von Leo Trotzki, geschrieben am 28. August 1937
   
  Reaktionäre Epochen wie die unsere zersetzen und schwächen nicht nur die   Arbeiterklasse und isolieren ihre Avantgarde, sondern drücken auch das   allgemeine ideologische Niveau der Bewegung herab und werfen das   politische Denken auf bereits längst durchlaufene Etappen zurück.
Die   Aufgabe der Avantgarde besteht unter diesen Umständen vor allem darin,   sich nicht von dem allgemeinen, rückwärts flutenden Strom davontragen zu   lassen – es heißt gegen den Strom schwimmen. Wenn ein ungünstiges   Kräfteverhältnis es nicht erlaubt, die früher eroberten politischen   Positionen zu wahren, gilt es, sich wenigstens auf den ideologischen   Positionen zu halten, denn sie sind der Ausdruck einer teuer bezahlten   vergangenen Erfahrung. Dummköpfen erscheint eine solche Politik als   "Sektierertum". In Wirklichkeit bereitet sie nur einen gigantischen   neuen Sprung vorwärts vor, zusammen mit der Welle des kommenden   historischen Aufschwungs.
Die Reaktion gegen den Marxismus und gegen den Bolschewismus
Große historische Niederlagen rufen   unvermeidlich eine Umwertung hervor, die sich im allgemeinen in zwei   Richtungen vollzieht. Auf der einen Seite trachtet das Denken der wahren   Avantgarde, bereichert um die Erfahrung der Niederlagen und mit Zähnen   und Klauen das Erbe des revolutionären Gedankens verteidigend, auf   seiner Grundlage neue Kader für die künftigen Massenkämpfe heranzuziehen.
Auf   der anderen trachtet das über die Niederlage erschrockene Denken der   Routiniers, Zentristen und Dilettanten, die Autorität der revolutionären   Tradition zu zerstören, und kehrt unter dem Schein der Suche nach   "Neuem" weit zurück.
Man könnte eine Fülle von   Beispielen ideologischer Reaktion anführen, die übrigens zumeist die   Form der Prostration (Selbsterniedrigung) annimmt. Die gesamte Literatur   der II. und III. Internationale wie ihrer zentristischen Satelliten vom   Londoner Büro besteht im Grunde aus derartigen Beispielen. Nicht die   Spur einer marxistischen Analyse. Nicht ein ernster Versuch, die Ursache   einer Niederlage zu erhellen.
Nicht ein neues, eigenes Wort über die   Zukunft. Nichts als Schablone, Routine, Trug und vor allem Sorge um die   eigene bürokratische Selbsterhaltung. Ein Dutzend Zeilen eines   beliebigen Hilferding oder Otto Bauer genügen einem, um Verwesungsgeruch   zu spüren.
Von den Theoretikern der Komintern ganz zu schweigen.   Der verherrlichte Dimitrow ist unwissend und banal wie ein Krämer in der   Kneipe. Das Denken dieser Leute ist zu faul, um dem Marxismus zu   entsagen: sie prostituieren ihn. Nicht sie interessieren uns jetzt.   Kehren wir zu den "Neuerern" zurück.
Der ehemalige   österreichische Kommunist Willy Schlamm widmete den Moskauer Prozessen   eine Broschüre mit dem sprechenden Titel "Diktatur der Lüge". Schlamm   ist ein begabter Journalist, dessen Interessen hauptsächlich auf   Tagesfragen gerichtet sind. Die Kritik der Moskauer Schwindelprozesse   sowie die Aufdeckung der psychologischen Mechanik der "freiwilligen   Geständnisse" gelingen Schlamm vortrefflich. Doch nicht zufrieden damit,   will er eine neue Theorie des Sozialismus aufstellen, die uns in Zukunft   vor Niederlagen und Schwindel behüten soll.
Da aber Schlamm   durchaus kein Theoretiker und sogar sichtlich mit der   Entwicklungsgeschichte des Sozialismus wenig bekannt ist, so kehrt er   unter dem Anschein einer neuen Offenbarung ganz zum vormarxistischen   Sozialismus zurück, dazu in dessen deutscher, d.h. rückständigster,   süßlichster und widerlichster Art
Schlamm verzichtet auf   die Dialektik, auf den Klassenkampf, von der Diktatur des Proletariats   gar nicht zu reden. Die Aufgabe der Umgestaltung der Gesellschaft läuft   für ihn auf die Verwirklichung einiger "weniger" Moralweisheiten hinaus,   mit denen er die Menschen bereits unter der kapitalistischen Ordnung zu   füttern sich anschickt.
In Kerenskis Zeitung Neues Rußland (ein   altes Provinzblatt, herausgegeben in Paris) wird Willy Schlamms Versuch,   den Sozialismus mit einer Spritze sittlicher Lymphe zu fetten, nicht nur   mit Freude, sondern auch mit Stolz aufgenommen: Dem ganz richtigen   Kommentar der Redaktion zufolge kommt Schlamm zu den Prinzipien des   echt-russischen Sozialismus, der schon längst dem trockenen und   engherzigen Klassenkampf die heiligen Grundsätze des Glaubens, der   Hoffnung und der Liebe entgegenstellte.
Zwar stellte die   Originaldoktrin der russischen "Sozialrevolutionäre" in ihren Prämissen   nur eine Rückkehr zum Sozialismus des vormärzlichen Deutschlands dar. Es   wäre jedoch allzu ungerecht, von Kerenski eine nähere Bekanntschaft mit   der Ideengeschichte zu fordern als von Schlamm. Viel wichtiger ist der   Umstand, daß der mit Schlamm sich solidarisierende Kerenski als   Regierungsoberhaupt der Urheber der Verfolgungen gegen die Bolschewiki   als Agenten des deutschen Generalstabs war, d.h. den gleichen Schwindel   organisierte, gegen den Schlamm heute mottenzerfressene metaphysische   Absolute mobilisiert.
Der psychologische Mechanismus der gedanklichen   Reaktion Schlamms und seinesgleichen ist sehr einfach. Eine gewisse   Zeitlang nahmen diese Leute an einer politischen Bewegung teil, die auf   den Klassenkampf schwor und in Worten an die materialistische Dialektik   appellierte. In Österreich wie in Deutschland endete die Sache mit einer   Katastrophe.
