CWI-Weltkongress diskutiert Perspektiven für den Kontinent
Am dritten Tag des Weltkongresses des Komitees für eine Arbeiterinternationale (englische Abkürzung: CWI) teilten sich die Delegierten und BesucherInnen in zwei Kommissionen auf, um die Entwicklungen in Asien und Lateinamerika zu diskutieren. Die Debatte zu Lateinamerika wurde eingeleitet von André Ferrari, Generalsekretär der brasilianischen CWI-Sektion LSR (Freiheit-Sozialismus-Revolution) und Mitglied im Vorstand der P-SoL (Partei für Sozialismus und Freiheit).
von Sascha Stanicic
Lateinamerika war seit dem Ende der 1990er Jahre von Massenkämpfen, der Wahl linker Regierungen in verschiedenen Ländern und einer Debatte über den so genannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts geprägt. Der Blick vieler linker AktivistInnen richtete sich nach La Paz, Caracas, Porto Alegre und Havanna. Es ist kein Zufall, dass es heute weniger Debatten über Lateinamerika in Deutschland und Europa gibt. Denn die Situation ist für die politische Linke auf dem Kontinent deutlich komplizierter geworden.
André Ferrari erklärte, wie die Weltwirtschaftskrise zwar den lateinamerikanischen Kontinent erfasste, aber nicht solche dramatischen sozialen und politischen Konsequenzen hatte, wie die Krise am Ende der 1990er Jahre. Die in diesem Jahr einsetzende wirtschaftliche Erholung, die vor allem auf dem Export von Rohstoffen nach China basiert, hat wiederum in vielen Ländern einen Triumphalismus unter den VertreterInnen des Kapitalismus ausgelöst, der Auswirkungen auf das Bewusstsein der Massen hat. Das gilt besonders für Brasilien, dem größten und wichtigsten Land des Kontinents, in dem der scheidende Staatspräsident Lula weiterhin über eine Zustimmungsrate von achtzig Prozent verfügt und es ihm gelang seine Nachfolgerin Dilma Roussef zum Wahlsieg zu führen.
Ähnlich der ökonomischen Situation in der Bundesrepublik hatte die Weltwirtschaftskrise unmittelbar eine strake Auswirkung auf Lateinamerika. Im Jahr 2009 gab es drei Millionen Entlassungen und das Bruttoinlandprodukt des Kontinents sank um 1,5 Prozent. Auf der Basis des Anstiegs der Rohstoffpreise und durch wachsenden Export nach Asien setzte zum Ende des Jahres eine gewisse wirtschaftliche Erholung ein. Konjunkturpakete und die Vergabe günstiger Kreditmöglichkeiten verstärkten diesen Prozess. So ist es in Brasilien zur Zeit kein Problem für Studierende Kredite bei einer Bank aufzunehmen, um sich ein Auto anzuschaffen. Doch diese Entwicklung hat nicht nur die grundlegenden Probleme des lateinamerikanischen Kontinents nicht gelöst, sondern tatsächlich bedeutet das Wirtschaftswachstum einen gesellschaftlichen Rückschritt aufgrund der wachsenden Abhängigkeit der lateinamerikanischen Volkswirtschaften vom Rohstoffexport und der dadurch stattfindenden Deindustrialisierung. Letzteres wird durch die Währungsaufwertungen in verschiedenen Ländern noch verstärkt.
China konnte seinen Einfluss auf dem Kontinent massiv ausdehnen und die Macht der USA ist relativ gesunken. Trotzdem bleiben die USA die dominierende Macht auf dem Kontinent, den die US-Kapitalisten als ihren Hinterhof betrachten. Auch Brasilien hat seine Rolle als Regionalmacht, sowohl ökonomisch, als auch militärisch, ausgebaut, bleibt aber im Verhältnis zu den USA und den imperialistischen Staaten insgesamt ein post-koloniales Land.
Es gibt in Lateinamerika keine einheitliche Entwicklung, sondern verschiedene Gruppen von Ländern. Von besonderem Interesse von einem sozialistischen Standpunkt sind die Entwicklungen in den Ländern, in denen in den 1990er Jahren progressive Regierungen ins Amt kamen, die auf der Basis einer breiten Massenradikalisierung und von Kämpfen sich in Opposition gegen den Neoliberalismus gestellt haben und eine mehr oder weniger starke sozialistische Rhetorik benutzen. Dazu gehören vor allem die Regierungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador.
Johan und William aus Venezuela berichteten von einer zunehmenden Bürokratisierung des venezolanischen Staates. Aufgrund des starken Rückgangs des Rohölpreises ist das Land besonders von der Weltwirtschaftskrise betroffen und wird wahrscheinlich das einzige Land des Kontinents sein, in dem auch im Jahr 2010 das BIP sinkt. Die sinkenden Einnahmen führen zu Kürzungen bei den wichtigen Sozialprogrammen, die die Regierung Chávez in den letzten Jahren gestartet hatte. Gleichzeitig hat es weitere Verstaatlichungen gegeben und hat Chávez seine sozialistische Rhetorik verstärkt. Es gibt weiterhin eine breite Basis an Unterstützung für Chávez, aber auch eine zunehmende Entfremdung eines Teils der Bevölkerung. Das drückte sich in den Parlamentswahlen vor einigen Monaten aus, in denen das Regierungslager zwar eine Mehrheit der Abgeordneten gewann, aber keine Mehrheit der Stimmen. Die rechte, pro-kapitalistische Opposition agiert wieder geschlossen und kann für die Präsidentschaftswahlen 2012 eine Gefahr darstellen, wenn es auch unwahrscheinlich ist, dass sie gewinnen wird. Die venezolanische Gruppe des CWI, die auf diesem Weltkongress offiziell als Sektion anerkannt wurde, hat jede fortschrittliche Maßnahme der Chávez-Regierung unterstützt und seine Regierung gegen die Angriffe der mit dem US-Imperialismus verbundenen Kapitalisten verteidigt, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass ein tatsächlicher Bruch mit dem Kapitalismus nötig ist und eine sozialistische Demokratie aufgebaut werden muss. Folgerichtig unterstützt sie auch solche linken und gewerkschaftlichen AktivistInnen, die sich gegen die bürokratischen Auswüchse des Staats gestellt haben und Opfer von Repression geworden sind.
