Zur Stuttgarter Demonstration „Wir zahlen nicht für Eure Krise“
Am 12. Juni demonstrierten laut Veranstaltern rund 20.000 Menschen in Stuttgart gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise, die Kürzungspolitik der Regierung und Stuttgart 21. Dabei brachten Tausende ihren Unmut über ParteirednerInnen von SPD und Grünen zum Ausdruck.
von Wolfram Klein, Stuttgart
Bei der Auftaktkundgebung in der Lautenschlagerstraße (beim Stuttgarter Hauptbahnhof) kamen mehrere RednerInnen aus der Region zu Wort. Ali Murat Gül sprach für DiDF, eine Vertreterin von attac erklärte, wer die wirklichen Gewinner (FIFA und Konzerne) und VerliererInnen (die Masse der Bevölkerung) bei der Fußball-WM sind.
Ruwen Stricker als Redner des Bildungsstreiks prangerte die Umverteilungspolitik des Neoliberalismus der letzten Jahre an, die auch für die Unterfinanzierung des Bildungswesens verantwortlich sei. Der Warnung von DGB-Chef Sommer vor sozialen Unruhen stellte er die Forderung entgegen, soziale Konflikte zu führen. Er kritisierte das obrigkeitsstaatliche deutsche Streikrecht und forderte ein Streikrecht für BeamtInnen.
Ariane Raad als Vertreterin des Stuttgarter Krisenbündnisses forderte unter anderem innergewerkschaftliche Demokratie ein und kritisierte die Ausschlussverfahren gegen Alternative-KollegInnen an verschiedenen Daimler-Standorten. Sie warnte auch vor Vereinnahmungsversuchen durch SPD und Grüne im Vorfeld der Landtagswahlen.
Bildungsblock auf der Demonstration
Die Demonstration folgte der Stuttgarter Standard-Demoroute. Die Teilnehmerzahlen wurden von der Polizei mit 10.000, von den OrganisatorInnen mit über 20.000 angegeben. Ein großer Teil der DemonstrantInnen war von ver.di organisiert worden, das in über 30 Städten Busse organisiert hatte.
Das Stuttgarter Bündnis, das den Bildungsstreik am 9. Juni vorbereitet hatte, organisierte auch einen Bildungsblock mit eigenem Lautsprecherwagen (der IGM-Jugend) am 12. Juni. Es beteiligten sich vielleicht 300 Menschen an dem Block: BildungsstreikaktivistInnen, Gewerkschaftsjugend, Linksjugend u.a. Es herrschte eine sehr kämpferische Stimmung, es wurden fast ständig Parolen gerufen (z.B. „Bildung für alle und zwar umsonst“, „Unsere Antwort Widerstand, Kämpfen wie in Griechenland“, „Bildung weg, Tasche leer, CDU, danke sehr“ „Nichts für Bildung, alles für die Banken, wir sind hier, um uns zu bedanken“).
Der Bildungsblock war ein guter Beitrag, die Demonstration lebendiger zu machen und Krisen- und Bildungsproteste zusammenzuführen. So nahm zum Beispiel der harte Kern der BildungsstreikaktivistInnen der Uni Stuttgart ziemlich geschlossen am Bildungsblock teil, obwohl es dort traditionell große Berührungsängste gegenüber Gewerkschaften und dem Aufgreifen von Themen gibt, die nicht direkt zur Bildungspolitik gehören. Verbesserungsbedürftig war sicherlich die Information von AktivistInnen außerhalb der Region Stuttgart über den Bildungsblock im Vorfeld der Demonstration. Dann hätte sicher sowohl die Demonstration insgesamt als auch der Bildungsblock größer sein können.
SAV-Mitglieder als München, dem Ruhrgebiet, Konstanz, Berlin, Karlsruhe und Stuttgart beteiligten sich mit Fahnen, Transparenten und dem Rufen von Slogans am Bildungsblock bzw. der Demonstration.
