Risse in der deutsch-französischen Zweckgemeinschaft

Zwischenimperialistische Spannungen wachsen


 

Die Diplomatie spielt der Öffentlichkeit ein ritualisiertes Lügentheater vor. Über die wahren Interessen der beteiligten Regierungen wird ein Dunstschleier schwülstiger Gesten und Verlautbarungen ausgebreitet, während die wichtigen Entscheidungen in Hinterzimmern getroffen werden. Dieser Zustand offenbart, in wessen Interesse die kapitalistischen Regierungen handeln, denn eine Außenpolitik im Interesse der großen Bevölkerungsmehrheit, der Lohnabhängigen, bräuchte keine Geheimverträge.

von Fabian Thiel, Hamburg

Es ist also in ruhigen Zeiten eher ungewöhnlich, wenn bürgerliche Regierungen ihre Konflikte öffentlich austragen. Aber wir haben längst keine „ruhigen Zeiten“ mehr. Die mehrfachen Vorstöße der französischen Finanzministerin Christine Lagarde, dass Deutschland mehr für den Konsum tun sollte, statt Europa mit Exportprodukten zu überschwemmen, die Warnung von Staatschef Nicolas Sarkozy, dass weitere deutsche Sparpakete zu einer Rezession führen würden, oder die Streitigkeiten auf dem Rücken der Roma sind Ausdruck verschärfter Interessenkonflikte zwischen der Mehrheit der französischen und deutschen Kapitalisten.

Konkurrierende Blöcke

Das deutsch-französische Verhältnis wird gerne als Aussöhnung ehemaliger Erbfeinde dargestellt. In Wirklichkeit sahen sich zwei Rivalen gezwungen, sich in der Nachkriegszeit zusammen zu tun, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Die europäischen Nationalstaaten empfanden sich als zu klein, um den einzelnen nationalen Kapitalisten einen ausreichenden Binnenmarkt zu bieten und um im internationalen Konkurrenzkampf mithalten zu können. Deswegen gab es jahrzehntelang Bemühungen, einen gemeinsamen, nach außen geschützten europäischen Markt herzustellen. Die Europäische Union (und seit 1999 die Euro-Zone) bedeuten einen ökonomischen und politischen Block gegen ASEAN in Südostasien und NAFTA in Nordamerika.

Abhängigkeiten und Rivalitäten

Über 60 Prozent vom Außenhandel Deutschlands und Frankreichs läuft in Europa ab. Beide sind sich die wichtigsten Handelspartner. Die Herrschenden in Frankreich und Deutschland haben sich immer wieder zusammengerauft, um als die beiden stärksten imperialistischen Staaten Europas den Rest der EU zu kontrollieren.

Die französischen Kapitalisten verfügen über großen Einfluss in vielen Mittelmeer-Ländern, das deutsche Kapital hat seit den neunziger Jahren gerade in Osteuropa an Gewicht gewonnen. Die geknüpften Beziehungsgeflechte sind vielfältig und reichen von Joint-Ventures und Bankenübernahmen über gezielte Korruption lokaler Politiker bis hin zur Einflussnahme auf die Medien. So gehört die größte und die drittgrößte polnische Tageszeitung heute zum Springer-Konzern. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr, gerade seit dem Balkankrieg 1999, widerspiegeln die neue aggressivere Außenpolitik der Bundesrepublik.

Im Irak-Krieg 2003 legten sich Frankreich und Deutschland stärker als in den Vorjahren mit dem US-Imperialismus an. Auch hier mit der Intention, ihre eigenen imperialistischen Interessen zu stärken.

Euro-Krise

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und der Euro-Turbulenzen traten deutliche Meinungsverschiedenheiten darüber auf, mit welchen Mitteln der Euro und die EU zusammengehalten werden sollten. Die (als Griechenland-Hilfe getarnten) Bankenrettungsaktionen, das Hick-Hack um eine Wirtschaftsregierung, die Diskussionen darüber, zahlungsunfähige Staaten aus der EU zu schmeißen – stets gerieten die nationalen Interessen scharf aneinander. Die neu geschaffenen EU-Institutionen und Positionen büßten an Bedeutung ein. Die Regierenden Deutschlands und Frankreichs rangelten – zum Beispiel beim Krisengipfel am 7. Mai – um die Vorherrschaft, während jemand wie der ständige EU-Ratschef Herman Van Rompuy nur Zaungast war.

Am 1. Juli 2010 hielt Gerhard Cromme, Aufsichtsratschef bei Siemens und ThyssenKrupp, vor der französischen Elite eine Rede in der Residenz des deutschen Botschafters in Paris. Er erklärte: „Die Wahrnehmung eigener Interessen wird oft als selbstverständlich betrachtet, während es schnell als unsolidarisch empfunden wird, wenn andere dasselbe tun.“ Die Krise des Kapitalismus hat seit 2007 viel durcheinandergewirbelt. Da diese Krise keineswegs vorüber ist, werden die Imperialisten verstärkt ihre „eigenen Interessen wahrnehmen“, wie Cromme es nennt. Das wird die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland intensivieren. Erst Recht im Falle eines Scheiterns des Euro.