Rezepte für Katastrophen

Kommt es zur Insolvenz Griechenlands? Verlässt Hellas die Euro-Zone?


 

Anfang Mai hielten die europäischen Finanzminister ein Geheimtreffen ab, um über die Griechenland-Krise zu beraten. Dort wurden auch Szenarien für eine Staatspleite und die Wiedereinführung der Drachme durchgespielt. Als diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Nachrichten doch durchsickerten, wurde die Zusammenkunft vom Gastgeber, dem Luxemburgischen Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker, zunächst barsch dementiert. Dann stritten alle Beteiligten den wahren Inhalt der Gespräche ab. Schließlich wurde es auf den Kapitalmärkten turbulent. Und die bürgerlichen Kommentatoren äußerten sich düster. So urteilte Wolfgang Münchau am 9. Mai in der Financial Times: „Die können nicht mal ein privates Treffen organisieren. Wie wollen sie da eine Schuldenkrise lösen?“

von Aron Amm, Berlin

In seinem „Kapital“ erklärte Karl Marx die Kapitalisten für unfähig, die Widersprüche ihres eigenen Wirtschaftssystems zu erkennen und zu überwinden. In aller Regelmäßigkeit purzelt ihnen „das Haus über dem Kopf zusammen“. So auch vor drei Jahren. Um diese jüngste globale Rezession einzudämmen, mobilisierten die Herrschenden weltweit 15 Billionen US-Dollar. Da vor allem öffentliche Gelder in den Bankensektor und in die Industrien gepumpt wurden, mutierten die staatlichen Schuldenberge zu Schuldengebirgen.

Beliefen sich die Staatsschulden am Ende des kapitalistischen Nachkriegsaufschwungs Mitte der siebziger Jahre bei den führenden Industrieländern noch auf etwa 40 Prozent des Sozialprodukts, so verdoppelten sich diese seitdem im Schnitt auf über 80 Prozent. In den USA liegt die Gesamtverschuldung schon bei fast 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in Japan gar bei über 200 Prozent. Gemessen an diesen ökonomischen Riesen nehmen sich die Defizite in Ländern wie Griechenland (wo die Schulden 2011 zum Beispiel von 143 auf geschätzte 160 Prozent des BIP klettern werden) in absoluten Zahlen vergleichsweise gering aus. Dennoch spitzt sich die Schuldenkrise in diesen Tagen gerade im Euro-Raum besonders zu.

Geburtsfehler des Euro

Seit die Gemeinschaftswährung 1999 aus der Taufe gehoben wurde, krankt sie an einem Grundproblem. Die Aufgabe der nationalen Währungen zwang die heute 17 Mitgliedsländer zu einer einheitlichen Währungs- und Zinspolitik. Auf Dauer ist ein solcher gemeinsamer finanzpolitischer Kurs von miteinander in Konkurrenz stehenden Ländern jedoch ausgeschlossen. Also müssten die verschiedenen Nationalstaaten eigentlich aufgelöst werden – allerdings können die jeweiligen Kapitalistenklassen auf ihre nationalstaatliche Souveränität unmöglich verzichten. Selbst Konzerne wie Siemens, deren Belegschaft beispielsweise mehrheitlich im Ausland beschäftigt ist, müssen sich – da sie mit anderen privaten Unternehmen im Wettstreit stehen – auf ein nationales Territorium zurückziehen können und benötigen staatlichen Schutz.

Im Aufschwung der Nullerjahre konnten diese Probleme noch im Zaum gehalten werden. In Krisenzeiten erweist sich der Euro für die Mitgliedsstaaten jedoch mehr und mehr als Zwangsjacke. Zumal sich in den Vorjahren divergierende Prozesse verstärkten: Während der industrielle Sektor in den kleineren Ländern weiter ausgehöhlt wurde, erhöhte sich der industrielle Anteil am deutschen BIP sogar noch einmal leicht auf 24 Prozent.

