Die Proteste gegen Stuttgart 21 aus der Sicht der Meinungsforschung
Am 18. Oktober erhielten 1.500 TeilnehmerInnen der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 einen Fragebogen des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Obwohl die Befragten nur eine kurze Frist zum Ausfüllen des umfangreichen Fragebogens hatten, haben 54 Prozent ihn zurückgesendet. Am 27. Oktober wurden erste Ergebnisse veröffentlicht und in der Stuttgarter Presse ausführlich diskutiert. In den Kommentaren der online-Ausgaben der Presse haben LeserInnen Ergebnisse angezweifelt, die mit ihrer Wahrnehmung nicht überein stimmten. Sicherlich sind die TeilnehmerInnen der Montagsdemo kein Spiegelbild der GegnerInnen von Stuttgart 21 insgesamt, sondern eine besonderes aktive Schicht innerhalb der GegnerInnen. Und natürlich kommen auch nicht zu allen Montagsdemos die gleichen Leute. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass die Umfrage einigen Aufschluss gibt über die Schicht der „MontagsdemonstrantInnen“. Und da wir als MarxistInnen regelmäßig an den Montagsdemos teilnehmen, lohnt es sich für uns, uns die Ergebnisse anzuschauen – und zwar das vom WZB veröffentlichte Handout im Original, weil wir uns als MarxistInnen doch manchmal für andere Daten interessieren als die bürgerlichen Medien.
von Wolfram Klein
Ein interessanter Aspekt ist auch, dass das WZB bereits bei der Anti-Irakkrieg-Demonstration am 15. Februar 2003 und bei 4 Hartz-Demonstrationen (in Berlin, Leipzig, Magdeburg und Dortmund) am 13. September 2004 Fragebogen verteilt hat und teilweise die Ergebnisse vergleicht.
Alterszusammensetzung
In der Presse ist stark betont worden, dass der Anteil der RentnerInnen nicht so hoch sei. Nach der Umfrage betrug der Anteil der über 64-Jähringen 15 Prozent, das ist deutlich niedriger als ihr Anteil an der Bevölkerung (20 Prozent), aber deutlich höher als an den Hartz-Protesten (10 Prozent) oder der Irak-Demo (8 Prozent). Aber wer hat denn die Bewegung gegen Stuttgart 21 als Bewegung von RentnerInnen dargestellt? Das war ein Teil der Pro-Stuttgart-21-Propaganda, die Stuttgart 21 gebetsmühlenartig als „modern“ ausgibt, ohne zu erklären, was daran modern sein soll, einen leistungsfähigen Bahnhof durch einen weniger leistungsfähigen zu ersetzen. Im Gegenzug wurde der Protest als Bewegung von RentnerInnen dargestellt, die sich dem Fortschritt entgegen stellen. Aber von Zeitungen, die zur Südwestdeutschen Medienholding gehören, also zur Stuttgart-21-Mafia, wird man jetzt wohl keine Selbstkritik erwarten können. Richtig ist allerdings, dass bei Protestaktionen, die anders als die Montagsdemos zu Zeiten stattfinden, an denen die meisten Erwerbstätigen arbeiten müssen, der Anteil von RentnerInnen relativ hoch ist.
Aus der Umfrage ergibt sich, dass der Anteil von jungen Menschen (unter 25) immer noch verhältnismäßig gering ist, was sich mit unserer Erfahrung deckt. Nach der Umfrage waren es 7 Prozent, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung (und an den TeilnehmerInnen der Irak-Demo) 25 Prozent beträgt. Am auffälligsten ist aber, dass sich die Alterszusammensetzung der Stuttgart-21-Proteste und der Hartz-Proteste kaum unterscheidet. Die Übereinstimmungen sind wirklich verblüffend angesichts des zeitlichen Abstands und der thematischen etc. Unterschiede.