Schlamm zieht eine summarische Schlußfolgerung: Dahin   haben uns Klassenkampf und Dialektik gebracht! Und da die Auswahl der   Offenbarungen durch die geschichtlichen Erfahrungen und … die   persönlichen Kenntnisse beschränkt ist, stößt unser Reformator auf der   Suche nach Neuem auf bereits längst beiseitegeworfenen Trödelkram, den   er tapfer nicht nur dem Bolschewismus, sondern auch dem Marxismus   entgegenstellt.
Auf den ersten Blick erscheint die von Schlamm   vertretene Abart der ideologischen Reaktion allzu primitiv (von Marx …   zu Kerenski), als daß es sich lohnte, dabei zu verweilen. Allein,   tatsächlich ist sie ungemein lehrreich: Gerade dank ihrer Primitivität   bildet sie ein allgemeines Kennzeichen aller anderen Reaktionsformen,   vor allem derjenigen, die sich in dem summarischen Verzicht auf den   Bolschewismus äußert.
Zurück zum Marxismus?
Im   Bolschewismus fand der Marxismus seinen grandiosesten geschichtlichen   Ausdruck. Unter dem Banner des Bolschewismus wurde der erste Sieg des   Proletariats errungen und der erste Arbeiterstaat errichtet. Diese   Tatsachen wird keine Kraft der Welt mehr aus der Geschichte streichen.   Aber da die Oktoberrevolution im gegenwärtigen Stadium zum Triumph der   Bürokratie geführt hat, mit ihrem System der Unterdrückung,   Raubherrschaft und Fälschung – zur "Diktatur der Lüge", wie Schlamm   treffend sagte – so sind viele formale und oberflächliche Geister zu der   summarischen Schlußfolgerung geneigt: Man kann nicht den Stalinismus   bekämpfen, ohne auf den Bolschewismus zu verzichten.
Schlamm   geht, wie wir bereits sagten, noch weiter: Der zum Stalinismus entartete   Bolschewismus ist selbst aus dem Marxismus entstanden – man kann   folglich nicht den Stalinismus bekämpfen und dabei auf den Grundlagen   des Marxismus bleiben. Die weniger Konsequenten, aber Zahlreicheren   sagen hingegen: "Man muß vom Bolschewismus zum Marxismus zurückkehren."   Auf welchem Wege? Zu welchem Marxismus?
Bevor der Marxismus in der   Form des Bolschewismus "bankrott" gemacht hat, erlitt er in der Form der   Sozialdemokratie Schiffbruch. Die Losung "Zurück zum Marxismus" bedeutet   somit einen Sprung über die Epoche der II. und III. Internationale …   zur I. Internationale? Aber auch diese erlitt seinerzeit Schiffbruch. Es   heißt also letzten Endes zurückkehren … zu den gesammelten Schriften   Marx" und Engels" … Diesen heroischen Sprung kann man machen, ohne   sein Arbeitszimmer zu verlassen oder auch nur die Pantoffeln auszuziehen.
Wie   aber dann von unseren Klassikern (Marx starb 1883, Engels 1895) zu den   Aufgaben der neuen Epoche gelangen und dabei einige Jahrzehnte   theoretischen und politischen Kampfes umgehen, darunter den   Bolschewismus und die Oktoberrevolution? Niemand von denen, die Verzicht   auf den Bolschewismus als eine historisch "bankrotte" Strömung   vorschlagen, hat neue Wege gewiesen.
Die Sache läuft somit auf einen   einfachen Ratschlag hinaus, das Kapital zu studieren. Dagegen ist nichts   einzuwenden. Aber das Kapital haben auch die Bolschewiki studiert und   dabei gar nicht schlecht. Das hat jedoch die Entartung des Sowjetstaates   und die Inszenierung der Moskauer Prozesse nicht verhindert.
Ist der Bolschewismus für den Stalinismus verantwortlich?
Ist es   jedoch wahr, daß der Stalinismus ein gesetzmäßiges Produkt des   Bolschewismus ist, wie es die gesamte Reaktion annimmt, wie es Stalin   selbst behauptet und wie es die Menschewiki, Anarchisten und gewisse   linke Doktrinäre, die sich für Marxisten halten, meinen?
"Wir   haben ja immer gesagt", sprechen sie, "seit dem Verbot der anderen   sozialistischen Parteien, der Unterdrückung der Anarchisten, seit der   Aufrichtung der Bolschewikidiktatur in den Sowjets konnte die   Oktoberrevolution zu nichts anderem als zur Diktatur der Bürokratie   führen. Der Stalinismus ist die Fortsetzung und zugleich der Bankrott   des Leninismus."
Der Fehler dieser Argumentation beginnt bei der   stillschweigenden Gleichsetzung von Bolschewismus, Oktoberrevolution und   Sowjetunion. Der historische Prozeß, der im Kampf feindlicher Kräfte   besteht, wird hier durch eine Entwicklung des Bolschewismus im   luftleeren Raum ersetzt.
Indes ist der Bolschewismus nur eine   politische Strömung, die zwar eng mit der Arbeiterklasse verknüpft, aber   nicht mit ihr identisch ist. Aber außer der Arbeiterklasse existieren in   der UdSSR über hundert Millionen Bauern, verschiedenartigste   Völkerschaften, ein Erbe von Unterdrückung, Armut und Unbildung.
Der   von den Bolschewiki errichtete Staat spiegelt nicht nur das Denken und   Wollen der Bolschewiki wider, sondern auch das Kulturniveau des Landes,   die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, den Druck der barbarischen   Vergangenheit und des nicht weniger barbarischen Weltimperialismus.
Den   Entartungsprozeß des Sowjetstaats als eine Evolution des reinen   Bolschewismus darstellen, heißt, die soziale Wirklichkeit ignorieren   namens eines einzigen durch die reine Logik von ihr abgesonderten   Elementes.
Es genügt eigentlich, diesen elementaren Fehler beim Namen   zu nennen, damit von ihm keine Spur mehr übrigbleibt. Der Bolschewismus   selbst jedenfalls identifizierte sich nie mit der Oktoberrevolution noch   mit dem aus ihr hervorgegangenen Sowjetstaat
Der Bolschewismus   betrachtet sich als einen Faktor der Geschichte, ihren "bewußten" Faktor   – einen sehr bedeutenden, aber nicht entscheidenden – "historischen   Subjektivismus" haben wir uns nie schuldig gemacht. Den entscheidenden   Faktor auf dem gegebenen Fundament der Produktivkräfte sahen wir im   Klassenkampf, dabei nicht bloß im nationalen, sondern im internationalen   Maßstab.