Abschlusskundgebung
Nach einem kulturellen Auftakt von Holger Burner (LeserInnen von sozialismus.info bestens bekannt) gab es Reden von Nico Landgraf (DGB-Landesvorsitzender), Frank Bsirske (ver.di-Bundesvorsitzender) und Roland Süß (attac). Die GEW-Landesvorsitzende Doro Moritz unterhielt sich mit BildungsstreikaktivistInnen. In den Redebeiträgen wurde die Regulierung der Finanzmärkte gefordert, die Abwälzung der Krise auf die Masse der Bevölkerung abgelehnt und für den Herbst weitere Proteste angekündigt.
Stimmung kam dann mit dem Redebeitrag von SPD-Landtagsfraktionschef Schmiedel auf. Er begann seine Rede damit, dass die Veranstaltung nichts mit Stuttgart 21 und den Interessen der Bewohner der Halbhöhe zu tun habe (Stuttgart liegt in einem Talkessel, in Halbhöhenlage sind traditionell die „besseren“ Wohngebiete). Er erklärte also nicht nur, dass eine Demonstration, die nach dem Willen seiner Initiatoren ausdrücklich Krisenproteste, Bildungsproteste und Stuttgart-21-Proteste zusammen bringen sollte (siehe unten), nichts mit Stuttgart 21 zu tun hatte, er diffamierte einen Protest, der die Mehrheit der Stuttgarter Bevölkerung und immer mehr Gewerkschaftsgliederungen hinter sich hat, als Luxusprotest von Privilegierten. Kein Wunder, dass die halbe Kundgebung ihn auspfiff und seine Rede kaum zu verstehen war. Bei seinem Beitrag (und in abgeschwächter Form bei dem folgenden Beitrag von Silke Krebs von den Grünen) entlud sich zugleich die Wut auf viele Jahre neoliberale rot-grüne Politik mit Agenda 2010 (und Kriegen gegen Afghanistan etc.). Neben Sprechchören gegen Stuttgart 21 gab es auch die altgedienten Rufe „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war mit dabei? Die grüne Partei!“ Weiter hieß es „Hartz 4, das wart ihr!“ und einfach: „SPD und Grüne, runter von der Bühne!“
Die Moderatorin Leni Breymaier (verdi-Landesvorsitzende und SPD-Mitglied) goss weiter Öl ins Feuer, indem sie gegen die Protestierenden höhnte, dass die Lautsprecheranlage sie übertöne. Hat sie wirklich gemeint, dass da nur eine kleine Gruppe pfeife, und nicht begriffen, dass der halbe Platz protestierte und dagegen auch die Lautsprecheranlage nicht half? Schmiedel zeigte eine ähnliche Weltfremdheit, indem er Geschichten über Massenmails erzählte, die angeblich zu Protesten gegen seinen Auftritt aufgerufen haben. Er will wohl nicht wahrhaben, dass seine Partei so verhasst ist, dass die Leute auch ohne Massenmails wissen, was sie tun. Breymaiers Appell an die Demokratie machte wenig Eindruck bei einer Partei, die Stuttgart 21 gegen die große Mehrheit der Bevölkerung durchdrücken will und 67.000 Unterschriften für einen Bürgerentscheid darüber ignoriert hat. Ebenso steht es mit ihrem Verweis auf die Meinungsfreiheit in einer Stadt, in der mal wieder Stuttgart-21-Propaganda auf Großflächen-Plakaten verbreitet wird und eine „Bauzeitung“ „Dialog 21“ an alle Haushalte geht. Alles finanziert aus öffentlichen Geldern und in der Verantwortung von Sozialdemokrat Drexler.
