Stuttgart – Eine Stadt im Aufruhr

4.000 GegnerInnen von Stuttgart 21 protestieren spontan gegen den Abriss des Nordflügels


 

Am Freitagabend begann die Polizei, wie schon vorher gerüchteweise vermutet, den Bahnhofsvorplatz am Nordausgang des Hauptbahnhofs abzusperren. Unter massivem Einsatz von Polizeikräften, die sich im Zuge des Gelöbnix gegen die Vereidigung von Bundeswehrrekruten noch in der Stadt befanden, wurden Bauzäune abgeladen, um den Zutritt zum Vorplatz zu verhindern. Nach einem Aufruf über alle Verteiler und Auslösen des Parkschützer-Alarms, der die GegnerInnen per SMS informierte, versammelten sich innerhalb von 2 Stunden tausende Menschen am Bahnhof rund um die Mahnwache. Im Anschluss wurde für Stunden die Innenstadt lahm gelegt, weil die Menschen in großer Anzahl auf die Straßen strömten, um diese zu besetzen.

von René Kiesel, z.Zt. Stuttgart

Nach der erfolgreichen Besetzung des Nordflügels durch 50 Protestierende am Montag, über die bereits berichtet wurde, reißt die Kette der Proteste nicht ab. Am Mittwoch gab es auf dem zentral gelegenen Marktplatz die Auftaktveranstaltung zum sogenannten „Schwabenstreich“. Die Idee dahinter ist, um 19 Uhr an den verschiedensten Orten so viel Lärm wie möglich zu veranstalten. Egal, an welchem Ort sich die Menschen gerade befinden. Der Vorschlag stieß bei den mehreren Tausend Anwesenden auf Begeisterung. Als die Initiatoren der Veranstaltung, der Schauspieler Walter Sittler und Volker Lösch, Regisseur des Schauspiels Stuttgart, sich solidarisch mit der Besetzung des Gebäudes zeigten, gab es anhaltenden Applaus und Jubel.

Allgemein ist diese Form des gewaltfreien zivilen Ungehorsams bei der überwältigenden Mehrheit der AktivistInnen in den Bündnissen auf Zustimmung gestoßen.

Anschließend gab es bei der Mahnwache am Bahnhof eine Lesung verschiedener AutorInnen, die von einem starken Polizeiaufgebot überwacht wurde. An dieser nahmen noch einmal etwa 500 Menschen teil.

Da die Petition gegen das Projekt, die 67.000 UnterzeichnerInnen hatte, von den verantwortlichen PolitikerInnen ignoriert wurde, wurde der Stuttgarter Bevölkerung klar, dass man radikalere Aktionsformen braucht, um sich Gehör zu verschaffen. Es ist für Viele schon seit einiger Zeit offensichtlich, dass hier eine regelrechte Mafia von Immobilienhaien, Bauherren und deren gekauften PolitikerInnen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene direkt an den Interessen der Mehrheit vorbei agieren.

Freitag Abend – eine Stadt steht auf

Eine Aktivistin der „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“ erreichte gegen 20.30 Uhr, kurz nach einer Veranstaltung mit mehreren Jugendlichen, die Nachricht, dass am Hauptbahnhof Baumaschinen anrücken würden.

Schon in den letzten Wochen hatten die Verantwortlichen des Milliardenprojekts Stuttgart 21 verlautbaren lassen, dass sie im August mit den Abrissarbeiten am Nordflügel des Hauptbahnhofs beginnen. Es liegt nahe, dass sie darauf spekulierten, dass der Widerstand während der Ferienzeit geschwächt sei, da viele im Urlaub sind. Vergebens.

Doch die Protestaktion vom Montag setzte die PolitikerInnen unter Druck, Tatsachen zu schaffen. Höchstwahrscheinlich ebenfalls in der Annahme, damit der Protestbewegung einen starken Stoß versetzen zu können und eine Spaltung hervorzurufen.

Unverzüglich machte sich die Gruppe von 10 Jugendlichen auf den Weg zur Mahnwache. Dort befanden sich zum Zeitpunkt des Eintreffens erst ca. 50 GegnerInnen. Doch durch Telefonketten, E-Mail-Verteiler, Facebook-Einträge und den Parkschützeralarm wuchs die Menge schnell an und organisierte eine friedliche Sitzblockade vor dem Nordeingang, an der sich auch der Stadtrat Hannes Rockenbauch beteiligte. Auch nach der 3. Aufforderung der Polizei, die gegen die Lautstärke der GegnerInnen nicht ankam, stand niemand auf, woraufhin diese mit zum Teil recht unsanften Räumungen begann. Allerdings verzichtete die Einsatzleitung darauf, die friedlichen DemonstrantInnen wie am Montag festzusetzen oder einzukesseln. Es sei erwähnt, dass unter den PolizistInnen teilweise eine ablehnende Haltung zu diesem Projekt zu vernehmen war. Einige Angehörige der Landespolizei waren an diesem Tag 18 Stunden im Einsatz.

Die (auch politische) Breite des Protestes und die Solidarität macht es den Medien und Parteien schwer, die Aktionen zu kriminalisieren und die DemonstrantInnen einfach „wegzuknüppeln“. Der Widerstand setzt sich aus allen Altersgruppen zusammen, viele politisierten sich durch Stuttgart 21 und gingen zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine Demonstration.

Mit jeder Minute wurden es mehr Menschen vor dem Bahnhof, die Geräumten umgingen die Polizeisperre einfach und schlossen sich wieder der wachsenden Menge an.

