Am Beginn einer Ära von Massenbewegungen
Am 2. Dezember wurde der 10. Weltkongress des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) im belgischen Nieuwpoort eröffnet. 120 GenossInnen von über 30 Gruppen und Organisationen des CWI nehmen bis zum 9. Dezember daran teil.
von Aron Amm
Im Referat zu Weltbeziehungen erinnerte Peter Taaffe vom Internationalen Sekretariat (IS) daran, dass die irische Bevölkerung vor sechs Jahren noch als die glücklichste in ganz Europa galt. „All changed, changed utterly – alles änderte sich, änderte sich vollständig“, diese berühmten Zeilen des Dichters W.B. Yeats aus den Tagen des Irischen Osteraufstands 1916 bringen den dramatischen Wandel Irlands – und die in Europa einsetzenden sozialen Erschütterungen des ökonomischen Bebens – auf den Punkt. Die irische Krise hätte zu einem neuen „Lehman-Brothers-Szenario“, wie der Guardian fürchtete, zu einer Eskalation der Bankenturbulenzen und zu einem Scheitern des Euro führen können. Am Samstag vor dem Beginn des Kongresses protestierten über 100.000 Menschen auf der Grünen Insel (mit einer Bevölkerung von 4,5 Millionen) gegen die angekündigte Kürzungsorgie. Auf einem selbstgemalten Schild war zu lesen: „Weg mit dieser ganzen Art von Dingen!“
Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse können wir, so Peter Taaffe, davon sprechen, dass wir „am Beginn einer neuen Ära von Massenbewegungen“ stehen. In diesem Herbst zählten die Demonstrationen und Streiks, die innerhalb weniger Wochen in Frankreich stattfanden, in der Summe über 17 Millionen TeilnehmerInnen. Hinzu kommen nicht nur die Generalstreiks in Griechenland, Spanien und Portugal in diesem Jahr, sondern auch der 100 Millionen TeilnehmerInnen starke Generalstreik in Indien am 7. September, die Ausstände bei Honda, Foxconn und anderen Fabriken in China sowie der südafrikanische Lohnkampf von 1,3 Millionen Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes.
Im reichsten Land der Welt, in den Vereinigten Staaten, verloren im Zuge der Krise Millionen Arbeiterfamilien, so Bryan Koulouris aus Boston, ihr Heim; der September markierte einen neuen traurigen Rekord mit 100.000 Zwangsräumungen. Ein Delegierter aus Israel verwies darauf, dass aktuell ein Viertel aller Israelis in Armut lebt, vom Elend der palästinensischen Massen ganz zu schweigen. Liv Shange aus Südafrika zeigte auf, dass die dortige Arbeitslosenquote offiziell 25 Prozent, inoffiziell sogar 36 Prozent beträgt. Ein Genosse aus Indien erinnerte an die 100.000 Bauern im Land, die aufgrund ihrer unerträglichen Lage zwischen 2003 und 2008 Suizid begingen. Für mehr und mehr ArbeiterInnen, sozial Benachteiligte und Jugendliche auf dem Planeten wird Kapitalismus im Zuge dieser Krise, wie Lenin es einmal bezeichnete, „Horror ohne Ende“ bedeuten.
Überakkumulationskrise
Peter Taaffe und mehrere Delegierte betonten, dass die heutige Krise letztlich auf das Ende des kapitalistischen Nachkriegsaufschwungs Mitte der siebziger Jahre zurückgeht. Mangels profitabler Anlagemöglichkeiten in der Produktion wurden Unsummen in die Finanzmärkte gesteckt, die zu einer beispiellosen Aufblähung spekulativer Blasen führten. Lynn Walsh vom IS nannte die Krise eine „klassische Krise von struktureller Überakkumulation von Kapital“. Das global angehäufte Kapital findet keine ausreichenden Verwertungsmöglichkeiten im produktiven Bereich, es fehlt an entsprechender Nachfrage.
