Proteste gegen Stuttgart 21, AKW-Laufzeitverlängerung und DeutschlandTREND weisen auf tiefe politische Krise hin
Die Massenmobilisierungen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 suchen in der Geschichte nicht nur der baden-württembergischen Landeshauptstadt ihresgleichen. Wann sind schon mal an vier von zehn Tagen 20.000 (30.9.), 100.000 (1.10.), 55.000 (4.10.) und 150.000 (9.10.) Menschen auf die Straße gegangen? Gleichzeitig gibt es Massenproteste gegen die Verlängerung der Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke: am 18.9. demonstrierten über 100.000 in Berlin, am 9.10. bildeten 50.000 eine Menschenkette in München und für Anfang November werden zehntausende DemonstrantInnen gegen die Castor-Transporte erwartet. Gewerkschaftliche Aktionswochen und Demonstrationen werden bis zum 13. November wahrscheinlich auch viele zehntausend Lohnabhängige mobilisieren.
Ein Kommentar von Sascha Stanicic, Berlin
Angela Merkel hat sich in Sachen Stuttgart 21 weit aus dem Fenster gelehnt. Nun läuft sie Gefahr, dass sie aus dem Fenster fällt und wenn sie sich dabei nicht ganz das Genick bricht, könnte sie zumindest schweren Blessuren davon tragen. Denn der Kampf um das Milliardengrab Stuttgart 21 geht spätestens seit Merkels Bundestagsrede und seit dem brutalen Polizeieinsatz vom 30. September nicht mehr nur um ein Bahnhofsprojekt. Die Regierenden selber haben Stuttgart 21 zum allgemeinpolitischen bundesweiten Thema ausgerufen und werden die Geister, die sie riefen nun nicht mehr los. Und es wird immer deutlicher, dass der massenhafte Protest, der seit vielen Wochen wächst und zwei Mal wöchentlich auf die Straße getragen wird sich nicht nur gegen den unterirdischen Bahnhofsneubau richtet, sondern gegen eine Politikerkaste, die mit Willkür und Gewalt regiert und schamlos die Interessen der Banken und Konzerne bedient. Selten wurde so offensichtlich, nach welcher Pfeife Regierungen im Kapitalismus pfeifen. Um die Laufzeitverlängerung für ihre Atommeiler zu erreichen, mussten die Energiebosse nur ein paar Anzeigen schalten und zum Kaffeeklatsch im Kanzleramt auftauchen – gegen alle in Meinungsumfragen ermittelten Mehrheiten in der Republik. Und auch bei Stuttgart 21 geht es um Geld und Profit – für die Deutsche Bahn, für Autokonzerne, für Immobilienspekulanten und Baufirmen. Auf den Straßen Stuttgarts entlädt sich auch Frust und Wut, die sich lange angestaut haben und nun endlich ein Ventil gefunden haben.
DeutschlandTREND ist Offenbarungseid für Regierungen
Der von Infratest dimap durchgeführte DeutschlandTREND für den Monat Oktober unterstreicht diese These. 79 Prozent der Befragten sind weniger oder gar nicht zufrieden mit der Regierungspolitik, 63 Prozent sind der Meinung, die Regierungsentscheidungen der letzten Wochen gehen in die falsche Richtung. Die höchste Ablehnung von 80 Prozent erfahren dabei die gesundheitspolitischen Beschlüsse der schwarz-gelben Koalition. Mehrheiten von 59 bis 83 Prozent halten das Rentensystem, den Umgang der Firmen mit ArbeitnehmerInnen, die Löhne, den Umgang mit Schwachen in der Gesellschaft, das Steuersystem und die Höhe von Managergehältern für ungerecht.
54 Prozent halten Stuttgart 21 für falsch, nur 33 Prozent für richtig – und das in einer bundesweiten Umfrage! Gegen häufig unterstellte Politikverdrossenheit und Desinteresse spricht, dass nur elf Prozent der Befragten sich kein Urteil zu dieser Frage bilden konnten. Selbst unter FDP-Anhängern gibt es eine Mehrheit gegen Stuttgart 21 und unter CDU"lern immerhin eine starke Minderheit von 40 Prozent. 71 Prozent lehnen das Vorgehen der Polizei ab und 76 Prozent erklären ihre Symapthie mit den DemonstrantInnen.