Klassenzusammensetzung
In den Medien und auch von großen Teilen der Bewegung gegen Stuttgart 21 wurde oft von einer „bürgerlichen Bewegung“ und „bürgerlichem Protest“ geschrieben. Wir haben dagegen betont: „In der Bundesrepublik gehören über 90 Prozent aller im erwerbsfähigen Alter heute zur Arbeiterklasse, zur Klasse der Lohnabhängigen. Allein deshalb müssen bei Protesten von 10.000, 20.000 und mehr auch Teile der arbeitenden Bevölkerung vertreten sein. Schon bei den Montagsdemonstrationen im letzten Halbjahr, vor dem Anschwellen der Proteste, waren viele Beschäftigte unter den TeilnehmerInnen. Weniger Metallarbeiter, vor allem LehrerInnen, Sozialarbeiter oder Angestellte waren anwesend.“ (Aron Amm, Aufruhr in Stuttgart, 21. 8. 2010) Jetzt bestätigt die Umfrage diese Einschätzung: Die größte Gruppe sind einfache Angestellte und BeamtInnen (27,49 Prozent), die nächste Gruppe sind leitende Angestellte und BeamtInnen (15,01 Prozent). Da in der Umfrage Angestellten und BeamtInnen nur die beiden Kategorien "einfach" und "leitend" zur Auswahl gestellt wurden, können wir davon ausgehen, dass bei den 15,01 Prozent auch z.B. Abteilungsleiter oder Meister enthalten sind, die zu den Oberschichten der Arbeiterklasse zu rechnen sind. Die nächstgrößere Gruppe sind Hausfrauen und -männer (14 Prozent), von denen die meisten sicher nicht Ehefrauen und -männer von KapitalistInnen sein dürften. FreiberuflerInnen machen nur 12,61 Prozent aus, Arbeitgeber in Betrieben bis 10 Beschäftigte 2,52 Prozent, Arbeitgeber in Betrieben über 10 Beschäftigte nur 1,01 Prozent. Auf der anderen Seite sind 9,71 Prozent arbeitslos. Allerdings bezeichnen sich nur 3,28 Prozent als FacharbeiterInnen, 0,5 Prozent als ungelernte ArbeiterInnen und 0,13 Prozent als VorarbeiterInnen. Das hängt sicher mit dem geringen Anteil von Beschäftigten des produziernden Gewerbes zusammen (siehe unten)
Wenn CDU-Politiker die Bewegung als Bewegung von Hartz-IV-Empfängern darstellen, ist das genauso absurd, wie wenn SPD-Politikern sie als Bewegung der Halbhöhe darstellen (da Stuttgarts Innenstadt in einem Talkessel liegt, liegen die „besseren“ Wohngebiete in Halbhöhenlage). Das sagt aber viel über die Zielgruppen aus, die diese beiden Flügel der Stuttgart-21-Mafia mit ihrer Demagogie erreichen wollen: Die CDU will auf Bild-Zeitungs-Niveau an Vorurteile gegen angebliche „Sozialschmarotzer“ anknüpfen; von der Vergangenheit der SPD als Arbeiterpartei ist nur noch übrig, dass sie zum Schutz der Profite von Baukonzernen und Immobilienspekulanten ArbeiterInnen gegen eine Bewegung zu hetzen versucht, deren AktivistInnen mehrheitlich ebenfalls als Lohnabhängige oder Arbeitslose oder RentnerInnen zur Arbeiterklasse gehören.
Auch unsere Einschätzung der Branchenzusammensetzung wird von der Umfrage bestätgt: 29,83 Prozent sind im Öffentlichen Dienst tätig, 8,01 Prozent in Handel, Gastgewerbe und Verkehr, 28,18 Prozent in sonstigen Dienstleistungen. Dagegen sind nur 14,01 Prozent im produzierenden Gewerbe tätig. Angesichts des hohen Anteils von Autoindustrie und Maschinenbau in der Region Stuttgart besteht da offensichtlich ein Missverhältnis. Fast 59 Prozent der 814 Befragten (und 66 Prozent der 724 Befragten, die diese Frage beantwortet haben) arbeiten im Dienstleistungsbereich. Wenn wir davon FreiberuflerInnen etc. abziehen, dürften fast die Hälfte der MontagsdemonstrantInnen zur Klientel von ver.di (oder GEW etc.) gehören. Um so unverständlicher ist es, dass ver.di auf der einen Seite die Proteste gegen Stuttgart 21 unterstützt, auf der anderen Seite gegen die Kürzungspolitik der Regierung mobilisiert, aber beides kaum verbindet.
Die Linke
Für Die Linke muss die Umfrage ein Alarmsignal sein. Es wurden auch Fragen gestellt, was die Befragten bei der letzten Bundes- bzw. Landtagswahl gewählt haben und bei der nächsten wählen würden. Es ist bekannt, dass Menschen auf die Frage, was sie bei der letzten Wahl gewählt haben, nicht immer wahrheitsgemäß antworten. Bei Meinungsumfragen unter der Gesamtbevölkerung kann man die Befragungsergebnisse einfach mit den tatsächlichen Wahlergebnissen vergleichen und findet oft große Diskrepanzen. (Wenn Leute angeben, bei der letzten Landtagswahl die Linke gewählt zu haben, die damals noch nicht existierte, 2006 kandidierte noch die WASG, bestätigt das den begrenzten Wert der Angabe.)
