G20-Gipfel: dramatischer Schwenk zu Kürzungspolitik

Die Weltwirtschaft kommt nicht aus der Krise


 

Obwohl der G20-Gipfel schon einige Wochen zurück liegt, veröffentlichen wir hier eine Übersetzung einer Analyse des Gipfels durch die Zeitung der Socialist Party in England und Wales, da die aktuellen Entwicklungen in der Weltwirtschaft treffend beschrieben werden:

Der G20-Gipfel der Chefs der wichtigsten kapitalistischen Regierungen der Welt in Toronto demonstrierte deren völlige Unfähigkeit, die enormen Probleme, mit denen wir alle konfrontiert sind, zu lösen. Vor allem die am schlimmsten Betroffenen können alles andere als aufatmen: Die Armen und die Arbeiterklasse, die am härtesten von der Wirtschaftskrise in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Leitartikel der Wochenzeitung „The Socialist“ vom 29.6.2010

Eigentlich sollten bei diesem Wirtschaftsgipfel die von den kapitalistischen Regierungen dieser Welt aufgelegten sogenannten Rettungspakete „gefeiert“ werden. Schließlich hätten diese ja den Kapitalismus vor der „Depression bewahrt“. Doch stattdessen vollzog sich in schwindelerregendem Tempo innerhalb weniger Monate ein Wechsel: Der vorherrschende Blick auf das Gipfeltreffen richtete sich nun plötzlich auf jene Regierungen, die, wie die neue britische konservativ-liberale Koalition unter Führung David Camerons, zu massiven Kürzungen bei ihren öffentlichen Ausgaben übergegangen waren.

Der Gipfel musste die Probleme – vor allem die eklatanten Differenzen zwischen der US-Regierung Barack Obamas auf der einen und den europäischen Kapitalisten auf der anderen Seite – überspielen. 30 Millionen Menschen in den USA sind erwerbslos und ganze Bundesstaaten brechen unter ihrer Schuldenlast zusammen. Obama braucht an Stelle von Kürzungen schlichtweg neue Rettungspakete, um eine Niederlage bei den bevorstehenden Wahlen im November zu verhindern. Doch der US-Kongress ist dagegen und hat weitere Hilfsprogramme abgelehnt.

Die Haushalts-Kürzer aus Europa drohen mit ihren Maßnahmen, die Probleme des Kapitalismus in den USA und weltweit zuzuspitzen. Und an vorderster Stelle steht dabei die britische Regierung.

Den Kommentatoren dämmert schon der ganze Schrecken, zu dem die auf dem Tisch liegenden Kürzungsvorschläge führen werden. William Keegan schrieb im Observer (27. Juni 2010): „Die alten Sowjets frönten ihren 5-Jahres-Produktionsplänen. Die Konservativen unter Cameron und Osborne hingegen glauben an 5-Jahres-Reduktionspläne“.

Die schwachen Wachstumsraten in Großbritannien, Europa und des ganzen Weltkapitalismus – sollte man dabei überhaupt von „Wachstum“ sprechen können – drohen die Schlange der Arbeitslosen nur länger werden zu lassen. Damit wird der Schaden jedenfalls nicht wett gemacht, der bereits entstanden ist. Nach dem Rückgang von fast neun Prozent in 2009 wird für Großbritannien für dieses Jahr ein lediglich 1,25-prozentiges Wachstum erwartet.

Wenn Regierung und kapitalistische Ökonomen von „Erholung“ sprechen, reden sie nur über eine „technische“ Erholung. Weder für Großbritannien noch für den Weltkapitalismus existiert eine neue „Wachstumsphase“. Die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) und der „Weltwährungsfonds“ (IWF) waren dieses Jahr abermals gezwungen, ihre Wachstumsprognosen für die Weltwirtschaft nach unten zu korrigieren. IWF-Geschäftsführer Dominique Strauss-Kahn hat hervorgehoben, dass ein 2,5 Prozent unter den bisherigen Prognosen liegendes Wachstum bedeutet, dass in diesem Jahr nun doch nicht „60 Millionen Arbeitsplätze“ geschaffen werden können.

Keynesianisch-kapitalistische Ökonomen verzweifeln. Direkt nach Ausbruch der Krise Ende 2007 und Anfang 2008 schien deren Standpunkt an Unterstützung zu gewinnen. Nun, da man Angst vor den Auswirkungen der enormen Defizite hat, bewegt sich zumindest der europäische Kapitalismus in die entgegen gesetzte Richtung, hin zu einer langgezogenen „Sparpolitik“ auf unbestimmte Zeit.