Als die Bolschewiki an die Besitzertendenzen der Bauern   Zugeständnisse machten, strenge Regeln für die Aufnahme in die Partei   aufstellten, diese Partei von fremden Elementen säuberten, andere   Parteien verboten, die NEP (Neue Ökonomische Politik) einführten, zu   Übergabe von Betrieben in Konzessionen Zuflucht nahmen oder   diplomatische Abkommen mit imperialistischen Regierungen trafen, zogen   sie – die Bolschewiki – Teilschlüsse aus der Grundtatsache, die ihnen   von Anfang an klar war, nämlich daß die Machteroberung, so wichtig sie   an sich auch ist, die Partei durchaus nicht zum allmächtigen Herrn des   historischen Prozesses machte.
Mit der Herrschaft über den Staat   besitzt die Partei allerdings die Möglichkeit, mit einer ihr bis dahin   nicht zugänglichen Kraft auf die Entwicklung der Gesellschaft   einzuwirken, dafür aber unterliegt sie auch selbst einer verzehnfachten   Einwirkung von Seiten aller übrigen Elemente dieser Gesellschaft.
Durch   die direkten Schläge der feindlichen Kräfte kann sie von der Macht   hinweggefegt werden. Bei langwierigen Entwicklungstempi kann sie, sich   an der Macht haltend, innerlich entarten. Gerade diese Dialektik des   historischen Prozesses verstehen die sektiererischen Räsonneure nicht,   die in der Fäulnis der Stalinbürokratie ein vernichtendes Argument gegen   den Bolschewismus finden wollen.
Im Grunde sagen diese Herren:   Schlecht ist die revolutionäre Partei, die nicht in sich die Garantie   gegen ihre eigene Entartung enthält. Angesichts eines derartigen   Kriteriums ist der Bolschewismus natürlich gerichtet: Einen Talisman hat   er nicht. Doch dieses Kriterium ist eben falsch.
Das   wissenschaftliche Denken verlangt eine konkrete Analyse: Wie und warum   zersetzte sich die Partei? Niemand außer den Bolschewiki selbst hat   bisher eine solche Analyse gegeben. Diese aber brauchten deswegen nicht   mit dem Bolschewismus zu brechen.
Im Gegenteil, in ihrem Arsenal   fanden sie alles Notwendige, um sein Schicksal zu erklären. Die   Schlußfolgerung, zu der sie gelangten, lautete: Natürlich ist der   Stalinismus aus dem Bolschewismus "erwachsen", aber nicht logisch   erwachsen, sondern dialektisch: nicht als revolutionäre Bejahung,   sondern als thermidorianische Verneinung. Das ist durchaus nicht ein und   dasselbe.
Die Grundprognose des Bolschewismus
Allein, die   Bolschewiki mußten nicht erst die Moskauer Prozesse abwarten, um   nachträglich die Ursachen für die Zersetzung der herrschenden Partei der   UdSSR zu erklären. Sie sahen lange vorher die theoretische Möglichkeit   einer solchen Entwicklungsvariante und sprachen beizeiten davon.
Erinnern   wir uns an die Prognose, die die Bolschewiki nicht nur am Vorabend der   Oktoberrevolution, sondern schon einige Jahre vorher aufstellten. Die   besondere Kräftegruppierung im nationalen und internationalen Maßstab   führt dazu, daß das Proletariat in einem so rückständigen Land wie   Rußland zuerst an die Macht gelangen kann.
Doch eben diese   Kräftegruppierung läßt auch im voraus erkennen, daß ohne einen mehr oder   weniger baldigen Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern   ein Arbeiterstaat in Rußland nicht standhalten wird. Das auf sich   angewiesene Sowjetregime wird zerfallen oder entarten, genauer: zuerst   entarten, und dann zerfallen.
Ich persönlich habe mehr als einmal   darüber geschrieben, bereits seit 1905. In meiner Geschichte der   russischen Revolution (siehe den Anhang zum zweiten Band: "Sozialismus   in einem Lande?") sind diesbezügliche Aussagen der Führer des   Bolschewismus von 1917 bis 1923 gesammelt.
Alle laufen auf eines   hinaus: Ohne Revolution im Westen wird der Bolschewismus liquidiert   werden, entweder von der inneren Konterrevolution oder durch   Intervention von außen, oder durch beides zusammen.
Lenin   insbesondere hat oft darauf hingewiesen, daß die Bürokratisierung des   Sowjetregimes keine technische oder organisatorische Frage ist, sondern   der mögliche Beginn einer sozialen Entartung des Arbeiterstaates.
Auf   dem XI. Parteikongreß vom März 1922 sprach Lenin über die   "Unterstützung", welche gewisse bürgerliche Politiker im besonderen der   liberale Professor Ustraljew, seit der Zeit der NEP Sowjetrußland   angedeihen zu lassen beschlossen. "Ich bin für die Unterstützung der   Sowjetmacht in Rußland", sagt Ustraljew, "weil sie den Weg betreten hat,   der sie zu einer gewöhnlichen bürgerlichen Macht hinführen wird."
Die   zynische Stimme des Feindes zieht Lenin dem "süßlichen kommunistischen   Geschwätz" vor. Mit strenger Nüchternheit warnt er die Partei vor der   Gefahr: Alle Dinge, von denen Ustraljew spricht, sind möglich. Das muß   man klar sagen. Die Geschichte kennt Wendungen aller Arten: Sich auf   Überzeugung, Ergebenheit und andere vorzügliche Seeleneigenschaften zu   verlassen, ist in der Politik durchaus keine ernste Sache.
Die   vorzüglichen Eigenschaften haben eine kleine Anzahl von Leuten, aber das   historische Endergebnis bestimmen die gigantischen Massen, die, wenn die   geringe Anzahl Leute ihnen nicht entgegenkommt, zuweilen mit dieser   geringen Anzahl Leute nicht allzu höflich verfahren. Mit einem Wort: Die   Partei ist nicht der einzige Entwicklungsfaktor und, in großen   geschichtlichen Maßstäben, nicht der entscheidende.