Die Umfrage macht deutlich, dass zwischen der Mehrheit der Bevölkerung, also den Lohnabhängigen, Erwerbslosen und RentnerInnen, und den Regierenden und etablierten Parteien eine riesige Kluft besteht. Die sich schon seit vielen Jahren entwickelnde Vertrauens- und Legitimationskrise bürgerlich-kapitalistischer Politik und Institutionen scheint eine neue Qualität zu erreichen. Anders kann man es nicht interpretieren, wenn achtzig Prozent der Meinung sind, dass „wichtige Entscheidungen getroffen werden, ohne dass dabei die Interessen der Menschen wirklich berücksichtigt werden“ und 85 Prozent der Meinung sind, dass „die meisten Politiker nicht wissen, was im wirklichen Leben los ist“. Sogar 94 Prozent sprechen sich für Demonstrationen aus, damit „die Politik ihre Meinung zur Kenntnis nimmt“.
Heißer Herbst
All das zeigt, dass ein so genannter heißer Herbst, in dem die Bundesregierung unter enormen massenhaften Druck gesetzt werden kann, möglich ist. Zu den Themen Stuttgart 21 und Kernenergie ist der heiße Herbst schon da. Die Frage ist, ob die Bewegung die Verbindung zu den vielen sozialpolitischen Angriffen der Bundesregierung zieht und so die Legitimation der Bundesregierung insgesamt in Frage stellt.
Die Stimmung gegen Rente ab 67, gegen Leiharbeit, gegen die Kopfpauschale und das Sparpaket ist zweifellos bei großen Mehrheiten gegeben. Beim Thema Hartz IV hat die sozialdarwinistische Propaganda der Westerwelles und Sarrazins eine gewisse Wirkung hinterlassen und Teile der Bevölkerung geben den Hartz IV-EmpfängerInnen selber eine Schuld an ihrer Situation. Aber 73 Prozent sagen, dass mit den Schwachen in der Gesellschaft ungerecht umgegangen wird.
Das Potenzial für große Proteste und Widerstand ist da. Angesichts der Stuttgart 21-Proteste kann niemand mehr ernsthaft behaupten, es gebe in der Bevölkerung keine Bereitschaft zum Protest und Engagement. Die Frage ist: wie kann diese mobilisiert werden?
Tatsächlich geben gerade die Themen Stuttgart 21 und Laufzeiten für AKW"s einen Hinweis für eine Antwort. Beide Themen bieten klare und eindeutige Alternativen zur Regierungspolitik: AKW"s abschalten und kein Bau von Stuttgart 21. Der Raum für faule Kompromisse ist gering und die Menschen haben dementsprechend das Gefühl, dass es sich lohnt für eine konsequente Sache auf die Straße zu gehen.
Wenn die Gewerkschaftsführungen ebenso klare und kompromisslose Alternativen zur Regierungspolitik propagieren und einen entschlossenen Kampf für diese Alternativen ausrufen würden, dann wären sie angesichts ihrer sechs Millionen Mitglieder sicher in der Lage ähnlich große und noch größere Mobilisierungen zu erreichen. Aber die Erfahrung vieler ArbeiterInnen und Gewerkschaftsmitglieder ist, dass ihre Führungen bei Demonstrationen nur Dampf ablassen wollen und dann in Verhandlungsrunden mit Arbeitgebern und Regierenden faule Kompromisse abschließen. Die Entschlossenheit der Stuttgarter DemonstrantInnen und ihre klare Haltung, ohne einen Bau- und Vergabestopp keine Gespräche mit der Mappus-Regierung zu führen, sollte den Gewerkschaftsspitzen ein Beispiel sein. Vor allem aber sollten sie aufzeigen, dass Stuttgart 21 auch ein unsoziales Projekt ist und die Verbindung zwischen dieser beeindruckenden Massenbewegung und den geplanten Aktionswochen im Herbst ziehen. Diese könnten dann statt eines Alibi-Protests zum Startschuss für eine wirkliche Bewegung gegen die Merkel-Westerwelle-Regierung werden und an den Massenstreiks in Südeuropa anknüpfen.