Keynesianismus meint eigentlich, die Pumpe anzukurbeln. Um weitere ökonomische Zusammenbrüche zu verhindern, soll die Wirtschaft durch den Staat stimuliert werden. Das daraus resultierende Dilemma lautet: „Wer soll das bezahlen?“. Wenn es die Arbeiterklasse über höhere Steuern richten soll, dann schadet das der Nachfrage und dem Markt. Wenn es die Kapitalisten über höhere Steuern oder andere Maßnahmen treffen sollte, dann droht ein Kapital-Streik, Investitionen werden zurück gezogen, Fabriken geschlossen und die Arbeitslosigkeit wird rasant ansteigen. Sollte ein Ausweg über die Druckerpresse gesucht werden, der nicht durch die Warenproduktion und / oder Dienstleistungen untermauert wäre, dann würde dies definitiv zu Inflation führen.

Die nun ins Feld geführte Methode schwerwiegender Kürzungen sieht wie folgt aus: „Die Kur wäre schlimmer als es die Krankheit je war“. Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stieglitz kritisiert das neue „Zeitalter der Sparprogramme“ aufs Schärfste: „Es geht dabei nicht nur um so etwas wie ein vor-keynesianisches Vorgehen, es handelt sich um Hooverismus“ (The Independent, 27.6.10). Herbert Hoover war zu der Zeit Präsident der Vereinigten Staaten, als es 1929 zum Wall Street Crash kam. „Hoover hatte diese Idee, dass er vor der Rezession stehend und angesichts wachsender Defizite sich für Kürzungen entschied“. Das Ergebnis war die Große Depression der 1930er Jahre. Hoover erhielt folgende Anweisung von seinem Finanzminister Andrew Mellon: „Liquidiere die Arbeiterschaft, liquidiere den Aktienhandel, liquidiere die Bauern, liquidiere den Immobilienmarkt […] beseitige alles Verrottete, das im System steckt“.

Und genau dies wird nun durch die brutalen Sparmaßnahmen von Schatzkanzler George Osborne unterstrichen, der von den sehr rasch in Misskredit gefallenen Liberaldemokraten unterstützt wird. Diese Regierung zeigt mit ihren kaltschnäuzigen Attacken die gesamte historisch grausame Härte der britischen Kapitalisten. Der Observer schätzt, dass es in weniger als zwei Monaten zur Halbierung des Zuspruchs für die Liberaldemokraten gekommen ist.

Und in der Tat mussten die kapitalistischen Regierungen in ganz Europa, von Angela Merkel in Deutschland bis hin zu Giorgos Papandreou in Griechenland, überall dort, wo man den Weg der Sparpolitik eingeschlagen hat, einen drastischen Abfall ihrer Beliebtheitsraten erleben. Im Falle Merkel muss gesagt werden, dass sie in der deutschen kapitalistischen Presse fast schon zur Witzfigur verkommen ist.

Im Prinzip stellt das Sparprogramm der britischen Regierung eine Kürzung in allen Regierungszweigen um je ein Drittel in Aussicht. Ausnahmen bilden dabei nur die Bereiche „internationale Entwicklung“ und „Gesundheit“, wobei die Regierung behauptet, dass es hier eine zweckgebundene Finanzierung geben wird. „Bildung“ und „Verteidigung“ bleiben von Kürzungen ausgenommen. Das bedeutet insgesamt eine Kürzung des Staatshaushalts in der Höhe, wie sie der sogenannte „Geddes report“ von 1922 vorsah, dessen Umsetzung unmittelbar zum Generalstreik von 1926 führte. Abgesehen davon wird die Regierung von einer Protestwelle heimgesucht werden, bevor auch nur annähernd das avisierte Ein-Drittel-Kürzungsziel erreicht wird.

Die Ansicht, nach der die Privatwirtschaft die durch diese Kürzungsvorhaben erwirkte Flaute überbrücken könnte, ist vollkommen falsch. An Tag eins nach dem G20-Gipfel berichtete die britischen Tageszeitung The Independent: „Die britische Produktionsrate wird in den kommenden fünf Jahren in den internationalen Wettbewerbsrankings auf den jämmerlichen 20. Rang abgleiten“. Da Brasilien an ihr vorbeiziehen wird, wird sogar die US-Produktion vom vierten auf den fünften Rang abfallen. Das bedeutet, dass Obamas Scheitern, seine Agenda auf die Tagesordnung der G20-Staaten zu setzen, ein Zeichen für die Schwäche des US-Kapitalismus ist – und das, obwohl die US-Volkswirtschaft weiterhin die stärkste der Welt bleibt.

