Sarrazin und seine Bildungsthesen
Kaum ein Bildungssystem ist so ungerecht wie das deutsche, das stellt inzwischen auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) fest. Neben deutschen Arbeiterkindern sind besonders Kinder mit Migrationshintergrund stark benachteiligt, sie kommen deutlich seltener aufs Gymnasium, auch erreichen deutlich mehr von ihnen überhaupt keinen Schulabschluss. Offensichtlich ist der Bildungsabschluss extrem abhängig von der sozialen Herkunft.
von Sophia Häberle, Stuttgart
Für bürgerliche Politiker und „Bildungs- und Migrationsexperten“ wie Thilo Sarrazin ist der Fall klar: Schuld sind die „Bildungsversager“ selbst, vor allem die „integrationsunwilligen Ausländer“, die dem deutschen Sozialsystem nur auf der Tasche liegen würden.
Selektives Bildungssystem
Keine Rede ist da von den heutigen Bedingungen im Bildungssystem: starkem Leistungs- und Notendruck bei verkürzter Lernzeit (das berühmt-berüchtigte G8), der Selektion in angeblich Schlaue, Dumme und ganz Dumme oft gleich nach der 4. Klasse mit kaum einer Möglichkeit, aus eigener Kraft den Schulwechsel zu schaffen, den großen Klassen mit überforderten LehrerInnen, die einfach nicht auf individuelle Probleme der SchülerInnen eingehen, ihre Fähigkeiten nicht individuell fördern können, dem fremdbestimmten Lernen von den Inhalten, die „die Wirtschaft“ gerade benötigt.
Diskriminierung von MigrantInnen
Unter diesen Bedingungen leiden freilich alle SchülerInnen. Doch Kinder mit Migrationshintergrund haben es oft noch schwerer. Das fängt schon bei den Eltern an: Deutschkurse sind heillos überfüllt, Arbeit schlechter bezahlt, daraus resultiert oft weniger Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Kein Wunder also, dass auch die Kinder von Anfang an unter schlechten Voraussetzungen zu leiden haben: Kindergartenplätze sind rar und Sprachdefizite können schwer aufgeholt werden. Schule ist teuer: So wurde zum Beispiel die Lernmittelfreiheit in Berlin abgeschafft, was dazu führt, dass sich viele Kinder keine Schulbücher leisten können. Woher soll ein Kind also den Anreiz nehmen, sich in der Schule entgegen aller widrigen Umstände anzustrengen, wenn es schon weiß, dass es nur schlechte Zukunftsperspektiven, vielleicht keinen Ausbildungsplatz oder zu wenig Geld für ein Studium hat?
Menschen nach ökonomischer Notwendigkeit „produziert“
Im Kapitalismus ist das Ziel der Bildung nicht, Kinder zu kritisch denkenden, mündigen Menschen zu erziehen, sondern möglichst billig „Humankapital“ zu schaffen, also den Markt mit den Arbeitskräften zu versorgen, die er verlangt. Und das bedeutet eben die Aufteilung in eine hochqualifizierte Elite, die für bessere Bezahlung kompliziertere Tätigkeiten ausführt und eine schlechter gebildete und leichter auszubeutende Masse. Das schafft das hiesige Bildungssystem. Die bürgerliche Bildungsdebatte und die darauffolgenden Reformen haben diese Funktion nur noch weiter „verbessert“: Das achtjährige Gymnasium, der verstärkte Leistungsdruck, Elitenförderungsprogramme statt mehr Geld für die Bildung der Masse, Studiengebühren. Gerade MigrantInnen und Arbeiterkinder werden dadurch natürlich diskriminiert.
Doch wie kann ein gerechtes Bildungssystem aussehen? Der wichtigste Punkt wäre die Schaffung eines Bildungssystems für alle: Das beinhaltet kostenlose Kita- und Kindergartenplätze, kleine Lerngruppen mit möglichst individueller Förderung, keine Selektion nach der Grundschule und statt einseitiger Orientierung auf wirtschaftliche „Kompetenzen“ selbstbestimmtes Lernen nach Interessen und Fähigkeiten. Freilich, all diese Maßnahmen kosten nicht nur Geld, sondern würden auch das kapitalistische System gefährden, denn sie würden die Spaltung der Arbeiterklasse im Bildungswesen aufheben und solidarische, kritische und selbstbewusste Menschen fördern. Im Kapitalismus kann es kein gerechtes Bildungssystem geben. Darum bedient man sich weiter der rassistischen Hetze und Verdrehungen von Leuten wie Sarrazin.
Neuerscheinung:
Anti-Sarrazin
– Argumente gegen Rassismus, Islamfeindlichkeit und Kapitalismus
Thilo Sarrazins Buch “Deutschland schafft sich ab” hat das Land polarisiert. Für die einen spricht er unbequeme Wahrheiten aus, für die anderen verbreitet er dumpfen Rassismus. Aber Sarrazins Buch ist auch eine Kampfschrift für eine Sozialpolitik gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Er zeigt, dass Rassismus und Sozialabbau zwei Seiten der selben Medaille sind.
Dieses Buch liefert nicht nur Argumente gegen Sarrazins Behauptungen und Forderungen. Es erklärt den Hintergrund der so genannten Integrationsdebatte und stellt Rassismus und Sozialabbau in einen geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang.
Aus dem Inhalt:
* Was sagt Sarrazin?
* Der Verlauf der Sarrazin-Debatte
* Über Intelligenz und Gene
* Was ist Rassismus?
* Islamfeindlichkeit als neuer Rassismus
* Migration und Lebensrealität in Deutschland
* Sarrazins Bildungs- und Sozialpolitik: neoliberal
* Aussichten für Rechtspopulismus in Deutschland
* Was tun gegen Rassismus, Sozialabbau und Kapitalismus?
Der Autor:
Sascha Stanicic, Jahrgang 1970, ist Bundessprecher der Sozialistischen Alternative (SAV) und verantwortlicher Redakteur des Internetportals und gleichnamigen Magazins sozialismus.info. Im Zusammenhang mit seiner ablehnenden Haltung zur Regierungsbeteiligung in Berlin wurde ihm gemeinsam mit Lucy Redler und anderen zwei Jahre die Mitgliedschaft in die Partei DIE LINKE verweigert . Seit August 2010 ist er Mitglied der Partei in Berlin-Neukölln. Er ist seit 1987 aktiv in antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen und war 1992 Mitbegründer der Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE).
Format:
Softcover, 12x19cm, 161 Seiten – Verkaufspreis: 7,50 – ISBN: 978-3-00-033237-1
Bezugsquelle: