Debatte zwischen Peter Conradi, SPD und Ursel Beck, SAV
Vorbemerkung: Der Artikel entstammt der Solidarität Nr. 95 und wurde vor den Ereignissen des 30. September 2010 verfasst.
Die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 hat einen der größten Polizeieinsätze zur Folge. Neben der Präsenz bei den Demonstrationen bewachen Polizisten rund um die Uhr die Baustelle, außerdem werden Hundertschaften aufgefahren, um Blockaden zu räumen. Das baden-württembergische Innenministerium spricht davon, dass die Kosten für die Polizei im Zusammenhang mit Stuttgart 21 innerhalb der letzten Monate bereits ihre Kosten für Bundesligaeinsätze in einer ganzen Saison erreicht hätten.
Viele Polizisten im Einsatz sagen offen, dass sie gegen das Projekt Stuttgart 21 sind. Mehrfach haben PolizistInnen S-21-Gegnern direkt erklärt, dass sie den Protest für legitim halten. Es gibt auch Polizeibeamte, die in ihrer Freizeit selbst auf Demonstrationen gegen das Milliardengrab gehen. Nicht wenige trugen anfangs sogar gegen S 21 gerichtete Buttons an ihrer Uniform. Dies wurde ihnen inzwischen vom Landespolizeipräsident Wolf Hammann verboten. Bei Zuwiderhandlung soll ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden.
Nicht zuletzt gibt es Unmut unter den Polizisten über die ständigen und obendrein schlecht bezahlten Überstunden. Die bislang eher deeskalierenden Polizeieinsätze und die vielen verständnisvollen Diskussionen zwischen Polizisten und DemonstrantInnen haben dazu geführt, dass viele S-21-Gegner denken, dieses Klima zwischen Protestierenden und Polizei werde immer so bleiben und man könne durch freundliches Auftreten gegenüber Polizisten brutale Polizeieinsätze verhindern. Ein oft gehörter Spruch bei Demos und Kundgebungen lautet: „Wessen Bahnhof? Unser Bahnhof! Wessen Park? Unser Park! Wessen Polizei? Unsere Polizei!“ Bei der Montagsdemonstration am 13. September hat der prominente S-21-Gegner, Peter Conradi, diese Position bestärkt und DemonstrantInnen für verbale Kritik an einzelnen Polizeiaktionen kritisiert.
Peter Conradi, SPD, von 1972 bis 1998 Bundestagsabgeordneter, Redner auf der Stuttgarter Montagsdemonstration am 13. September
Die Polizei hat durch unsere Protestaktionen gegen Stuttgart 21 viel Arbeit. Das heißt für die Polizistinnen und Polizisten große Belastungen – lange Schichten, Überstunden, Nachtdienst. Und das alles bei hohem Krankenstand und knappem Personal. Die Polizei tut ihre Arbeit, sie schützt auch unser Demonstrationsrecht, und sie macht das überwiegend freundlich.
Wir wissen, dass viele der Polizisten wie wir gegen Stuttgart 21 sind. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 stimmt seine Aktionen mit der Polizei ab.
Der Polizeipräsident Siegfried Stumpf lobt uns und sagt, er kenne aus den „letzten Jahrzehnten keinen bürgerlichen Protest, der über so viele kluge Leute, so viel Kreativität und Organisationstalent verfügte“.
Die Polizei bemüht sich um Deeskalation, um ein friedliches Vorgehen, aber gelegentlich unterlaufen ihr leider doch Ausrutscher, Fehler, Übergriffe, vor allem bei Räumungsaktionen, beim Wegtragen von Demonstrantinnen und Demonstranten – das muss im Einzelnen angezeigt, aufgeklärt und geahndet werden.
Umgekehrt gilt: Wer von uns gewaltlosen zivilen Ungehorsam übt – dafür habe ich großen Respekt –, muss sich so verhalten, dass die Polizei ihre Aufgaben ohne Gewalt und ohne Gefährdungen ausführen kann. Ich bin froh, dass sich die Polizei hier in Stuttgart insgesamt vernünftiger verhält als in manchen anderen Großstädten, und das soll auch so bleiben.