Deshalb kann man aus den Umfrageergebnissen nicht einfach auf Wahlergebnisse schließen … aber man kann doch annehmen, dass Leute bei der Umfrage angeben, dass sie bei der letzten Wahl nicht Die Linke gewählt haben, es aber bei der nächsten tun würden, wenn Die Linke in der monate- und jahrelangen Bewegung einen positiven Eindruck auf sie gemacht hat (schließlich geben 56,5 Prozent an, im November 2009 oder früher gegen Stuttgart 21 aktiv geworden zu sein). Aber 11,1 Prozent sagen, sie hätten bei der letzten Landtagswahl Die Linke gewählt, während die Zahl der Befragten, die Die Linke wählen würden, wenn morgen Landtagswahl wäre, nur minimal höher ist (11,5 Prozent). Bei der Bundestagswahl ist das Ergebnis sogar rückläufig: 15 Prozent sagen, sie hätten Die Linke bei der letzten Wahl gewählt, nur 13,2 Prozent würden sie wählen, wenn morgen Bundestagswahl wäre.
Das ist um so erschreckender, als die Antwort auf die Frage „Welche drei Argumente gegen Stuttgart 21 sind für Sie am wichtigsten?“ eigentlich eine Steilvorlage für Die Linke sein müsste: am häufigsten werden die hohen Kosten von Stuttgart 21 genannt: 377 mal. Und bei aller Kritik hat Die Linke relativ stark betont, dass für Stuttgart 21 Geld ausgegeben wird, das anderswo (Soziales, Bildung, Gesundheit etc.) fehlt. Schon das zweithäufigste Argument ist: „Profit nur auf Seiten der Banken und Baukonzerne“ (271 mal genannt). Das müsst eigentlich Wasser auf die Mühlen der Linken sein, aber tatsächlich hat Die Linke in ihrem Material diesen Aspekt bisher kaum erwähnt, sondern Stuttgart 21 als schlechtes Verkehrsprojekt statt als Profitprojekt behandelt.
Was finden die DemonstrantInnen wichtig … und wozu gibt es Kundgebungsreden? Und von wem?
Die Antworten auf diese Frage sollten allerdings auch dem Aktionsbündnis insgesamt zu denken geben, denn sie zeigen, dass die Themen, die für die Demo-TeilnehmerInnen wichtig sind, bei den Reden auf den Montagsdemos total unterbelichtet sind. Wann hat es einen ausführlichen Redebeitrag zu den Profitinteressen hinter Stuttgart 21 bei einer Montagsdemo gegeben? Jede Erwähnung solcher Zusammenhänge erhält stürmischen Beifall (man schaue sich nur das Video der Rede von Joe Higgins am 20. September an), aber fast immer bleibt es bei Erwähnungen.
Und bei aller Kritik an der Linken. Die SPD schneidet verdientermaßen unvergleichlich schlechter ab. 18 Prozent sagen, sie hätten sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt, 2,3 Prozent würden sie wählen, wenn am nächsten Tag Bundestagswahl wäre. 12,8 Prozent sagen, sie hätten sie bei der letzten Landtagswahl gewählt, 1,5 Prozent würden sie wählen, wenn am nächsten Tag Landtagswahl wäre. Für die MontagsdemonstrantInnen ist die SPD zur Splitterpartei geworden. Aber trotzdem werden ihnen immer wieder RednerInnen dieser Splitterpartei vorgesetzt.