"Es   kommt vor, daß ein Volk ein anderes Volk besiegt", fuhr Lenin auf   demselben Kongreß fort – dem letzten, der mit seiner Teilnahme stattfand   –, "…das ist sehr einfach und allen verständlich. Aber was geschieht   mit der Kultur der Völker? Das ist nicht so einfach. Ist das Siegervolk   dem besiegten Volk kulturell überlegen, so zwingt es ihm seine Kultur   auf, ist es aber umgekehrt, so pflegt der Besiegte dem Sieger seine   Kultur aufzuzwingen.
Ist nicht etwas ähnliches in der Hauptstadt der   RSFSR geschehen! Und ergab es sich nicht dort, daß 4.700 Kommunisten   (fast eine ganze Division, und die allerbesten von allen) der fremden   Kultur unterlagen?"
Das wurde Anfang 1922 gesagt, und zwar nicht   zum ersten Mal. Die Geschichte wird nicht von wenigen, wenn auch   "allerbesten" Menschen gemacht; noch weniger: diese "besten" können im   Geiste der "fremden", d.h. der bürgerlichen Kultur entarten. Nicht nur   kann der Sowjetstaat vom sozialistischen Wege abgehen, sondern auch die   bolschewistische Partei unter ungünstigen historischen Bedingungen ihren   Bolschewismus einbüßen.
Aus dem deutlichen Verständnis   dieser Gefahr entstand die Linke Opposition, die sich endgültig im Jahre   1923 bildete. Tagaus, tagein die Entartungssymptome registrierend,   trachtete sie, dem heranrückenden Thermidor den bewußten Willen der   proletarischen Avantgarde gegenüberzustellen. Allein, dieser subjektive   Faktor erwies sich als unzureichend.
Die "gigantischen Massen", die   nach Lenin den Ausgang des Kampfes entscheiden, wurden der inneren   Entbehrungen und des zu langen Wartens auf die Weltrevolution müde. Die   Massen verloren den Mut. Die Bürokratie bekam die Oberhand. Sie   schüchterte die proletarische Avantgarde ein, trat den Marxismus mit   Füßen, prostituierte die bolschewistische Partei. Der Stalinismus   siegte. In Gestalt der Linken Opposition brach der Bolschewismus mit der   Sowjetbürokratie und ihrer Komintern. Das ist der wirkliche Gang der   Entwicklung.
Freilich, im formellen Sinne ist der Stalinismus aus dem   Bolschewismus hervorgegangen. Die Moskauer Bürokratie fährt auch heute   noch fort, sich Bolschewistische Partei zu nennen. Sie benutzt einfach   die alte Banderole, um besser die Massen zu betrügen. Um so kläglicher   sind die Theoretiker, die die Schale für den Kern und den Schein für das   Wesen nehmen. Indem sie Stalinismus und Bolschewismus gleichsetzen,   leisten sie den Thermidorianern den besten Dienst und spielen somit eine   klare reaktionäre Rolle.
Bei der Entfernung aller anderen   Parteien vom politischen Schauplatz müssen die entgegengesetzten   Interessen und Tendenzen der verschiedenen Bevölkerungsschichten in dem   einen oder anderen Grade in der herrschenden Partei zum Ausdruck kommen.   In dem Maße, wie der politische Schwerpunkt sich von der proletarischen   Avantgarde zur Bürokratie verschob, wandelte sich die Partei sowohl der   sozialen Zusammensetzung wie auch der Ideologie nach.
Infolge des   ungestümen Verlaufs der Entwicklung erlitt sie in den letzten fünfzehn   Jahren eine sehr viel radikalere Entartung, als die Sozialdemokratie   während eines halben Jahrhunderts. Die heutige "Säuberung" zieht   zwischen Bolschewismus und Stalinismus nicht nur einen blutigen Strich,   sondern einen ganzen Strom von Blut.
Die Ausrottung der gesamten   alten Generation der Bolschewiki, eines erheblichen Teils der mittleren   Generation, die am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, und jenes Teils der   Jugend, der die bolschewistischen Traditionen am ernstesten aufnahm,   beweist nicht nur die politische, sondern durch und durch physische   Unvereinbarkeit des Stalinismus und des Bolschewismus. Wie kann man das   nicht sehen?
Stalinismus oder "Staatssozialismus"?
Die   Anarchisten ihrerseits wollen im Stalinismus ein organisches Produkt   nicht nur des Bolschewismus und des Marxismus, sondern des   "Staatssozialismus" überhaupt sehen. Sie sind einverstanden, die   patriarchalische, bakuninsche "Föderation der freien Gemeinden" durch   eine zeitgemäßere "Föderation der freien Räte" zu ersetzen. Aber sie   sind nach wie vor gegen den zentralisierten Staat.
In der Tat: der   eine Zweig des "staatlichen" Marxismus, die Sozialdemokratie, wurde, als   sie an die Macht kam, eine offene Agentur des Kapitals. Der andere   erzeugte eine neue privilegierte Kaste. Es ist klar: Die Quelle des   Übels liegt im Staate.
Unter einem breiten historischen   Gesichtswinkel kann man in dieser Überlegung ein Korn Wahrheit finden.   Der Staat als Zwangsapparat ist zweifellos eine Quelle politischer und   moralischer Verseuchung. Das gilt, wie die Erfahrung zeigt, auch für den   Arbeiterstaat.
Man kann folglich sagen, der Stalinismus ist das   Produkt eines Zustandes der Gesellschaft, wo diese es noch nicht   vermochte, die Zwangsjacke des Staates abzustreifen. Doch diese These,   die zur Beurteilung des Bolschewismus oder des Marxismus nichts liefert,   kennzeichnet nur den allgemeinen Kulturstand der Menschheit und vor   allem das Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie.
Nachdem   wir uns mit den Anarchisten darüber geeinigt haben, daß der Staat, sogar   der Arbeiterstaat, ein Erzeugnis der Klassenbarbarei ist, und daß die   wahre menschliche Geschichte mit der Abschaffung des Staates beginnen   wird, erhebt sich vor uns in all ihrer Macht die Frage: Welche Wege und   Methoden sind imstande, letzten Endes zur Abschaffung .des Staates zu   führen? Die jüngste Erfahrung bezeugt, daß es jedenfalls nicht die   Methoden des Anarchismus sind.
Die Führer des spanischen   Arbeiterbundes (CNT), der einzigen bedeutenden anarchistischen   Organisation auf der Erde, wurden in der kritischen Stunde bürgerliche   Minister. Ihren offenen Verrat an der Theorie des Anarchismus erklärten   sie mit dem Druck "außerordentlicher Umstände".