Momentan ist die britische Produktion noch die siebtgrößte im Weltmaßstab. Führend dabei sind die Pharmafirmen, die Lebensmittelbranche sowie Luftfahrt und Rüstung. Diese Bereiche steuern immer noch 14 Prozent zum britischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei – verglichen mit nur sieben Prozent, die der Finanzsektor diesbezüglich aufweist. Allerdings ist der Anteil des produzierenden Gewerbes am BIP in den letzten zehn Jahren insgesamt gesunken. Damals lag er noch bei zwanzig Prozent. Nichts von dem, was die Regierung getan hat, kann diesen Malus wieder wettmachen. Fakt ist vielmehr, dass Millionen Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft vom öffentlichen Sektor abhängen und sie werden betroffen sein, sobald die Kürzungen greifen.

Die Lage stellt sich im Moment, da die Haushaltskürzer an der Macht sind, so dramtisch dar, dass die meisten kapitalistischen Wirtschaftswissenschaftler eine „Double-Dip“-Rezession prophezeien. Und tatsächlich steht die Weltwirtschaft auf Grund der in Angriff genommenen Maßnahmen am Rande zur Deflation. China wird – anders als von Obama und den europäischen Kapitalisten erhofft – keinen Ausweg aus der Krise weisen können. Um die chinesischen Exporte teurer zu machen und somit Möglichkeiten wachsender Ausfuhren für die US-Wirtschaft und andere Märkte zu bieten, hat Obama China gedrängt, seine Währung neu zu bewerten. Als man sich in China aber entschieden hatte, sich bei der Währungsbewertung flexible zu zeigen, stieg der Renminbi vergangene Woche „schätzungsweise“ nur um 0,4 Prozent gegenüber dem US-Dollar!

Um noch eins drauf zu setzen, werden alle diese Kürzungen nicht die Position dieser Volkswirtschaften verbessern, denen sie auferlegt werden. Der Vorsitzende der „Bank of England“ in den 1920er und 1930er Jahren, Montagu Norman, führte den „Gold Standard“ ein. Später räumte er ein: „Wenn ich heute zurück blicke, sieht es so aus, als hätten wir mit all unseren Ansätzen und unserer Arbeit und den guten Absichten, die wir hatten, absolut gar nichts erreicht. […] Nichts von dem, was ich getan habe und nur sehr wenig von dem, was (andere) taten, hat im Weltmaßstab zu irgendwelchen guten Ergebnissen geführt – oder überhaupt zu einem Ergebnis geführt. Außer, dass wir von einer ganzen Menge armer Teufel Geld kassiert und es zum Fenster heraus geschmissen haben“.

Die Arbeiterklasse wird zu den armen Teufeln gehören, die in Mitleidenschaft gezogen wird. Das stellt unter Beweis, dass es sich beim Kapitalismus um ein blindes System ganz nach dem Geschmack eines Herrn Osborne handelt, der dem „Blindflug“ anhängt. Ihre einzige Absicht ist es, die „Märkte, also eine Handvoll Aktienhändler, Spekulanten und Kapitalisten, zufrieden zu stellen, die kein anderes Interesse verfolgen, außer ihren Anteil an der Beute zu steigern.

Die Bankrotterklärung von Toronto muss von der Arbeiterklasse in den USA, in Europa und weltweit als Signal genommen werden, um eine Offensive zu beginnen und die Kapitalisten und ihr System umgehend zu stellen. In Großbritannien müssen wir mit einer Massenkampagne loslegen, um jede einzelne Kürzung abzuwehren – worum es hier geht ist nichts anderes als die Existenzgrundlage des Sozialstaats, dessen Errungenschaften die Errungenschaften nacheinander folgender Generationen der Arbeiterklasse sind. Wenn die Gewerkschaftsvorsitzenden und führenden Köpfe nicht darauf vorbereitet sind zu führen, dann muss es zu einer Bewegung von unten kommen.

Dieser Aufruf ging auch von der großartigen „National Shop Stewards Network“-Konferenz (landesweites Vertrauensleutetreffen; Anm. d. Übers.) aus, die vergangenen Samstag in London abgehalten wurde. Wir müssen den dort gemachten Aufruf umsetzen und die Gewerkschaften dazu auffordern, am Tag der TUC-Konferenz (Kongress des Gewerkschaftsdachverbandes; Anm. d. Übers.) im September eine landesweite Demonstration durchzuführen. Und sollte dies die Gipfeltreffen der Bewegung nicht dazu bringen, sich zu bewegen, dann muss Aktion von unten aus organisiert werden. Der Kapitalismus kennt keinen Ausweg. Ein kämpfender und kämpferischer Ansatz ist in den täglich stattfindenden Kämpfen der Arbeiterklasse nötig; und vor allem beim Kampf gegen die Kürzungen. Diese kämpferische Herangehensweise muss verknüpft sein mit der Idee der sozialistischen Transformation der Gesellschaft.