Sebastian von der neuen CWI-Gruppe ‘La Chispa’ in Argentinien hat in einem Beitrag Fragen zur Haltung von MarxistInnen zur Regierung Morales in Bolivien aufgeworfen. Die Position der bolivianischen Sektion des CWI, die aufgrund von Problemen mit der Visumvergabe keinen Vertreter zum Kongress senden konnten, bei den Wahlen eine kritische Unterstützung für Morales und seine MAS (Bewegung zum Sozialismus) auszusprechen, obwohl Morales seit seinem Regierungsantritt gezeigt hat, dass er nicht bereit ist, mit dem Kapitalismus zu brechen, wurde von anderen Rednern erklärt und verteidigt. In einer Situation, wo die Alternative die Regierungsübernahme durch offen pro-kapitalistische und imperialismusfreundliche Kräfte gewesen wäre, war die Wiederwahl der MAS der beste Ausgangspunkt, für die Fortsetzung des Kampfes für eine sozialistische Veränderung des Landes. Dabei betonten die CWI-GenossInnen, dass nicht das Abgeben der Stimme entscheidend ist, sondern die Teilnahme am Kampf für Verbesserungen.
Die Kommission diskutierte aber nicht nur diese Länder, sondern auch die Lage in Brasilien, Chile, Mexiko und Kuba. Jane aus Rio de Janeiro berichtete von dem polizeilichen Vorgehen in den Favelas (Slums) gegen die Drogenmafia und erklärte, dass die einfache Bevölkerung darunter leidet. Tatsächlich gibt es Absprachen zwischen der Drogenmafia und staatlichen Stellen und sollen durch die Polizeiinterventionen nur die innerstädtischen Favelas gesäubert werden, um das Image des Landes im Zusammenhang mit der anstehenden Fußballweltmeisterschaft aufzupolieren. Patricio aus Chile kommentierte den gesellschaftlichen Verfall in Mexiko und Kolumbien, wo es eine zunehmende Unterdrückung von linken und gewerkschaftlichen AktivistInnen gibt. Allein in Kolumbien werden jährlich circa fünfzig GewerkschafterInnen ermordet.
Einen großen Raum in der Diskussion nahmen die Entwicklungen auf Kuba ein. Hier hatte die Regierung von Raul Castro die Entlassung von 500.000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes angekündigt. Weitere 500.000 sollen im nächsten halben Jahr folgen, was zwanzig Prozent der Arbeitskräfte des Landes ausmachen würde. Die Entlassenen sollen die Gelegenheit bekommen sich selbständig zu machen oder kleine Unternehmen zu gründen. Dies wurde als ein Schritt in Richtung Restauration kapitalistischer Verhältnisse auf der Insel analysiert. Sollte eine solche erfolgreich sein, hätte das weitreichende ideologische Konsequenzen für die Linke in Lateinamerika und weltweit. Ob sie stattfinden wird, ist aber offen und hängt von vielen Faktoren ab. Offensichtlich will ein Teil der Kommunistischen Partei Kubas einen ‘chinesischen Weg’ einschlagen und unter starker Kontrolle durch Staat und Partei weitgehende marktwirtschaftliche Verhältnisse einführen. Dies würde zu einem massiven sozialen Rückschritt führen und den Lebensstandard und die soziale Sicherheit für die kubanischen Massen gefährden. Das CWI stellt dem ‘chinesischen Weg’ aber nicht die Aufrechterhaltung des status quo, also der bürokratischen Machtkonzentration in der KP-Führung entgegen, sondern wirkliche Arbeiterdemokratie auf der Basis von freien Wahlen zu Räten der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und der Jugend, die Abschaffung aller Privilegien für Funktionäre und eine revolutionäre, sozialistische Außenpolitik, die einen Beitrag dazu leisten würde, den Kapitalismus in anderen Ländern des Kontinents zu überwinden.
Das CWI hat seine Präsenz in Lateinamerika in den letzten Jahren ausgedehnt und ist nun mit Gruppen in Brasilien, Chile, Venezuela, Bolivien und Argentinien vertreten. In seinem Schlusswort zur Debatte wies André Ferrari darauf hin, dass die derzeitige relative politische Stabilisierung in verschiedenen Ländern nur einen vorübergehenden Charakter haben kann und neue große Kämpfe bevorstehen. Das CWI ist besser als jemals zuvor positioniert, um in diese Kämpfe einzugreifen und sie in eine sozialistische Richtung zu beeinflussen.