Die weit überwiegende Mehrheit von uns ist freundlich zu den Polizisten. Doch gelegentlich gibt es Ausnahmen, rüde Beschimpfungen, so als wären die Polizisten unsere Feinde. Die Sprechchöre „Schämt Euch“ gegen die Polizisten verstehe ich nicht: Die Polizistinnen und Polizisten tun ihre pflichtgemäße Arbeit und müssen sich dessen nicht schämen. Schämen müssen sich Rüdiger Grube, Stefan Mappus, Wolfgang Drexler und andere, die das Projekt Stuttgart 21 gegen den Willen einer Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen wollen und die Polizei dafür einsetzen.
Wir alle wollen gemeinsam dafür sorgen, dass niemand von uns die Polizei beschimpft und beleidigt. Wir sagen auf den Demonstrationen: „UNSER Land, UNSERE Stadt, UNSER Bahnhof, UNSER Geld.“ Und wir sagen auch: „UNSERE Polizei.“
Ursel Beck, Ursel Beck, Sprecherin der LINKEN Stuttgart – Bad Cannstatt und im SAV-Bundesvorstand, aktiv im Cannstatter Aktionskreis gegen S 21
Der Polizeiapparat ist ein Instrument zur Verteidigung der bestehenden Machtverhältnisse. Im Fall von Stuttgart 21 heißt das, dafür zu sorgen, dass dieses Wahnsinnsprojekt realisiert wird. Das sieht man allein schon daran, dass die Polizei die Angaben für die Zahl der Demoteilnehmer ständig halbiert. Es widerspiegelt die Interessen der S-21-Mafia, den Protest kleinzureden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass auf der Nordflügel-Baustelle Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten werden. Anstatt die Baustelle zu filmen, werden die Demonstrationen von der Polizei gefilmt. Selbst bei Hinweisen auf Gesetzesverstöße am Bau schreitet die Polizei nicht gegen die Firmen, sondern nur gegen die Blockierer ein. Unter dem Vorwand, dass Zelten im Park nicht erlaubt sei, erfolgten Räumungen. Erlaubt ist aber das Abholzen der Bäume. Und die Polizei soll dies durchsetzen.
Die bisher relativ gemäßigte Haltung der Polizei im Widerstand gegen Stuttgart 21 liegt vor allem daran, dass die Politiker wissen, dass sie es hier mit der Normalbevölkerung zu tun haben. Das den Polizisten in der Ausbildung eingetrichterte Feindbild von „den Chaoten“ funktioniert nicht. Die Herrschenden versuchen dennoch, die Bewegung zu spalten und den entschlosseneren Teil zu kriminalisieren.
Spätestens, wenn im Park die Bäume gerodet werden sollen und der zivile Ungehorsam weitergeht, wird es härtere Polizeieinsätze geben. Darauf muss sich die Bewegung einstellen.
Wir sollten die Sympathie vieler Polizisten für den Widerstand gegen S 21 nutzen, um einen Keil in die Polizei zu treiben. SAV-Mitglieder haben mehrmals bei Blockadeaktionen den anwesenden Polizisten erklärt, dass ihr oberster Dienstherr – die Landesregierung – die Steuergelder, die für S 21 sinnlos vergraben werden, gerade auch bei den Beamten holt. Wir haben sie aufgefordert, unter sich zu diskutieren, solche Einsätze abzulehnen und wir haben ihnen am Ende „Streik-Urkunden“ überreicht.
Wir müssen uns Polizeieinsätzen, wie zum Beispiel von Räumungsaktionen, massenhaft entgegenstellen und Entschlossenheit demonstrieren. Nur so können wir diese Auseinandersetzung gewinnen, bei dem dann auch wachsende Unruhe unter den Polizeibeamten zu einem Faktor werden kann.
Beim Kampf gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf in den Achtzigern haben viele Polizisten den Dienst verweigert und rund hundert sogar gekündigt.