Sparpolitik bedeutet Brandbeschleunigung

Der russische Revolutionär Lenin sprach einmal davon, dass die Herrschenden nicht groß anfangen nachzudenken, wenn sie am Rande des Abgrunds stehen. Diese Beobachtung trifft exakt auf die Regierungen der Euro-Zone zu.

Vor genau einem Jahr wurde für das hochverschuldete Griechenland das erste Rettungspaket geschnürt. Zugestanden wurden bis 2013 Darlehen und Kreditgarantien in Höhe von 110 Milliarden Euro. In der Zwischenzeit wurden ähnliche Rettungspakete für Irland und Portugal bereitgestellt. All diese „Hilfen“ sind an harte Auflagen geknüpft. Damit diese Länder Kredite und Zinsen an die Gläubiger zurückzahlen können, soll die Arbeiterklasse geschröpft werden. Dieser Kamikaze-Kurs bedeutete für die arbeitende Bevölkerung Griechenlands letztes Jahr Einkommensverluste von zwanzig Prozent. 200.000 Lohnabhängige wurden entlassen. Der Konsum brach ein. Jeder fünfte Laden in Athen musste schließen. Die Wirtschaft schrumpfte um 4,5 Prozent. Der Aktienmarkt fiel auf das Niveau von 1997 zurück. Der Geldstrom in die Staatskassen versiegte. Die Folge: Statt sich zu berappeln und sukzessive über Staatsanleihen selber wieder Mittel am Kapitalmarkt besorgen zu können, wurde schon die Hälfte des Rettungsfonds aufgebraucht, die restlichen 55 Milliarden reichen wahrscheinlich nur noch bis Frühjahr 2012 (und nicht, wie geplant, bis 2013). Dann wäre Griechenland bankrott.

Vor diesem Hintergrund wurde in dem Mittelmeerstaat nun auf Drängen der Euro-Länder ein gewaltiges Privatisierungsprogramm gestartet. 50 Milliarden Euro sollen so kurzfristig in die Kassen gespült werden. Da diese Forcierung neoliberaler Maßnahmen zu noch mehr Entlassungen und Armut führen wird, wirken solche Spar-auflagen nur wie „Brandbeschleuniger“ (so Frank Schäffler, Finanz-„Experte“ der FDP-Bundestagsfraktion).

Bereits vor diesem neuen sogenannten Austeritätsprogramm kam es in Griechenland zum neunten Generalstreik seit Beginn der Rezession. Auch die Jugend Südeuropas sendete Signale, dass sie das kapitalistische Krisenmanagement nicht länger hinzunehmen gedenkt. Allen voran „die Empörten“ (Los Indignados) Spaniens: In 130 Städten besetzten Zehntausende die öffentlichen Plätze; der Plaza Puerta del Sol wurde schon als Madrider „Tahrir-Platz“ bezeichnet.

Das U-Wort

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Griechenland niemals seine Schulden begleichen kann. Die Debatte über eine partielle Streichung der Schulden, euphemistisch „Umschuldung“ genannt, ist voll entbrannt. Eine „sanfte Umschuldung“, eine Verlängerung der Laufzeit der Kredite, scheint bereits beschlossene Sache. Offensichtlich wird das nicht reichen. Eine partielle oder komplette Schuldenstreichung hätte aber viele Verlierer.

Gerade die Europäische Zentralbank (EZB) ist in Alarmbereitschaft. Schließlich haben die deutschen und andere private Geldhäuser jüngst ein Drittel der griechischen Schulden auf die EZB abgewälzt; bis 2013 soll der öffentliche Anteil an den griechischen Schulden sogar 50 Prozent betragen. Mit der Konsequenz, dass eine Schuldenstreichung für die EZB Verluste von über hundert Milliarden Euro mit sich bringen würde.

Da die französischen Banken in Griechenland am stärksten involviert sind und ein „hair cut“, ein partieller Verzicht auf die Rückzahlung der Kredite, Milliardenverluste für Frankreichs Kapital bedeuten würde, wehrt sich die Regierung von Nicolas Sarkozy besonders vehement gegen einen solchen Schritt.

