Tunesien revoltiert

Massenproteste in Kasserine, Sidi Bouzid und Tunis – Ben Ali hängt in der Luft


 

Der Tod von Mohamed Bouazizi, der sich aus Protest gegen Armut und Arbeitslosigkeit in der zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid angezündet hatte, hat eine unvergleichliche Schockwelle der Proteste ausgelöst. In allen größeren Städten gingen in den letzten Wochen wütende Menschen auf die Straße, um gegen die Perspektivlosigkeit der Jugend zu protestieren. Die brutale Antwort des Regimes von Präsident Ben Ali zeigte den Menschen die weitere politische Agenda auf: Aus den sozialen Protesten sind politische geworden.

von S.R.

In den letzten Tagen sind möglicherweise bis zu 50 Menschen getötet worden. Doch die tunesischen Jugendlichen und Arbeiter haben ihre Angst längst aufgegeben. Zu jeder Beerdigung eines von der Polizei ermordeten kommen mehr Menschen, deren Wut ins unermessliche gestiegen ist. Das Internet, das AktivistInnen nutzen, um die Mediensperre zu umgehen, ist voll von Videos brennender Polizeistationen und -autos, geplünderten Parteibüros und abgerissenen Präsidentenporträts, die in dem nordafrikanischen Land an allen Ecken und Enden hängen.

Die Menschen begreifen instinktiv, dass der Staat, indem er Stärke zeigt, seine Schwäche beweist. In einer Rede an „seine Bürger“ beschimpfte Präsident Ben Ali die Demonstranten als „feindliche Elemente, die ihre Seele dem Extremismus und Terrorismus verkauft haben, und von ausserhalb des Landes gesteuert werden“.

Gleichzeitig aber versprach er, 300.000 neue Jobs zu schaffen – ein Zugeständnis, das durch die Weite zeigt, wie sehr das Regime in die Ecke gedrängt ist, und gleichzeitig so maßlos unrealistisch ist, dass niemand einen Pfifferling darauf geben wird.

Längst sind es nicht mehr nur die arbeitslosen Jugendlichen die aufbegehren. Nachdem eine Versammlung von Rechtsanwälten von der Polizei gesprengt wurde und die Teilnehmenden zum Teil gefoltert wurden gab es eine große Welle der Solidarität mit den kämpferischen Anwälten, die stolz in ihren Talaren demonstrierten. Auch die Lehrergewerkschaft des Dachverbandes UGTT hatte ihre Mitglieder letzte Woche zum Streik aufgerufen, und in einigen Städten gab es regionale Generalstreiks, an dem sich auch das traditionell sehr große Kleinbürgertum massenhaft beteiligte.

Blutiger Höhepunkt der Protestwelle war das letzte Wochenende. In Kasserine schossen Scharfschützen der Polizei auf eine Demonstration, es ist von mindestens 20 Toten die Rede. In einem sehr verstörenden Videoaus einem Krankenhaus in Kasserine ist das Leid der Verletzten und der Angehörigen ebenso wie die tödlichen Verletzungen der Erschossenen dokumentiert.

Die Beerdigung der Toten vom Vortag wurden wieder zu einer Demonstration der Wut, und wieder schoss die Polizei in die Menge, wieder gab es mehr als 10 Tote.

Angesichts dieser Gewaltorgien können endlich auch die westlichen Medien nicht mehr wegschauen. Oft genug werden bei den Berichten aber die Grenzen guten Geschmacks überschritten, wenn einfach die Verlautbarungen der tunesischen Polizei oder Ben Alis wiedergegeben werden, wie in etlichen Agenturmeldungen erfolgt. Wie kommt zum Beispiel SPIEGEL ONLINE, die in ihren Artikeln sonst keine Scheu haben, politisch zu werten, Ben Alis Regime als „Diktaturähnlich“ zu bezeichnen? Wie viele Tote fehlen Ben Ali denn noch um das „ähnlich“ zu verlieren?

Hintergrund des wochenlangen Fischgesangs und der teilweise unausgewogenen Medienberichten ist, dass Ben Alis Tunesien als Musterschüler des Westens gilt. Brav folgte er in den 80ern und 90ern den Privatisierungs- und Liberalisierungsdiktaten von IWF und Weltbank, unterdrückte jegliche Formen von politischem Islam (und dabei auch gleich Gewerkschaften und Oppositionsparteien mit), und lockte große Investoren aus Europa mit hochqualifizierten und niedrig bezahlten Fachkräften sowie einem für nordafrikanische Verhältnisse großem Markt. Tunesien genoss in den letzten Jahren teilweise sehr gute Wirtschaftswachstumsraten von bis zu 8 Prozent – die kamen aber vor allem Ben Ali und seiner berüchtigten Familie zugute. Der Reichtum und die Korruption an der politischen Spitze des Landes sind so abstrus, dass sogar ein US-amerikanischer Botschafter die Nase rümpfte und von einer „Quasi-Mafia“ sprach ().

Doch die Tage von Ben Ali und seinem Clan scheinen gezählt. Der Gewerkschaftsdachverband UGTT hat einen Generalstreik beschlossen, das Datum ist noch unklar, und es gibt Gerüchte, dass Teile des Militärs, die in die Krisengebiete geschickt wurden um die Polizei zu unterstützen, ihre Waffen umgedreht haben und Demonstationen geschützt haben. Wenn das stimmen sollte scheint es nur eine Frage der Zeit, bis das Regime fällt. Die Frage ist, was danach kommt. Durch die jahrzehntelange politische Unterdrückung gibt es kaum politische Strukturen, welche die Bewegung anführen könnten, geschweige denn die Regierungsgewalt übernehmen. Es gibt keine linke, geschweige denn revolutionäre Partei mit Massenbasis. Auch scheint es keine Alternativstrukturen zum bürgerlichen Staatsapparat wie Streik- oder Selbstverteidungskomitees zu geben. Ein wenig Hoffnung gibt die UGGT. Diese ist zwar von Geheimpolizei und korrupten Bürokraten durchsetzt, ihre Klassennatur bleibt aber sehr deutlich, wenn Demonstranten sich in ihren Gewerkschaftshäusern sammeln, sie regionale Streiks oder gar einen Generalstreik ausrufen muss.

Der Funke, den Mohamed Bouazizi schlug, hat nicht nur die tunesische Arbeiterklasse entzündet, das Feuer breitet sich auch auf andere Länder im Maghreb aus. In Algerien und in Marokko gibt es ebenfalls heftige Straßenkämpfe zwischen Jugendlichen und Polizisten, wo der Damm ebenfalls gebrochen scheint (siehe Bericht auf socialistworld.net). Die ruhigen Tage, in denen korrupte Machthaber unter Wohlwollen des europäischem Kapitals den Reichtum des Landes unbehelligt unter sich verteilen konnten, scheinen um zu sein. Entscheidend für den Ausgang dieser Kämpfe ist die Vernetzung untereinander – und die Bildung einer Massenpartei der Arbeiterklasse im Maghreb.