Aber   hatten nicht seinerzeit die Führer der deutschen Sozialdemokratie   dasselbe Argument angeführt? Natürlich, der Bürgerkrieg ist kein   friedlicher, kein gewöhnlicher, sondern ein "außerordentlicher Umstand".   Doch gerade auf diese "außerordentlichen Umstände" bereitet sich jede   ernsthafte revolutionäre Organisation vor.
Die Erfahrung   Spaniens bewies nochmals, daß man in unter "normalen Umständen"   herausgegebenen Büchern den Staat "verneinen" kann, daß aber die   Bedingungen der Revolution keinen Raum für die "Verneinung" des Staates   lassen, sondern im Gegenteil die Eroberung des Staates verlangen.
Wir   gedenken den spanischen Anarchisten durchaus nicht vorzuwerfen, nicht   mit einem Federstrich den Staat liquidiert zu haben. Die revolutionäre   Partei ist, selbst wenn sie die Macht erobert hat (wozu die spanischen   Anarchistenführer trotz des Heldentums der anarchistischen Arbeiter   nicht imstande waren) durchaus noch nicht der allmächtige Herr der   Gesellschaft.
Doch um so unerbittlicher klagen wir die anarchistische   Theorie an, die für friedliche Zeiten ganz tauglich schien, aber auf die   man verzichten muß, sobald die "außerordentlichen Umstände" … der   Revolution eintreten. In der alten Zeit begegnete man Generälen –   wahrscheinlich begegnet man ihnen heute auch noch – die meinten, am   schädlichsten für die Armee sei der Krieg. Kaum besser sind die   "Revolutionäre", die da klagen, die Revolution zerstöre ihre Doktrin.
Die   Marxisten sind sich mit den Anarchisten bezüglich des Endzieles, der   Liquidierung des Staates, vollkommen einig. Der Marxismus bleibt   "staatlich" nur, soweit die Liquidierung des Staates nicht vermittels   der einfachen Ignorierung des Staates erreicht werden kann.
Die   Erfahrung des Stalinismus widerlegt nicht die Lehre des Marxismus,   sondern bestätigt sie auf umgekehrte Weise. Die revolutionäre Doktrin,   die das Proletariat lehrt, sich in einer Lage richtig zu orientieren und   sie aktiv auszunutzen, enthält selbstverständlich keine automatische   Siegesgarantie. Doch dafür ist der Sieg nur mit Hilfe dieser Doktrin   möglich. Diesen Sieg darf man sich außerdem nicht als einmaligen Akt   vorstellen.
Es gilt, die Frage in der Perspektive einer großen Epoche   zu fassen. Der erste Arbeiterstaat auf niedriger wirtschaftlicher   Grundlage und vom Imperialismus umzingelt – verwandelt sich in die   Gendarmerie des Stalinismus. Doch der wirkliche Bolschewismus erklärte   dieser Gendarmerie den Kampf auf Leben und Tod.
Um sich zu halten,   ist der Stalinismus gezwungen, heute geradezu einen Bürgerkrieg gegen   den Bolschewismus unter dem Namen des "Trotzkismus" zu führen, nicht nur   in der UdSSR, sondern auch in Spanien. Die alte Bolschewistische Partei   ist tot, aber der Bolschewismus erhebt überall seinen Kopf.
Den   Stalinismus aus dem Bolschewismus oder aus dem Marxismus abzuleiten, ist   ganz dasselbe, wie, im breiteren Sinne, die Konterrevolution aus der   Revolution abzuleiten. Nach dieser Schablone bewegte sich stets das   liberalkonservative und später das reformistische Denken. Die Revolution   hat, kraft der Klassenstruktur der Gesellschaft, stets die   Konterrevolution erzeugt.
Beweist das nicht, fragt der Pharisäer, daß   die revolutionäre Methode irgend einen inneren Fehler hat? Weder die   liberalen noch die Reformisten haben jedoch bisher "ökonomischere"   Methoden zu entdecken verstanden.
Aber wenn es auch nicht leicht ist,   Die Wirklichkeit des lebendigen historischen Prozesses zu verstehen, so   ist es dagegen nicht schwer, den Wechsel seiner Wellen rationalistisch   zu deuten, logisch den Stalinismus aus dem "Staatssozialismus", den   Faschismus aus dem Marxismus, die Reaktion aus der Revolution, mit einem   Wort, die Antithese aus der These herzuleiten. Auf diesem Gebiet, wie   auf vielen anderen, ist das anarchistische Denken der Gefangene des   liberalen Rationalismus. Das echte revolutionäre Denken ist unmöglich   ohne Dialektik.
Die politischen "Sünden" des Bolschewismus als Quelle des Stalinismus
Die Argumentation der Rationalisten nimmt   zuweilen, wenigstens äußerlich, konkreteren Charakter an. Den   Stalinismus leiten sie nicht aus dem Bolschewismus in seiner Gesamtheit,   sondern aus seinen politischen Sünden ab. (Einer der deutlichsten   Vertreter dieses Typus des Denkens ist der französische Autor eines   Buches über Stalin, B. Souvarine.) Von den Tatsachen und Dokumenten her   stellen Souvarines Arbeiten eine lange, gewissenhafte Forschung dar.
Jedoch   die Geschichtsphilosophie des Verfassers überrascht durch ihre   Vulgarität. Zwecks Erläuterung allen folgenden historischen Unheils   sucht er nach dem Bolschewismus innewohnenden Fehlern. Der Einfluß der   realen Bedingungen des geschichtlichen Prozesses auf den Bolschewismus   existiert für ihn nicht. (Selbst H. Taine mit seiner Theorie des   "Milieu" stand Marx näher als Souvarine.) Die Bolschewiki – sagen uns   Gorter, Pannekoek, einige deutsche "Spartakisten" usw. – vertauschen die   Diktatur des Proletariats gegen die Diktatur der Partei, Stalin   vertauschte die Diktatur der Partei gegen die Diktatur der Bürokratie.   Die Bolschewiki vernichteten alle Parteien außer ihrer eigenen, Stalin   erstickte die bolschewistische Partei im Interesse der bonapartistischen   Clique.