Peter Taaffe erinnerte in der Einleitung zur ersten Plenumsdebatte auf dem Kongress daran, dass das CWI 2008 keinem „Katastrophenszenario“ das Wort redete, sondern die Möglichkeit für die Bürgerlichen erkannte, mit besonderen Maßnahmen (Konjunkturprogramme, Banken-Rettungsaktionen, Politik der „Quantitativen Lockerung“, also eine Ausweitung der im Finanzkreislauf befindlichen Geldmenge) eine Große Depression, wie wir sie im Anschluss an 1929 erlebten, abzuwenden. Dennoch führten die weltweit mehr als zehn Billionen in Rettungsprogrammen investierten US-Dollar zu einer „Großen Rezession“, wie die bürgerlichen Ökonomen Nouriel Roubini, Robert Shiller und andere es formulierten. In den USA wurden eine Million Jobs gerettet – trotzdem gingen acht Millionen Arbeitsplätze verloren. Neben dem staatlichen Eingreifen war das fortgesetzte Wachstum in China – dank der besonderen Auswirkungen der umgerechnet 400 Milliarden Euro Konjunkturgelder und der 1.000 Milliarden Euro Kreditdarlehen – ein wesentlicher Faktor, was einen Crash verhinderte.
Allerdings drohen in der Folgezeit für eine Reihe von Ländern Krisen vom Ausmaß einer Depression. Durch die mobilisierten Gelder explodierten die Staatsschulden. Um dieser Entwicklung Herr zu werden, steuern die meisten bürgerlichen Regierungen inzwischen um – womit sie eine perfide Kahlschlagspolitik losgetreten haben. So soll der Lebensstandard der irischen Bevölkerung auf Basis der bisherigen Kürzungspläne auf einen Schlag um 15 Prozent abgesenkt werden. Es ist sehr offen, wie der Kongress diskutierte, ob der Euro in den nächsten Jahren in der heutigen Form überleben kann – schließlich ist die Zahlungsunfähigkeit von Griechenland, Irland und weiteren Staaten aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine Frage der Zeit.
Peter Taaffe betonte, dass die Herrschenden über ihren wirtschaftspolitischen Kurs tief zerstritten sind. Durch die von einem Großteil der Regierenden mittlerweile eingeschlagenen Maßnahmen zur „Haushaltskonsolidierung“ könnte ihnen das gleiche Schicksal ereilen, was der Roosevelt-Administration in den USA in den Dreißigern widerfuhr: Damals schwenkten sie vorzeitig von der keynesianischen Linie zur „Sparpolitik“ um und steuerten schon 1936/37 auf die nächste Rezession zu.
Eine gewisse Diskussion kam zur Frage auf, wie die Streitigkeiten im bürgerlichen Lager über den wirtschaftspolitischen Kurs zu werten sind. Während Delegierte aus Schweden meinten, dass sich die bürgerlichen Ökonomen fast durch die Bank zu Kürzungen gezwungen sehen (und aufgrund möglicher Gegenwehr höchstens über das Tempo und den Umfang streiten), verwies Peter Taaffe auf bürgerliche Ökonomen wie Paul Krugman, die vor einem Abwürgen des Aufschwungsmotors warnen.
Generell bestand auf dem Kongress Übereinstimmung darüber, dass die globale Krise des Kapitalismus nicht gelöst, sondern nur in ein neues Stadium eingetreten ist: von der Finanz- und Wirtschaftskrise in eine Krise der Staatsfinanzen. Durch die anvisierte Rotstiftpolitik könnte die Weltwirtschaft erneut einbrechen. Unabhängig vom genauen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung befinden wir uns in einer langgezogenen Depressionsperiode – wie Friedrich Engels, so Per Olsson aus Schweden, die internationale Krise in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts charakterisiert hatte.
China, USA und der „Währungskrieg“
Nach einer Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) soll China die USA ökonomisch im Jahr 2016 vom ersten Platz verdrängt haben. Peter Taaffe verwies darauf, dass China (dessen Wirtschaftskraft sich derzeit auf 40 Prozent derjenigen der USA beläuft) in Sachen Arbeitsproduktivität und Lebensstandard noch weit zurückliegt. Konsens war auf dem Weltkongress zudem, dass sich das Wachstum des „Reichs der Mitte“ nicht auf Dauer in dieser Form fortsetzen lässt. Schließlich kann China seine auf den Export ausgerichtete Ökonomie nicht einfach über Nacht grundlegend umstrukturieren. Zudem sind der Ausweitung der kaufkräftigen Nachfrage Grenzen aufgrund der dort praktizierten Superausbeutung der Arbeiterklasse gesetzt; abgesehen davon stellen die bestehenden Aktien- und Immobilienblasen „tickende Zeitbomben“ dar.