Etwa um 22.30 Uhr entschied sich eine größere Gruppe der mittlerweile rund 2.000 Anwesenden, die Kreuzung Schiller-, Friedrich-, Kriegsberg- und Heilbronner Straße ganz in der Nähe zu besetzen und errichteten dort durch ihren Einsatz die erste friedliche Blockade an diesem Abend.

Einige Mitglieder der SAV übernahmen zusammen mit anderen die Mobilisierung von Weiteren, um die Straße zu versperren. Es wurde dann entschieden, weitere Straßen zu besetzen und ein Zug von Protestierenden bewegte sich in Richtung Gebhard-Müller-Platz und besetzte diesen ebenfalls. Der Platz ist wie die Kreuzung ein wichtiger Punkt für den Verkehr in der Stuttgarter Innenstadt. Diese war mittlerweile völlig lahm gelegt und die Polizei richtete Umleitungen ein.

Eine Gruppe von 100 Menschen lief dann zum Charlottenplatz, um diesen in Beschlag zu nehmen. Damit waren dann die Bundesstraßen 14 und 27, zwei Hauptverkehrsadern, außer Gefecht gesetzt. Die Besetzung wurde recht schnell geräumt, worauf sich dann eine kleine Gruppe von Mitgliedern der SAV schnell auf dem Weg zurück zur Menge am Bahnhof machten, um etwa 200 weitere Menschen zur Unterstützung zu mobilisieren. Mit diesen umgingen sie die Polizeisperren durch den Schlosspark und besetzten erneut den Charlottenplatz.

Nachdem die Polizeikräfte auch dort mit der Räumung begannen, wurde beschlossen, langsam auf der Straße zum Bahnhof zurück zu gehen, um die besetzte Kreuzung zu verstärken. Mittlerweile hatten die Einsatzkräfte das Gebiet weiträumig eingekesselt. Es standen ca. 1.000 Menschen auf der Kreuzung und weitere 2.000 um den Nordeingang und machten die ganze Zeit ihrer Wut lautstark Luft. Die Slogans waren unter anderem „Bei Abriss Aufstand,“ „Oben bleiben,“ „Wessen Bahnhof? Unser Bahnhof!“ „Schuster weg! Mappus weg!“

Um 1.00 Uhr ging die Menge vom Bahnhof und der Kreuzung auf der Straße in Richtung Innenstadt, um diese bis um 3.00 Uhr unpassierbar zu machen.

Wie weiter?

Die Taktik der S21-Strategen geht nicht auf. Eine spontane Demonstration am Samstag mit 2.000 TeilnehmerInnen zeigte, dass der Mut ungebrochen ist. Eher setzt sich eine Durchhaltestimmung durch. Die AktivistInnen sind sich sicher, dass dies kein endgültiger Bauzaun ist und dass das Projekt durch den weiteren Aufbau des Widerstands verhindert werden kann. Der Demonstrationszug ging unter den ohnmächtigen Augen der Polizei durch die Königsstraße, die eine sehr belebte Einkaufsstraße in Stuttgart ist, zum Rathaus und letztendlich auch ins Rathaus. Das macht ganz deutlich – Jetzt erst recht!

Entgegen den Erwartungen der Politik sind die Proteste noch steigerbar. Für das Wochenende sind jeweils zwei zentrale „Schwabenstreiche“ geplant. Für die kommende Montagsdemonstration werden erheblich mehr TeilnehmerInnen erwartet, als in den letzten Tagen. Die Wut angesichts kommunaler Kürzungen, Stellenstreichungen und Perspektivlosigkeit bei den Menschen sind enorm. Sie haben genug. Das Projekt Stuttgart 21 ist nicht die erste Grausamkeit, die der Kapitalismus den Menschen antut und bei Weitem nicht das Ende der Fahnenstange. Doch es ist ein besonders offensichtlicher Teil des kapitalistischen Normalbetriebs. Während sogar zwei Schulen geschlossen, der Nahverkehr eingeschränkt und der Park teilweise abgerissen werden sollen, ist geplant, durch dieses Projekt bis zu 14 Milliarden. Euro auszugeben. Dies stößt sogar in den Reihen der S21-Parteien und auf Bundesebene auf Unmut, da sich einige Interessensvertreter des Kapitals an ihrem Standort zu kurz gekommen fühlen.

Die Bewegung muss jetzt noch massiver werden. Doch was ihr fehlt, ist eine klar antikapitalistische, sozialistische Perspektive. Ebenfalls ist es nun notwendig, größere Teile der Jugend für den Widerstand gegen Stuttgart 21 zu gewinnen, die ein klares Verständnis davon haben, dass es nicht nur um, oder besser gesagt, gegen S21 geht, sondern um ein System, das dahinter steckt. Mitglieder der SAV sind beim Aufbau der „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“ zusammen mit Linksjugend [’solid] Stuttgart aktiv, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die dauerhafte Verhinderung von solchen Prestigeprojekten, die niemanden etwas bringen, außer der Brieftasche der Kapitalisten nur durch eine Abschaffung des Kapitalismus erreicht werden kann. Es gilt eine demokratisch geplante Infrastruktur aufzubauen, in der der Schienenverkehr so ausgebaut und bezahlbar ist, dass JedeR ihn nutzen kann. Der Verkehr muss im Interesse der Mehrheit ausgebaut werden und darf kein Spekulationsobjekt von einer verschwindenden Minderheit von Kapitalisten sein.