100.000 gegen den Wahnsinn

Stuttgart erlebt größte Demonstration gegen “Stuttgart 21"


 

Der Stuttgarter Schlossgarten war vom einen bis zum anderen Ende mit einer unüberschaubaren Menschenmenge gefüllt. Der brutale Polizeieinsatz vom Donnerstag und der Beginn der Baumfällarbeiten im Park sind für die Stuttgarterinnen und Stuttgarter offensichtlich nur ein Grund mehr massenhaft auf die Straße zu gehen.

von Sascha Stanicic, z.Zt. Stuttgart

Unendliche Wut entlädt sich immer wieder in Sprechchören: “Lügenpack! Lügenpack!” Und: “Mappus weg!”, dazwischen tosender Applaus, wenn die streikenden Schülerinnen und Schüler erwähnt werden. Und Entsetzen und Schweigen, als berichtet wird, dass eine ältere Frau am Donnerstag nachdem sie von einem Polizisten zu Boden geworfen wurde, auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben sein soll. Dann wieder unendlicher Lärm und Begeisterungsrufe als von dem einen mutigen Polizisten berichtet wird, der während des Schlagstockeinsatzes gegen Schülerinnen und Schüler am Donnerstag seinen Helm hingeworfen hat und die Polizeireihen mit den Worten: “Das mache ich nicht länger mit, auf Kinder zu schlagen” verlassen hat.

Die Kundgebung beginnt mit einer Schweigeminute, die von dem bisher sicher lautesten “Schwabenstreich” – eine Minute Lärm gegen S21 – abgelöst wird. Einer der ersten Redner ist Florian Toniutti von der “Jugendoffensive gegen Stuttgart 21", die den Schülerstreik organisiert hatte. Immer wieder wird der er von Applaus unterbrochen, als er die Lügen der Landesregierung und von Teilen der Medien über angeblich gewalttätige Schülerinnen und Schüler zurück weist. Er erklärt: “Wir haben uns die Entscheidung zum Streik nicht leicht gemacht. Aber außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Wir wollten ein Zeichen setzen, weil Demonstrationen alleine gegen Stuttgart 21 nicht ausreichen.” Ganz Stuttgart ist stolz auf diese SchülerInnen und Jugendlichen, die das Vorrücken der Polizei am Donnerstag vormittag so lange verzögerten bis viele tausend weitere DemonstrantInnen aller Altersklassen den Weg in den Park gefunden hatten. “Geld für Bildung und Soziales, statt für Prestigeprojekte und die Profite der Baufirmen und Immobilienlobby”, ruft Florian Toniutti zum Abschluss seiner Rede aus.

Der anschließende Marsch legt die ganze Innenstadt lahm, die offensichtlich weiträumig von der Polizei abgesperrt wurde. So weitläufig, dass außer vor dem Landtagsgebäude keine Polizisten zu sehen sind, nicht einmal zur Verkehrsumleitung. Entsprechend gewaltfrei und friedlich verläuft die Demonstration. Selbst ein verlassener Polizeiwagen wird nur mit ein paar Aufklebern verschönert und sonst nicht einmal angerührt.

Die Jugendoffensive war auf der Demo mit einem lautstarken Block mit eigenem Lautsprecherwagen vertreten. Der in linken Kreisen bekannte Rapper Holger Burner trat auf dem Dach des Wagens auf und sang anlässlich der Ereignisse des Vortags: “Wir haben keinen Respekt vor Eurer Uniform!”. Damit traf er den Nagel auf den Kopf. PolizistInnen der so genannten “Anti-Konflikt-Teams”, die am Donnerstag nirgends zu sehen waren, trauten sich zu Beginn der Kundgebung unter die Menschen und wurden permanent von wütenden BürgerInnen umlagert. Focus online berichtet, wie sie von Demonstranten aufgefordert wurden, ihre Deeskalationsmaßnahmen beim SEK einzusetzen und nicht unter den friedlichen Protestierern. Als ob weitere Auseinandersetzungen provoziert werden sollten, arbeiteten die Bagger in dem Teil des Parks, in dem die ersten Bäume gefällt worden waren bis zum Sonnenuntergang weiter.

SAV-Mitglieder aus dem ganzen Bundesgebiet waren zu dieser Demonstration angereist, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen und die Bewegung gegen das Milliardengrab Stuttgart 21 zu unterstützen. Dazu war ein für dieses Wochenende seit langem geplantes Jugendseminar abgesagt und die TeilnehmerInnen zur Fahrt nach Stuttgart aufgefordert worden. SAV-Mitglieder und -Unterstützer aus Hamburg, Berlin, Bremen, Köln, Aachen, Essen, Dortmund, Kassel, München, Bamberg und eine Genossin der Socialist Party aus London waren nach Stuttgart gekommen. In vielen Städten nahmen SAV-Gruppen an örtlichen Solidaritätsaktionen mit den Protesten in Stuttgart teil.

Der gestrige Tag war ein klares Signal an Merkel und Mappus: der Widerstand gegen Stuttgart 21 wurde durch den Knüppeleinsatz der Polizeihundertschaften am Donnerstag nicht gebrochen, nicht einmal geschwächt – im Gegenteil: die Zahl der S21-GegnerInnen wächst weiter und die Entschlossenheit weiter zu kämpfen ist ungebrochen.