Mit ihrer zweiten Runde der „quantitativen Lockerung“ setzt die US-Notenbank auf eine Abwertung des Dollar, um ihre Probleme zu „exportieren“. Auch Russland und andere Staaten werten ihre Währungen in dieser Phase ab, um ihre Absatzaussichten zu verbessern. Darüber entsetzt sprach der brasilianische Finanzminister Mantega schon von einem „Währungskrieg“ – der, wie der Kongress diskutierte, nur den Boden für einen erbitterten Handelskrieg und verschärfte Spannungen der Großmächte (bis hin zu militärischen Konflikten und Stellvertreterkriegen in Afrika, Asien und anderswo) bereitet. Sonja Grusch aus Österreich erklärte, dass die Einführung der Berufsarmee in Deutschland und anderen Ländern zum jetzigen Zeitpunkt deshalb kein Zufall darstellt.
Sollte China, dessen Renminbi um bis zu 40 Prozent unterbewertet ist, zur Aufwertung gezwungen werden, könnte das laut Premier Wen Jiabao (worauf ein in Hongkong aktiver Genosse hinwies) eine Welle von Fabrikschließungen auslösen.
Die Weltlage ist heute auch davon gekennzeichnet, dass der US-Imperialismus, nicht zuletzt wegen seinem Debakel im Irak und in Afghanistan, an Stärke eingebüßt hat. Damit leben wir, so Peter Taaffe, „nicht länger in einer unipolaren Welt“. Trotzdem ist keine Macht in Sicht, die die USA als führende Weltmacht ablösen kann.
Brisante Situation im Nahen Osten
Mehrere Delegierte, darunter auch Genossen aus Israel, betonten, dass ein Militärschlag Israels gegen Iran derzeit zwar nicht die wahrscheinlichste Perspektive ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann. Im ganzen Nahen Osten ist von sich alarmierend ausweitenden Gefahrenherden auszugehen. Im Irak droht eine „Libanonisierung“, der US-Imperialismus könnte in den kommenden Jahren nicht nur mit einem, sondern mit mehreren „neuen Saddam Husseins“ konfrontiert sein.
Parallel dazu nimmt der Widerstand zu. Allen voran im Iran, wo die Massenbewegung vom Sommer 2009, wie Robert Bechert im Schlusswort erklärte, als Beginn einer revolutionären Krise eingestuft werden kann. Verwiesen wurde in mehreren Beiträgen auch auf die eindrucksvolle Zunahme von Arbeitskämpfen in Ägypten, einem Schlüsselland in der Region.
Jugend muckt auf
In der Diskussion wurde auf Schüler- und Studierendenproteste in Irland, Schottland, Großbritannien, Italien, aber auch auf eine eindrucksvolle Beteiligung von Jugendlichen an den Protesten der französischen Beschäftigten gegen die „Rentenreform“ hingewiesen. Darum geht in Frankreich schon das „Gespenst von 1968“ um.
In London protestierten im November 50.000 gegen die drohende Verdreifachung der Studiengebühren auf 9.000 Pfund im Jahr. Damit demonstrierten zehn Mal so viele wie die Veranstalter erwartet hatten. Aber nicht nur zahlenmäßig war der Protest beeindruckend. Es zeigte sich auch eine enorme Radikalität. Robin Clapp, Delegierter aus Bristol, berichtete, dass zwei Schüler ihm zuriefen: „Jetzt kommt Frankreich nach Großbritannien!“
Stimmung wandelt sich
Die Entfremdung vom bürgerlichen Establishment hat in dieser Krise weiter zugenommen. Der Hass auf die Politiker, aber auch auf die Banker ist massiv. Da der Arbeiterbewegung in den meisten Ländern heute jedoch eine eigene politische Stimme, eine eigene Partei, fehlt, verzögern sich Bewusstseinsentwicklungen deutlich.
Kevin McLoughlin aus Irland und GenossInnen aus Schweden betonten, dass die Erfahrungen mit Krise, Kürzungen und zugespitzten Klassenkonflikten Bewusstseinsentwicklungen in der kommenden Zeit in jedem Fall prägen und forcieren werden.
Sascha Stanicic, SAV-Bundessprecher, stimmte zu, dass wir noch nicht von einem ausgeprägten antikapitalistischen Bewusstsein sprechen können, aber uns fragen müssen, was wir in dieser Phase betonen sollten. Seiner Meinung nach distanzieren sich nicht nur mehr und mehr Menschen vom Establishment (in einer Umfrage von ARD-DeutschlandTrend gaben 90 Prozent an, dass sie für Demonstrationen sind, damit die Politiker auf sie hören), außerdem wächst die Bereitschaft zum Widerstand – vor allem aber erhöht sich die Zahl derjenigen, die meint, dass etwas völlig falsch in dieser Gesellschaft läuft. In der Hinsicht haben wir es heute mit einer antikapitalistischen Stimmung beziehungsweise Einstellung zu tun.