Die Bolschewiki anerkannten die Notwendigkeit, an den alten   Gewerkschaften und am bürgerlichen Parlament teilzunehmen. Stalin   befreundete sich mit der Gewerkschaftsbürokratie und mit der   bürgerlichen Demokratie. Derlei Gegenüberstellungen kann man nun   anführen, so viel man will. Trotz ihrer äußerlichen Schlagkraft sind sie   vollkommen leer.
Das Proletariat kann nicht anders an die Macht   gelangen, als in der Person seiner Avantgarde. Schon die Notwendigkeit   einer Staatsmacht entspringt dem ungenügenden Kulturniveau der Massen   und ihrer Verschiedenartigkeit. In der zur Partei organisierten   revolutionären Avantgarde kristallisiert sich das Freiheitsstreben der   Massen. Ohne Vertrauen der Klasse zur Avantgarde, ohne Unterstützung der   Avantgarde durch die Klasse kann von Machteroberung keine Rede sein. In   diesem Sinne sind die proletarische Revolution und die Diktatur Sache   der gesamten Klasse, aber nicht anders als unter der Führung der   Avantgarde. Die Sowjets sind nur die organisierte Form der Verbindung   zwischen Avantgarde und Klasse. Dieser Form einen revolutionären Inhalt   geben kann nur die Partei. Das ist durch die positive Erfahrung der   Oktoberrevolution und durch die negative Erfahrung anderer Länder   (Deutschland, Österreich, schließlich Spanien) bewiesen.
Niemand   hat praktisch gezeigt oder auch nur versucht, auf dem Papier zu   erklären, wie das Proletariat ohne politische Führung durch die Partei,   die weiß, was sie will, die Macht erobern könne. Wenn diese Partei die   Sowjets politisch ihrer Führung unterwirft, so ändert diese Tatsache an   sich ebensowenig am Sowjetsystem wie die Herrschaft der konservativen   Mehrheit am System des britischen Parlamentarismus.
Was das Verbot   der anderen Sowjetparteien betrifft, so entsprang es jedenfalls nicht   der Theorie des Bolschewismus, sondern war eine Maßnahme zum Schutz der   Diktatur in einem rückständigen und erschöpften, von allen Seiten von   Feinden umgebenen Land. Den Bolschewiki war von Anfang an klar, daß   diese Maßnahme, die später durch das Verbot von Fraktionen innerhalb der   herrschenden Partei selbst ergänzt wurde, eine gewaltige Gefahr   ankündigte. Jedoch die Quelle der Gefahr lag nicht in der Doktrin oder   Taktik, sondern in der materiellen Schwäche der Diktatur, in der   Schwierigkeit der inneren und der Weltlage. Hätte die Revolution auch   nur in Deutschland gesiegt, das Erfordernis, die anderen Sowjetparteien   zu verbieten, wäre sofort hinfällig geworden. Daß die Herrschaft einer   einzigen Partei juristisch zum Ausgangspunkt für das stalinistische   totalitäre System diente, ist ganz unbestreitbar. Aber die Ursache   dieser Entwicklung liegt nicht im Verbot der anderen Parteien als einer   zeitweiligen Kriegsmaßnahme, sondern in der Niederlagenreihe des   Proletariats in Europa und Asien.
Dasselbe gilt für den Kampf gegen   den Anarchismus. In der heroischen Epoche der Revolution marschierten   die Bolschewiki mit den wirklich revolutionären Anarchisten Arm in Arm.   Der Verfasser dieser Zeilen erörterte häufig mit Lenin die Frage, ob es   nicht möglich sei, den Anarchisten gewisse Gebietsteile zu überlassen,   damit sie im Einverständnis mit der betreffenden Bevölkerung mit ihrer   Staatslosigkeit die Probe aufs Exempel machen. Doch die Bedingungen des   Bürgerkriegs, der Blockade und des Hungers ließen keinen Raum für   derartige Pläne.
Der Kronstädter Aufstand? Aber die   revolutionäre Regierung konnte selbstverständlich nicht den   aufständischen Matrosen eine die Hauptstadt beschirmende Festung   "schenken", nur weil der reaktionären Bauern- und Soldatenmeuterei sich   einige fragwürdige Anarchisten angeschlossen hatten. Die konkrete   historische Analyse der Ereignisse läßt keinen heilen Fleck an den   Legenden, die Unwissenheit und Sentimentalität um Kronstadt, Machno und   andere Episoden der Revolution geflochten haben.
Es bleibt nur die   Tatsache, daß die Bolschewiki von Anfang an nicht nur Überzeugung,   sondern auch Zwang anwandten, häufig von der schärfsten Art.   Unbestreitbar ist auch, daß die aus der Revolution erwachsene Bürokratie   darin ein Zwangssystem in ihren Händen monopolisierte. Jede   Entwicklungsetappe, selbst wenn es sich um so katastrophenartige Etappen   handelte wie Revolution und Konterrevolution, ergibt sich aus der   vorhergehenden Etappe. wurzelt in ihr und trägt davon gewisse Züge.
Die   Liberalen, einschließlich des Paares Webb, behaupten stets, die   bolschewistische Diktatur steIle nur eine Neuausgabe des Zarismus dar.   Sie verschlossen dabei die Augen vor solchen Kleinigkeiten wie der   Abschaffung der Monarchie und der Stände, der Übergabe des Bodens an die   Bauern, der Enteignung des Kapitals, der Einführung der Planwirtschaft,   der atheistischen Erziehung usw.
Ganz ebenso verschließt das   liberal-anarchistische Denken die Augen davor, daß die bolschewistische   Revolution mit all ihren Unterdrückungsmaßnamen eine Umwälzung der   sozialen Verhältnisse im Interesse der Massen bedeutete, während Stalins   thermidorianische Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse einer   privilegierten Minderheit geschieht. Es ist klar, daß in den   Gleichsetzungen des Stalinismus mit dem Bolschewismus nicht die Spur   eines sozialistischen Kriteriums enthalten ist.
Fragen der Theorie
Einer   der wichtigsten Züge des Bolschewismus ist sein strenges und   anspruchsvolles, ja kämpferisches Verhalten zu Fragen der Doktrin.   Lenins 26 Bände werden auf immerdar ein Muster höchster theoretischer   Gewissenhaftigkeit bleiben. Ohne diese seine Grundeigenschaft würde der   Bolschewismus nie seine historische Rolle erfüllt haben.