Zudem haben die griechischen Banken und Pensionskassen dem griechischen Staat 75 Milliarden Euro geliehen. Sie wären wahrscheinlich schon bei einer Halbierung der griechischen Staatsschulden pleite (übrigens haben die Bankkunden bereits 46 Milliarden Euro von den Konten abgehoben). Griechenland wäre eine Volkswirtschaft ohne einen eigenen funktionierenden Bankensektor.

Vor allem für die griechischen und französischen Geldhäuser und für die EZB und damit für die ganze Euro-Zone gilt die Warnung vom EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark: „Eine Umschuldung ist das Rezept für eine Katastrophe.“ Darum soll ein Schuldenschnitt weiter hinausgeschoben werden. Wenn er sich dann nicht länger vermeiden lässt, könnte das zu einer schwer kalkulierbaren Eskalation von Bankenzusammenbrüchen und politischen Turbulenzen führen.

Zurück zur Drachme?

Nicht nur das U-Wort macht die Runde. Auch über einen Austritt Griechenlands aus dem Euro-Raum wird spekuliert. Aber das wäre für Griechenland ebenfalls keine Lösung. Abgesehen von einem zu erwartenden Run auf die Banken und einer panikartigen Kapitalflucht könnten die Schulden möglicherweise weiterhin in Euro gerechnet werden. Bei einer sicherlich extrem schwachen Drachme wäre das Land dann fast sofort zahlungsunfähig.

Natürlich begünstigt eine abgewertete Währung den Absatz auf dem Weltmarkt. Da der griechische Exportsektor aber nur sieben Prozent zum BIP beisteuert, lässt sich darauf auch nicht bauen.

Was die europäischen Kapitalisten am meisten umtreibt, ist die Angst vor einer Kettenreaktion. Schon ein Austritt Griechenlands würde verheerende Risiken für die weitere Existenz der Gemeinschaftswährung bergen. Aber was wäre, wenn Irland, Portugal oder sogar Länder wie Italien und Spanien folgen sollten? „Wir wollen nicht, dass der Euro-Raum ohne Grund explodiert“, äußerte Juncker.

Mitte Mai beschrieb die Ratingagentur Standard and Poor’s die Zukunftsaussichten Italiens erstmals mit „negativ“. Solche Wertungen gehen oft Herabstufungen der Kreditwürdigkeit voraus. Das verteuerte die Prämie der Kreditausfallversicherungen auf einen Schlag um acht Prozent. Im Gegensatz zu Griechenland ist Italien alles andere als ein kleiner Fisch. Dieser „Fisch“ – die drittgrößte Euro-Ökonomie mit einer Staatsschuld von 118 Prozent, 1.760 Milliarden Euro – würde wahrscheinlich jedes europäische Rettungsnetz reißen.

Innereuropäische Rivalitäten

Die Bürgerlichen beklagen selber, dass der Gemeinschaftswährung eine „politische Union“ fehlt. Aufgrund des Fortbestehens der Nationalstaaten im Kapitalismus lässt sich dieses Problem allerdings nicht lösen. Im Zuge der heutigen ökonomischen und politischen Krise nehmen die Spannungen noch zu. So sieht Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Euro-Krise „vielmehr eine Krise der Handlungsfähigkeit der EU insgesamt“. Und weiter: „Weder gibt es eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik, noch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.“ Ob die Euro-Rettungsmaßnahmen, ob eine „Umschuldung“ Griechenlands oder Libyen – in einer Frage nach der anderen kommt es zu Konflikten, zuvorderst zwischen den beiden beherrschenden Mächten der Euro-Zone: Frankreich und Deutschland.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hält die Folgen einer „Umschuldung“ Griechenlands für katastrophaler als die Lehman-Brothers-Pleite. Eine Staatsinsolvenz Hellas’ könnte bereits die Euro-Zone sprengen. Dies hätte nicht nur unabsehbare ökonomische Verwerfungen zur Folge, sondern würde (möglicherweise im Zuge der Herausbildung mehrerer Währungsgebiete) die Konflikte zwischen den Großmächten Europas weiter zuspitzen.