablehnung aller „Sparprogramme“ und für einen kämpferische Ausrichtung gestritten werden. Über Initiativen in den Gewerkschaften und über Schul- beziehungsweise Aktionskomitees kann die Vernetzung von Betroffenen gefördert und auf den Aufbau einer wirksamen Protestbewegung hingearbeitet werden.