Das   direkte Gegenteil davon ist auch in dieser Beziehung der grobe und   ungebildete, durch und durch empirische Stalinismus. Bereits vor mehr   als zehn Jahren erklärte die Opposition in ihrer Plattform: "Seit Lenins   Tod wurde eine ganze Reihe neuer Theorien geschaffen, deren einziger   Sinn ist, theoretisch das Abgleiten der Stalingruppe vom Wege der   internationalen proletarischen Revolution zu rechtfertigen."
Vor   einigen Tagen erst schrieb der amerikanische Sozialist Liston M. Oak,   der an der spanischen Revolution teilgenommen hat: "In Wirklichkeit sind   die Stalinisten jetzt die äußersten Revisionisten Marx und Lenins –   Bernstein hat auch nicht halb so weit zu gehen gewagt wie Stalin in der   Revision von Marx."
Das ist ganz richtig. Man muß nur   hinzufügen, daß Bernstein wirklich theoretische Bedürfnisse hatte: Er   versuchte redlich, die reformistische Praxis der Sozialdemokratie mit   ihrem Programm in Einklang zu bringen. Die Stalinbürokratie aber hat   nicht nur nichts mit dem Marxismus gemein, sondern ihr ist überhaupt   jegliche Doktrin oder jegliches System fremd.
Ihre "Ideologie" ist   ganz und gar von einem Polizeisubjektivismus durchdrungen, ihre Praxis   vom Empirismus der nackten Gewalt. Dem eigentlichen Wesen ihrer   Interessen gemäß ist die Usurpatorenkaste ein Feind der Theorie. Sie   kann weder vor sich noch anderen ihre soziale Rolle verantworten. Stalin   revidiert Marx und Lenin nicht mit der Feder der Theoretiker, sondern   mit den Stiefeln der GPU.
Fragen der Moral
Über die   "Amoral" des Bolschewismus beschweren sich gewöhnlich besonders die   hochnäsigen Nullitäten, denen der Bolschewismus die billigen Masken   abgerissen hat. Kleinbürger, Intellektuelle, demokratische,   "sozialistische", literarische, parlamentarische und andere Kreise haben   ihre konventionelle Werte oder ihre konventionelle Sprache zwecks   Verbergung des Fehlens jeglicher Werte.
Diese breite und   buntscheckige Gesellschaft für gegenseitiges Inschutznehmen – "leben und   leben lassen!" – verträgt ganz und gar nicht die Berührung der   marxistischen Lanzette auf ihrer empfindlichen Haut. Die zwischen den   verschiedenen Lagern hin- und herpendelnden Theoretiker, Schriftsteller   und Moralisten waren und sind der Meinung, daß die Bolschewiki   absichtlich die Meinungsverschiedenheiten übertreiben, zu loyaler   Zusammenarbeit außerstande sind und durch ihre Intrigen die Einheit der   Arbeiterbewegung stören.
Dem empfindlichen und übelnehmenden   Zentristen schien es vor allem immer, daß die Bolschewiki ihn   "verleumden" – nur weil sie seine eigenen halben Gedanken bis zu Ende   führten: Er selbst ist dazu ganz unfähig. Indessen ist nur diese   kostbare Eigenschaft, nämlich Unduldsamkeit gegen jede Halbheit und   jedes Ausweichen imstande, die revolutionäre Partei zu erziehen, die   sich von keinen "außerordentlichen" Umständen überrumpeln läßt.
Die   Moral einer jeden Partei entspringt letzten Endes aus den historischen   Interessen, die sie vertritt. Die Moral des Bolschewismus, die   Selbstverleugnung, Uneigennutz, Mut, Verachtung für allen Flitter und   Trug – die besten Eigenschaften der menschlichen Natur! – enthält,   entspringt aus der revolutionären Unversöhnlichkeit im Dienste der   Unterdrückten. Die Stalinbürokratie imitiert auch auf diesem Gebiet die   Worte und Gesten des Bolschewismus.
Wo aber "Unversöhnlichkeit" und   "Unbeugsamkeit" mit dem Polizeiapparat verwirklicht werden, der im   Dienste einer privilegierten Minderheit steht, dort werden sie zu einer   Quelle der Demoralisierung und des Gangsterismus. Nicht anders als mit   Verachtung kann man die Herren behandeln, die den revolutionären   Heroismus der Bolschewiki mit dem bürokratischen Zynismus der   Thermidorianer gleichsetzen.
Und auch heute noch zieht es, trotz der   dramatischen Tatsachen der letzten Periode, der Durchschnittsspießer vor   zu meinen, im Kampfe zwischen dem Bolschewismus ("Trotzkismus") und dem   Stalinismus handle es sich um Zusammenstöße persönlicher Ambitionen oder   bestenfalls um den Kampf zweier "Schattierungen" des Bolschewismus.
Den   gröbsten Ausdruck verlieh dieser Ansicht Norman Thomas, der Führer der   amerikanischen sozialistischen Partei. "Es gibt wenig Grund, zu   glauben", schreibt er (Socialist Review, Sept. 1937, S.6), "daß wenn   Trotzki statt Stalin gewonnen (!) hätte, es mit den Intrigen,   Verschwörungen und dem Schreckensregime in Rußland zu Ende wäre." Und   dieser Mensch hält sich für einen Marxisten.
Mit demselben   Recht könnte man sagen: "Es gibt wenig Grund, zu glauben, daß, wenn   statt Pius, der XI., Norman der I., auf den römischen Stuhl erhoben   worden wäre, die katholische Kirche sich in ein Bollwerk des Sozialismus   verwandelt haben würde." Thomas begreift nicht, daß es sich nicht um ein   Match zwischen Stalin und Trotzki, sondern um den Antagonismus zwischen   Bürokratie und Proletariat handelt.
Allerdings ist in der UdSSR   die herrschende Schicht auch heute noch gezwungen, sich dem nicht   vollkommen liquidierten Erbe der Revolution anzupassen, dabei   gleichzeitig durch direkten Bürgerkrieg (blutige Säuberungen,   Massenausrottungen der Unzufriedenen) einen Wechsel des sozialen Regimes   vorbereitend. Aber in Spanien tritt die Stalinclique bereits heute offen   als Schutzwehr der bürgerlichen Ordnung gegen den Sozialismus auf. Der   Kampf gegen die bonapartistische Bürokratie verwandelt sich vor unseren   Augen in Klassenkampf: zwei Welten, zwei Programme, zweierlei Moral.
