Augenzeugenbericht aus Frankreich
Allein am Dienstag, den 19. Oktober gingen 3,5 Millionen in 260 Städten auf die Straße – das ist jeder 20. Franzose! 70 Prozent heißen die Streiks mittlerweile gut.
von Clare Doyle
Trotz Lohnverlust ist eine beeindruckende Zahl an den Streiks beteiligt. Für die Ölarbeiter wurden sogar schon Streikkassen zur Unterstützung des Ausstands eingerichtet. Die Tatsache, dass Hunderttausende von SchülerInnen und Studierenden sich dem Arbeitskampf angeschlossen haben, macht die konservative Regierung besonders nervös. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei knapp 20 Prozent; werden Sarkozys Rentenpläne Wirklichkeit, dann würden noch mal eine Million Jobs verloren gehen.
Gespenst von "68
Marie-Jose Douet von Gauche Révolutionnaire (CWI Frankreich), die beim revolutionären Generalstreik im Mai 1968 dabei war, sieht primär Parallelen zum Vorjahr. Anders als 1968, als die gesamte Wirtschaft zum Erliegen kam und Präsident Charles de Gaulle aus dem Land flüchten musste, tobte – dafür den Boden bereitend – 1967 eine Serie erbitterter Streiks und Proteste.
25 Prozent der Jugendlichen befürworten heute in Umfragen eine "revolutionäre Umwälzung". Aber nur wenige halten eine sozialistische Revolution für "realistisch". Allerdings hat eine nachhaltige Politisierung eingesetzt. Obgleich die Bewegung noch nicht die Kraft besitzen mag, die Machtfrage zu stellen, treibt viele die Frage um, wer das Sagen in der Gesellschaft hat. Beide Seiten zeigen sich entschlossen, in eine lang andauernde Schlacht zu ziehen.
Notstandsmaßnahmen
Präsident Nicolas Sarkozy will Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahren trotz der Massenproteste durchzuboxen. So verhängte er Notstandsmaßnahmen und zwang einen Teil der Bahnfahrer dazu, die Arbeit wieder aufzunehmen. Am Freitag, den 23. Oktober räumten Gendarmerie-Spezialkräfte gewaltsam eine Rafinerie nahe Paris und verletzten drei Streikende. Nicht nur alle Ölraffinerien wurden bestreikt, an einem Drittel der Tankstellen ging im Oktober das Benzin aus. In Marseille und Le Havre wurden auch die Häfen vollständig lahmgelegt.
Zwar sehen sich die Gewerkschaftsspitzen – auf Grund der enormen Kampfbereitschaft und der Solidarität in der Bevölkerung – gezwungen, weitere Proteste anzukündigen. Sie haben Angst, die Kontrolle zu verlieren. Doch werden sie einen Teufel tun, die Bewegung mit aller Konsequenz weiter aufzubauen. Es ist eine offene Frage, wie weit die Initiativen von unten gehen. Gauche Révolutionnaire schlägt ein Kampfprogramm vor: Aufbau und Vernetzung von Koordinierungskomitees auf örtlicher, regionaler und nationaler Ebene, umfassende demokratische Debatten in den Komitees, Organisierung eines echten Generalstreiks, Kampf mit dem Ziel, die Angriffe der Herrschenden komplett abzuwehren und die Auseinandersetzung mit einer sozialistischen Perspektive zu führen.
Natürlich ist es möglich, dass sich die Bewegung zunächst einmal erschöpft. Da Frankreich und die Weltwirtschaft jedoch anders als 1968 in einer tiefen Krise stecken, sind sich viele bewusst, dass eine Niederlage in der Rentenfrage nur die Tore zu weiteren Verschelchterungen öffnen würde.
NPA
Leider hat die Neue Antikapitalistische Partei (NPA), die 2009 gegründet wurde, aus der radikalisierten Stimmung und der Popularität ihres Sprechers Olivier Besancenot kein Kapital schlagen können. Viele NPA-Mitglieder zeigen sich vor Ort sehr aktiv. Allerdings bleibt die Parteiführung in ihren Vorschlägen extrem allgemein, plädiert nur für "radikalere Aktionen", fordert zwar einen Generalstreik, aber zeigt keinen Weg auf, wie dieser erreicht werden könnte und argumentiert nicht für den Aufbau einer sozialistischen Arbeiterpartei, die den Kapitalismus herausfordern kann. Mitglieder von Gauche Révolutionnaire werden sich weiterhin in der NPA, aber auch unter AktivistInnen in der Bewegung für diese notwendigen Schritte stark machen. n
Clare Doyle, Mitglied im Internationalen Sekretariat des CWI, war im Oktober mehrere Wochen in Paris und Rouen