Die Bedeutung von Stuttgart 21
Stuttgart 21 ist zum Schicksalsthema für die Mappus-Regierung geworden. Ob sie dem stetig wachsenden Druck standhalten wird, ist offen. Sollten die Anschuldigungen der Jugendoffensive gegen Stuttgart 21 bewiesen werden, dass Polizeiprovokateure eingesetzt wurden, um DemonstrantInnen zu Gewalt anzustacheln bzw. diesen Gewaltanwendung zu unterstellen, könnte die Regierung zum Rücktritt gezwungen werden. Eine Erdrutschniederlage für CDU und FDP in Baden-Württemberg, ob bei vorgezogenen Neuwahlen oder den regulären Wahlen im März, würde auch die Merkel-Regierung ins Wanken bringen. Das ist gut, denn jede durch eine Protestbewegung zu Fall gebrachte Regierung schwächt das gesamte kapitalistische Establishment und jede Regierung, die darauf folgt, wird es ungleich schwerer haben, Entscheidungen gegen die Interessen der Mehrheit durchzusetzen.
Allein deswegen sollten Gewerkschaften, die Partei DIE LINKE, Antikrisenbündnisse und soziale Bewegungen den Kampf gegen Stuttgart 21 zu einem bundesweiten Schwerpunkt erklären, Informationskampagnen durchführen, bundesweit Solidaritätsproteste und Mobilisierungen zu Großdemonstrationen nach Stuttgart organisieren. Denn ein Sieg über Mappus und Grube wäre eine riesige Motivation für alle Proteste gegen kapitalistische Politik und unsoziale Gesetzgebungen und würde das Kräfteverhältnis zwischen den Herrschenden und der Masse der Bevölkerung zugunsten letzterer nachhaltig verändern.
Politische Alternative nötig
Ohne den Aufbau einer politischen Alternative zu allen pro-kapitalistischen und unternehmerfreundlichen Parteien wird aber auch ein Erfolg gegen Stuttgart 21 keine Gewähr dafür sein, dass sich in diesem Land etwas grundlegend ändert.
Es ist eine Farce, dass SPD und Grüne sich nun, da sie in der Opposition auf Bundesebene sind, als sozial und ökologisch präsentieren und ausgerechnet die Grünen in Meinungsumfragen zulegen. Es darf nicht vergessen werden, wie die Grünen ihre Prinzipien immer wieder über Bord werfen, um in eine Regierung zu kommen. 1999 wurden sie von der Friedens- zur Kriegspartei, 2003 trugen sie die Agenda 2010 und Hartz IV mit. Durch den Atomkompromiss machten sie, anstatt auf einem sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie zu bestehen, die heutige Laufzeitverlängerung erst möglich. Und 2008 brachen sie in Hamburg ihre zentralen Wahlversprechen, um die erste schwarz-grüne Landesregierung zu bilden. Mit der SPD sieht es nicht anders aus, nur dass sie ohnehin kaum an Glaubwürdigkeit zurück gewonnen hat, seit sie nicht mehr in der Bundesregierung ist. All das spricht aber auch dafür, dass der Anstieg der Umfragewerte für die Grünen ähnlich instabil sein kann, wie das Hoch der FDP im letzten Jahr.
DIE LINKE ist die einzige Partei, die einen Ansatz für eine wirkliche politische Interessenvertretung für die Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung darstellt. Um das Potenzial für eine alternative Politik, das in den großen Protesten zum Ausdruck kommt, zu nutzen, muss sie aber einen eindeutigen Kurs einschlagen. Je mehr sie sich an SPD und Grüne annähert, desto uninteressanter wird DIE LINKE und desto weniger wird sie die Menschen erreichen, die jetzt und in Zukunft von diesen Parteien enttäuscht sind bzw. sein werden. Niemand braucht eine sozialdemokratische Kopie, wenn man auch das Original haben kann. Nur wenn sie einen klaren antikapitalistischen Kurs einschlägt, ihren Schwerpunkt auf außerparlamentarische Aktivitäten richtet, endlich aufhört durch interne Machtintrigen und Privilegiengeschacher Schlagzeilen zu machen und ein sozialistisches Programm vertritt, wird sie aus den derzeitigen Bewegungen gestärkt hervorgehen können und eine politische Alternative darstellen können.