Aber die größte Kluft zwischen dem Bewusstsein der DemonstrantInnen und dem Programm der Montagsdemos gibt es bei der Frage des zivilen Ungehorsams (Blockaden etc.). Immerhin sagten 43,7 Prozent, dass sie an direkten Aktionen teilgenommen haben, 22,4 Prozent gaben an, dass sie das machen würden. 33,9 Prozent machten keine Angaben. In der Presseerklärung des WZB wurde die Zahl genannt, dass 90 Prozent zu Aktionen des zivilen Ungehorsams wie Blockaden bereit seien. Diese Zahl findet sich nicht in den Tabellen im Handout, ist also offenbar ein Vorgriff auf weitere Veröffentlichungen des WZB. Mit einer näheren Einschätzung dieser Zahl werden wir wohl auf weitere Veröffentlichungen des WZB warten müssen. Offensichtlich ist aber, dass es ein riesiges Potenzial für Aktionen wie Massenblockaden gibt, die notwendig sind, um das Projekt wirklich zu stoppen. Dieses Potenzial besser auszuschöpfen als im Sommer, als wir den Abriss des Nordflügels nur be- aber nicht verhindern konnten, wird eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Wochen und Monate sein. Wir haben als SAV verschiedene Vorschläge dafür gemacht: ausführliche Redebeiträge bei Kundgebungen mit der Schilderung von Erfolgen und dem Eindämmen übertriebener Angst vor rechtlichen Folgen; Organisierung von zeitlich befristeten Blockaden mit dem Ziel, sie zu unbefristeten Blockaden auszuweiten; bessere Organisierung mit Stadtteil-, Betriebs-, Schul- etc. -gruppen, die Schichten bei Blockaden übernehmen können; Organisieren von Streiks, auch, um die Zeit zum Blockieren zu haben. Der von der Jugendoffensive gegen Stuttgart 21 organisierte Schülerstreik am 30. September hat exemplarisch gezeigt, wie das funktionieren kann.
Und die Grünen?
Die Grünen sind die Partei, die am meisten von Stuttgart 21 profitiert. Wie erwähnt, hat die Linke ihre Unterstützung bei den MontagsdemonstrantInnen nicht steigern können, die Unterstützung der SPD ist kollabiert, FDP und CDU hatten nie viel Unterstützung, sind jetzt praktisch nichtexistent. Von daher ist es nicht überraschend, dass überwältigende Mehrheiten angeben, die Grünen zu wählen, wenn am nächsten Tag Bundestags- (74,5 Prozent) oder Landtagswahlen (79,6 Prozent) wären. Allerdings geben die Befragten auch mit relativer oder absoluter Mehrheit an, bei den letzten Bundestags- (48,6 Prozent) oder Landtagswahlen (61,1 Prozent) die Grünen gewählt zu haben.
Andere Angaben deuten aber darauf hin, dass diese Unterstützung für die Grünen keine feste Bindung, sondern eine taktische Beziehung ist. Die Befragten sehen eine vorübergehende Interessenidentität, wollen quasi ein Stück des Weges gemeinsam gehen, mehr nicht. Über 80 Prozent stimmen der Aussage zu: „Politische Parteien sind nur an meiner Stimme, aber nicht an meinen Ideen interessiert.“ (39,48 Prozent stimmen völlig zu, 41,21 Prozent stimmen eher zu). fast drei Viertel lehnen die Aussage ab: „Wenn Leute wie ich ihre Meinung gegenüber Politikern kundtun, dann wird diese Meinung auch berücksichtigt.“ (27,8 Prozent lehnen die Aussage völlig ab, 47 Prozent lehnen sie eher ab, weitere 20 Prozent sind neutral). 84 Prozent sind unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland. (Das Handout zitiert den ARD-Deutschlandtrend, wonach im Juli 51 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands so dachten.) Das ist nicht gerade eine passende Einstellung für überzeugte AnhängerInnen einer etablierten Partei, die nach den Meinungsumfragen in wenigen Monaten den größten Wahlsieg ihrer Geschichte erwarten kann. Aber diese WählerInnen sind eben meist keine überzeugten ParteianhängerInnen. So entsteht der scheinbare Widerspruch, dass die große Mehrheit kein Vertrauen in die Politiker hat, aber nur ein gutes Viertel deshalb „keinen Nutzen in Wahlen“ sieht (27,9 Prozent lehnen die Aussage völlig ab, 31,8 Prozent lehnen sie eher ab, 13,8 Prozent sind neutral) und noch viel weniger sagen, sie würden nicht wählen, wenn am nächsten Tag Wahlen wären. AktivistInnen betrachten die Wahl der Grünen als geeignetes Mittel, Stuttgart 21 zu stoppen und mehr direkte Demokratie zu bekommen, haben aber meist keine tiefere Bindung an diese Partei. Das entspricht unserer Erfahrung der letzten Monate, dass die meisten Stuttgart-21-GegnerInnen auf sachlich begründete Kritik an den Grünen überhaupt nicht feindselig reagieren.