Philip Locker aus den USA führte aus, dass die Unterstützung für die „Tea-Party“-Bewegung keinen Rechtsruck in den USA, sondern eher eine gesellschaftliche Polarisierung bedeutet, und verwies auf eine US-Umfrage, wonach 30 Prozent der Jugend Sozialismus unterstützen – allerdings gibt es völlig vage und verwirrte Vorstellungen davon, was Sozialismus bedeutet.
Andre Ferrari aus Brasilien erklärte, dass in Lateinamerika vor allem Mexiko, Venezuela und zentralamerikanische Staaten durch die globale Rezession verheerend in Mitleidenschaft gezogen wurden. Vor diesem Hintergrund gibt es in Brasilien bei einem Teil der Arbeiterklasse die Stimmung, dass kurzfristige Einschränkungen Sinn hatten, um der Wirtschaft als Ganzes zu helfen und an Betriebsschließungen vorbei zu kommen. Da Länder wie Brasilien sich jedoch der Krise der Weltwirtschaft nicht dauerhaft entziehen können (vor allem wenn China als wichtiger Rohstoffabnehmer einbrechen sollte), wird sich bald auch der Stimmungswandel in Brasilien und weiteren Ländern Lateinamerikas verstärken. Verkomplizierend hinzu kommt aktuell natürlich die widersprüchliche Lage in Venezuela unter Hugo Chavez, wo zwar 30 Prozent der Wirtschaft verstaatlicht sind, Bürokratie, Korruption und Armut aber zunehmen und Chavez weniger als in den Vorjahren als Anziehungspunkt gesehen wird.
Rob Jones aus Russland hob in der Diskussion hervor, dass wegen dem Fehlen von Arbeiterparteien in vielen Ländern am Beginn der Krise gerade auch rechte Kräfte punkten konnten. So stellt zum Beispiel die Jobbik-Partei in Ungarn, die auf Wahlebene mehr als 15 Prozent der Stimmen erhält, und gerade auch in Arbeitervierteln aktiv ist, für die Linke eine ernste Gefahr dar.
Andros Payiatsos aus Griechenland sagte in seinem Beitrag, dass die Krise neue Herausforderungen für unsere Politik und unsere programmatischen Vorschläge mit sich bringt. Er führte aus, wie die griechischen GenossInnen ihre Forderung nach Einstellung der Schuldenzahlungen und Verstaatlichung der Banken entwickelten. Den Austritt aus dem Euro-Raum stellen wir heute nicht als Forderung auf, weil das falsche Illusionen in ein kapitalistisches Griechenland wecken würde.
Klimakatastrophe
Grundlage der Diskussion war ein zehnseitiger Entwurf des IS zu Weltbeziehungen und weitere Resolutionsentwürfe zum Mittleren Osten und Osteuropa. Diese Dokumente sollen vor dem Ende des Weltkongresses verabschiedet werden. Arne Johannson und weitere Delegierte aus Schweden begründeten in der Diskussion Änderungsanträge, die der Frage der Umweltzerstörung mehr Gewicht geben sollen. Wie die Klimagipfel in Kopenhagen und Cancun unterstreichen, werden die Kapitalisten in Krisenzeiten noch weniger bereit sein zu einem Umsteuern in der Klimapolitik. Eine Genossin aus dem Nahen Osten wies darauf hin, dass im Libanon seit Mai kein Regen fiel und der durch Privatisierungsmaßnahmen herbeigeführte Wassermangel auch dort die Umweltproblematik stärker ins Bewusstsein rückt. Alex Rouillard hob darauf ab, dass wir nicht nur für ein Umschwenken in der Klimapolitik eintreten können, sondern auch bei Solar- oder Windanlagen auf eine demokratische Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung insistieren müssen. Die deutschen GenossInnen haben einen Änderungsantrag eingebracht, der herausstellt: Angesichts der ökonomischen und ökologischen Krise stellt sich die Frage, die Friedrich Engels einmal aufgeworfen hatte, heute neu und in aller Schärfe – „Sozialismus oder Barbarei!