Dass der Protest gegen Schmiedel nicht durch „Massenmails“ koordiniert war, sieht man schon daran, dass die Protestformen einander be- und verhinderten. Aktivisten der „Parkschützer“, einer der aktivsten und wichtigsten Gruppen im Kampf gegen Stuttgart 21, hatten ein 6 Meter langes Transparent vorbereitet: „Schmerzfrei sparen: Kein Protzbahnhof Stuttgart 21 – K21 bauen!“ (K21 oder Kopfbahnhof 21 steht für die Modernisierung des bestehenden oberirdischen Bahnhofs.) Eine andere Gruppe von DemonstrantInnen meinte aber, während Schmiedels Rede Eier, Tomaten, Bananen u.a. Gegenstände auf die Bühne werfen zu müssen. Schmiedel wurde durch DGB-Regenschirme „beschützt“. Die Parkschützer schilderten in einer Presseerklärung, dass sie dagegen zwischen „prügelnden Randalierern“ und „Ordnungskräften“ eingekeilt gewesen seien und bei dem Versuch, ihr Transparent aufzurichten von ersteren geschlagen und von einer geworfenen Latte verletzt worden seien. Nach anderen Berichten sollen auch DGB-OrdnerInnen mit Stangen, Tritten und Schlägen angegriffen worden sein. Es sollte klar sein, dass Aktionsformen, durch die andere DemonstrationsteilnehmerInnen gefährdet oder gar verletzt werden und die obendrein völlig unnötig sind (weil Schmiedel ohnehin nicht zu verstehen war), abgelehnt werden müssen. Auf der anderen Seite lehnen wir es ab, wenn Demonstrationsleitungen mit der Polizei gegen DemonstrantInnen zusammenarbeiten, die Polizei zum Filmen auf die Bühne lassen etc. Die Polizei setzte auch massiv Pfefferspray ein. Eines der Opfer war Holger Burner, der eine massive Ladung Pfefferspray abbekam, als er friedlich Sprechchöre rief. Die Lehre aus solchen Vorfällen ist, dass wir gute Ordnerdienste für Demonstrationen brauchen, die Demos gegen Angriffe von außen schützen können und zugleich interne Konflikte ohne die Einmischung des kapitalistischen Staatsapparats und seiner Organe schlichten können.
In zahlreichen Kommentaren zu den Zeitungsberichten auf den Websites der Lokalpresse distanzierten sich Stuttgart-21-GegnerInnen von den Wurfaktionen und lobten zugleich das Pfeifkonzert.
Der letzte Redebeitrag war von Bernd Riexinger als Vertreter der Partei DIE LINKE. Bei ihm gab es keine Pfiffe und Zwischenrufe mehr, sondern Beifall. Dass die DemonstrantInnen so deutlich zwischen den VertreterInnen von SPD und Grünen und dem Vertreter der LINKEN unterschieden, sollte für die Teile der LINKEN ein Grund zum Nachdenken sein, die für Baden-Württemberg nach der Landtagswahl mit einer „rot-rot-grünen“ Regierung liebäugeln.
Am Schluss sollte die Hip Hop Combo „Conscious & Ezzcape“ einen kulturellen Abschlussbeitrag machen. Aber da sie die Gewalt der Polizei kritisierten und auf das Pfefferspray-Opfer Holger Burner verwiesen, brach Leni Breymeier die Kundgebung ab. Ihre Sympathien für Demokratie und Meinungsfreiheit waren plötzlich vorbei. Statt dessen erklärte sie, es sei doch klar, wer die Gewalt angefangen habe. Das ist in der Tat klar: Hartz IV bedeutet Gewalt gegen Millionen!
Zur Vorgeschichte
Um die Auseinandersetzungen auf der Demonstration zu verstehen, ist ein Verständnis der Vorgeschichte wichtig, die in den meisten Berichten ausgeblendet wurde: Am 13. bis 15. November 2009 fand in Stuttgart eine Aktionskonferenz des bundesweiten Bündnisses „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ statt, auf der beschlossen wurde, am 20. März in Stuttgart und NRW und am 12. Juni in mehreren Städten Demonstrationen durchzuführen, letztere in Verbindung mit den für den Juni geplanten Bildungsprotesten. In den folgenden Monaten wurde dann die Demo in Stuttgart am 20. März in eine Kundgebung ungewandelt und eine Aktionskonferenz des Bündnisses in Wiesbaden am 17. April beschloss als Orte für die Demos am 12. Juni Berlin und Stuttgart.