Wenn   Thomas glaubt, der Sieg des sozialistischen Proletariats über die   niederträchtige Vergewaltigerkaste werde das Sowjetregime nicht   politisch und moralisch regenerieren, so zeigt er damit nur, daß er   trotz all seinen Vorbehalten, Schweifwedeleien und frommen Seufzern der   Stalinbürokratie viel näher steht als den Arbeitern. Wie alle anderen,   die den Bolschewismus der "Amoral" zeihen, hat sich Thomas einfach nicht   bis zur revolutionären Moral erhoben.
Die Tradition des Bolschewismus und die Vierte Internationale
Für die "Linken", die   den Versuch machten, zum Marxismus unter Umgehung des Bolschewismus   "zurückzukehren", lief die Sache gewöhnlich auf einzelne Allheilmittel   hinaus: Boykott der alten Gewerkschaften, Boykott des Parlaments,   Schaffung "echter" Sowjets. All das konnte im Fieber der ersten Tage   nach dem Krieg außerordentlich tief erscheinen. Aber heute, im Lichte   der gemachten Erfahrung, haben diese Kinderkrankheiten sogar als Kuriose   ihr Interesse verloren.
Die Holländer Gorter und Pannekoek, einige   deutsche "Spartakisten", die italienischen Bordigisten erklärten sich   unabhängig vorn Bolschewismus nur, weil sie einen seiner Züge künstlich   übertrieben seinen anderen Zügen gegenüberstellten. Von diesen "linken"   Tendenzen blieb nichts übrig, weder praktisch noch theoretisch: ein   indirekter, aber wichtiger Beweis dafür, daß der Bolschewismus für   unsere Epoche die einzige Form des Marxismus ist.
Die   bolschewistische Partei bewies in der Tat eine Paarung höchster   revolutionärer Kühnheit mit politischem Realismus. Sie stellte zum   erstenmal das Verhältnis zwischen Avantgarde und Klasse her, das allein   den Sieg zu sichern vermag. Sie zeigte in der Erfahrung, daß das Bündnis   des Proletariats mit den unterdrückten Massen des ländlichen und   städtischen Kleinbürgertums nur möglich ist durch den politischen Sturz   der traditionellen Parteien des Kleinbürgertums. Die bolschewistische   Partei zeigte der gesamten Welt, wie man einen bewaffneten Aufstand   durchführt und die Macht ergreift.
Die da der Parteidiktatur   eine Abstraktion von Sowjets gegenüberstellen, sollten begreifen, daß   die Sowjets nur dank der Führung der Bolschewiki sich aus dem   reformistischen Sumpf auf das Niveau einer Staatsform des Proletariats   erhoben. Die bolschewistische Partei verwirklichte eine richtige Paarung   der Kriegskunst mit marxistischer Politik im Bürgerkrieg.
Selbst   wenn es der Stalinbürokratie gelänge, die wirtschaftlichen Grundlagen   der neuen Gesellschaft zu zerstören, die unter Führung der   bolschewistischen Partei gemachte Planwirtschaftserfahrung wird für   immer in die Geschichte eingehen als eine der größten Schulen für die   gesamte Menschheit. All das können nur Sektierer nicht sehen, die,   gekränkt über die erhaltenen blauen Flecke, dem historischen Prozeß den   Rücken kehren.
Doch das ist nicht alles. Die bolschewistische   Partei konnte ein so grandioses "praktisches" Werk nur deshalb leisten,   weil sie jeden ihrer Schritte mit der Theorie beleuchtete. Der   Bolschewismus hat diese nicht geschaffen. Der Marxismus gab sie. Aber   der Marxismus ist eine Theorie der Bewegung, nicht des Stillstands. Nur   Aktionen grandiosen geschichtlichen Ausmaßes konnten die Theorie selbst   bereichern.
Der Bolschewismus lieferte einen wertvollen Beitrag zum   Marxismus durch seine Analyse der imperialistischen Epoche als einer   Epoche von Kriegen und Revolutionen; der bürgerlichen Demokratie in der   Epoche des faulenden Kapitalismus; des Verhältnisses zwischen   Generalstreik und Aufstand; der Rolle der Partei, der Sowjets und der   Gewerkschaften in der Epoche der proletarischen Revolution; durch seine   Theorie des Sowjetstaates, der Übergangswirtschaft, des Faschismus und   Bonapartismus in der Epoche des kapitalistischen Verfalls; schließlich   durch die Analyse der Bedingungen für die Entartung der   bolschewistischen Partei und des Sowjetstaates selber.
Möge man eine   andere Stimme nennen, die den Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen   des Bolschewismus etwas Wesentliches hinzuzufügen hätte. Vandervelde, de   Brouckere, Hilferding, Otto Bauer, Leon Blum, Zyromski, von Major Attlee   und Norman Thomas gar nicht zu reden, leben theoretisch von den   abgestandenen Resten der Vergangenheit. Die Entartung der Komintern   kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, daß sie theoretisch auf das   Niveau der II. Internationale herabgerutscht ist. Alle Arien von   Zwischengruppen (die Unabhängige Arbeiterpartei Großbritanniens, die   POUM und dergleichen) passen jede Woche neue zufällige Auszüge von Marx   und Lenin ihren jeweiligen Bedürfnissen an. Von diesen Leuten Können die   Arbeiter nichts lernen.
Ernstes Verhalten zur Theorie, zusammen mit   der gesamten Tradition Marx" und Lenins, haben sich nur die Erbauer der   Vierten Internationale zu eigen gemacht. Mögen die Spießer darüber   lächeln, daß zwei Jahrzehnte nach dem Oktobersieg die Revolutionäre   wieder auf die Position bescheidener propagandistischer Vorbereitung   zurückgeworfen sind.
Das Großkapital ist in dieser Frage wie in   anderen viel scharfsichtiger als die kleinbürgerlichen Spießer, die sich   für Sozialisten oder Kommunisten ausgeben: Nicht von ungefähr   verschwindet das Thema der Vierten Internationale nicht aus den Spalten   der Weltpresse. Das brennende historische Bedürfnis nach einer   revolutionären Führung verspricht der IV. Internationale ein   außergewöhnlich schnelles Wachstumstempo. Die wichtigste Garantie ihrer   künftigen Erfolge ist der Umstand, daß sie nicht abseits vom großen   historischen Weg entstand, sondern organisch aus dem Bolschewismus   erwuchs.