Ein Weihnachtsmärchen
Es begab sich in einer Stadt und einem Land in dem jahrhundertelang die Fürsten, Landesväter und Stadtoberen unangefochten geherrscht hatten. So manchen Unsinn hatten sie verfügt und immer musste das Volk dafür bezahlen.
Manchmal hatte die Menschen gemurrt aber am Ende waren sie brave Untertanen geblieben und hatten sich in ihr Schicksal gefügt. Doch jetzt wollte man ihnen auch noch das Wenige nehmen, was ihnen geblieben war: den Kopfbahnhof, den Rest frische Luft, die schönen Bäume und ihre Quellen.
Und die Untertanen standen auf, erst Dutzende, dann Tausende, dann Zehntausende. Die Herrscher und die Stadtoberen ließen nichts unversucht, um ihre Pläne zu retten. Doch das Volk wurde nur noch zorniger und entschlossener. Bald mussten die alten Potentaten sogar um ihre Macht fürchten. Nur ein Wunder konnte ihnen jetzt noch helfen. Und so wurde der heilige Heiner um Hilfe angerufen.
Der heilige Heiner erkannte, warum das Volk seinen Glauben an seine Herrscher verloren hatte. Seit Jahrhunderten hatten diese regiert, Volkes Wille hatte sie noch nie interessiert, ihr Auftreten war anmaßend und hochmütig. Deshalb schonte er die Herrschenden in seinen Reden nicht. Er könne sie retten, versprach ihnen der heilige Heiner, aber sie müssten von ihrem hohen Roß steigen und mit dem Volk reden – öffentlich.
Und da geschah, was zuvor niemand für möglich gehalten hatte. Gestern noch hatten die Herrschenden das Volk beschimpft und verunglimpft, die Menschen aus ihrem Park geprügelt, ja selbst den Kindern Gewalt angetan, einem der Aufbegehrenden sogar das Augenlicht genommen. Doch derselbe Landesvater, dieselben Stadtoberen und ihre Kumpane begannen von einem auf den anderen Tag mit Engelszungen zu reden. Sie taten, als hörten sie zu und sie führten Gespräche – stundenlang.
Das Volk aber erfuhr auf diesem Wege, dass das was ihre Herrscher im Herzen ihrer Stadt vorhatten, noch schlimmer war, als sie selber geahnt hatten.
Auch der heilige Heiner konnte seine Augen davor nicht verschließen. Da war guter Rat teuer. Wie sollten die Herrschenden ihre Pläne jetzt noch gegen das Volk durchsetzen und obendrein ihr Gesicht waren?
Da erkannte der heilige Heiner, dass ein Wunder nicht reichen würde. Dazu brauchte es mehr als ein Wunder – ein Wunder plus.
Und er trat vor die Menschen von Stadt und Land und verkündete ihnen seine Vision:
Das erste Wunder sollte sein: Die Bäume sollten erhalten bleiben und doch weichen. Gesunde Bäume müssten über Nacht krank oder altersschwach werden, damit sie ruhigen Gewissens gefällt werden könnten. Da staunten die Menschen, denn so etwas hatten sie noch nie erlebt. Und uralte Bäume sollten verpflanzt werden und weiter wachsen. Da wunderten sich die Menschen, denn das war noch niemals zuvor gelungen.
Die Frischluftschneise sollte bebaut werden und doch Frischluftschneise bleiben. Der heilige Heiner wollte dem Wind befehlen, im Zickzack zwischen den Häuserzeilen hindurch zu strömen. Und wieder staunten die Menschen, denn dass jemand den freien Lüften ihren Weg aufzwingen kann, hatten sie selbst von einem Heiligen noch nicht gehört.
Damit nicht genug: Auf dem sündhaft teuren Boden sollten Wohnungen gebaut werden, für Familien mit Kindern und alte Menschen und zu erschwinglichen Preisen. Da staunten die Menschen noch mehr, denn im ganzen Erdenrund war keine Innenstadt, in der es so etwas gegeben hätte.
Aber dennoch war das nichts im Vergleich zu dem Wunder, welches im Falle eines Feuers zu vollbringen sein würde. Wenn sich beißender Qualm und eine Höllenglut durch Tunnel und unterirdische Gänge fressen würden, dann würde der heilige Heiner den Alten und Lahmen zurufen: Steht auf und rennt. Und alle, -die Gehbehinderten und die Sehbehinderten-, würden sich von ihren Rollstühlen und Rollatoren lösen, würden ihre Stöcke und Krücken wegwerfen und sie würden nicht nur wieder gehen können – sie würden rennen wie selbst ein Gesunder noch nie gerannt ist.
Wahrlich das staunten alle Menschen die das hörten, denn auch die Ältesten und die Frommsten unter ihnen hatten noch nie zuvor von solch einem Wunder gehört und auch nicht in der Bibel gelesen.
Nachdem der heilige Heiner so zu den Menschen gesprochen hatte, da waren einige unter ihnen, die verunsichert waren und die gar nicht mehr wussten, ob sie das alles glauben sollten. Und sie sprachen mit ihren Nachbarn, ihren Kollegen und MitschülerInnen. Und als sie feststellten, dass niemand unter ihnen war, nicht einmal unter ihren entferntesten Verwandten und Bekannten, der auch nur eines der Wunder schon mal erlebt hatte, da kamen sie zu dem Schluss, dass es keine Wunder gibt und auch keine Wunder plus.
Und fortan wollten sie sich wieder nur noch auf sich selbst verlassen.
(Georg Kümmel)