Schon bei der Vorbereitung der Kundgebung am 20. März in Stuttgart einigten wir uns im Stuttgarter Krisenbündnis darauf, die Ablehnung von Stuttgart 21 in den Forderungskatalog aufzunehmen. An dieser Vorbereitung hat sich auch der DGB beteiligt. In den folgenden Monaten bildete sich dann die problematische Konstruktion heraus, dass sowohl das Krisenbündnis als auch der DGB die Demo vorbereiteten und die Zuständigkeiten sehr unklar waren. Dass verschiedene Gruppen mit eigenen Flugblättern, Plakaten etc. mobilisieren, war von Anfang an vorgesehen. Aber dass eine Gruppe auf ihren Plakaten und Flugblättern RednerInnen für die Abschlusskundgebung bekannt gibt und das Krisenbündnis, also der ursprüngliche Initiator der Demo, das auf seinem nächsten Treffen nur noch zur Kenntnis nehmen kann, ist etwas anderes. Und dass unter diesen RednerInnen ParteivertreterInnen sind (nicht Mitglieder von SPD, Grünen und Linken, die als VertreterInnen von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen reden, sondern offizielle VertreterInnen dieser Parteien – und das einige Monate vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg) vergrößerte den Ärger. Auch KollegInnen von DiDF waren verwundert, dass auf Plakaten außer ihrem Logo und den Logos linker Organisationen auch die Logos von SPD und Grünen waren.
Das Stuttgarter Krisenbündnis wird bei seinem nächsten Treffen am Dienstag sicher über eigene Fehler und Schlussfolgerungen diskutieren. Mit Treffen alle zwei Wochen oder seltener und wechselnden TeilnehmerInnen lässt sich keine Demo von Zehntausenden organisieren. Da es zwischen den Treffen keine demokratisch legitimierten Strukturen des Bündnisses gab, wurde es begünstigt, dass notwendige Entscheidungen zwischen den Treffen am Bündnis vorbei gingen. Wir sollten diskutieren, wie wir uns so organisieren können, damit wir unser Versprechen verwirklichen können, dass die Demo nur der Auftakt für größere Proteste im Herbst ist und eine Parole des Bildungsblocks Wirklichkeit wird: „Streik in der Schule, Streik in der Fabrik, das ist unsre Antwort auf eure Politik“. Trotz Schönheitsfehlern war die Demo ein guter Auftakt dafür.
Hintergrund: Der Protest gegen Stuttgart 21
Mit Stuttgart 21 soll der Stuttgarter Hauptbahnhof in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof verwandelt und über 30 Kilometer Tunnel gegraben werden. Das Projekt wird sicher mehr als die offiziellen 4,1 Milliarden Euro Kosten, Geld das Bahn, Bund, Land und Stadt Stuttgart für sinnvollere Maßnahmen fehlen wird. Zugleich wird das denkmalgeschützte Bahnhofsgebäude verstümmelt, der Schlossgarten verschandelt, die zweitgrößten Mineralquellen Europas gefährdet etc. Der jahrzehntelange Bau in der Innenstadt und der Abtransport des Abraums weitgehend mit LKWs würde eine ungeheure Lärm- und Abgasbelastung bedeuten. Profitieren würden Immobilienspekulanten an den freiwerdenden Gleisflächen und andere Kapitalisten. Laut Umfragen lehnt inzwischen eine deutliche Mehrheit in Stuttgart und eine Mehrheit in Baden-Württemberg das Projekt ab. Seit November gibt es wöchentliche Montagsdemonstrationen dagegen, mit inzwischen 4-5.000 TeilnehmerInnen. Die SPD hat Stuttgart 21 von Anfang an unterstützt, ihr Landtags-Vizepräsident Wolfgang Drexler wurde 2009 zum Projektsprecher für Stuttgart 21 („Mister Stuttgart 21“) und damit zum neben dem anderen Wolfgang, Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, verhasstesten Vertreter von Stuttgart 21, was natürlich auf seine Partei auch abfärbt (ausgenommen die Gliederungen und Mitglieder, die S21 ausdrücklich ablehnen). In den letzten Monaten haben trotz des großen SPD-Einflusses mehrere Gewerkschaftsgliederungen (einschließlich DGB und, in einer Kampfabstimmung, IG Metall) die Unterstützung der Bewegung gegen Stuttgart 21 beschlossen. Am 1. Mai wurde in Stuttgart die Rede des Transnet-Chefs und stellvertretenden Bahn-Aufsichtsratsvorsitzenden Alexander Kirchner immer wieder von Pfiffen und „oben bleiben“-Sprechchören (der Hauptparole gegen die Vergrabung des Bahnhofs unter die Erde) unterbrochen.