Kräfteverhältnis entwickelt sich zu Ungunsten der Gewerkschaften – trotz zuletzt positiver Entscheidungen
Es gibt in Deutschland kein Gesetz, das die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen regelt. Das Recht zu Arbeitsniederlegungen leiten die Beschäftigten und ihre Organisationen lediglich aus der im Grundgesetz festgeschriebenen Koalitionsfreiheit ab. Das gibt den Gerichten weite Entscheidungsspielräume.
von Daniel Behruzi, Frankfurt/Main
Umstrittenstes Beispiel ist das seit den Urteilen zum „Zeitungsstreik“ im Jahr 1952 behauptete „Verbot“ des politischen Streiks. Auch aktuelle Urteile zeigen die Unberechenbarkeit der „dritten Gewalt“. So sprach das Bielefelder Arbeitsgericht den Beschäftigten kirchlicher und diakonischer Einrichtungen kürzlich das Recht ab, in den Ausstand zu treten. Andere Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit begünstigen hingegen eher die Gewerkschaften. Daraus eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Beschäftigten abzuleiten, ist jedoch von der Realität weit entfernt.
Flashmob-Urteil
Einen „Freifahrschein in Sachen Arbeitskampf“ nannte beispielsweise die FAZ eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom September vergangenen Jahres, so genannte Flashmob-Aktionen im Rahmen eines Arbeitskampfs zu erlauben. Hintergrund war eine Aktion im Zuge der monatelangen Auseinandersetzung um einen neuen Einzelhandels-Tarifvertrag: Am 8. Dezember 2007 betraten etwa 40 Menschen die Rewe-Filiale am Berliner Ostbahnhof, füllten Einkaufswägen voll, um sie kurz darauf stehen zu lassen, oder „blockierten“ die Kassen mit Kleinsteinkäufen. Aufgerufen dazu hatte ver.di. Die Gewerkschaft wurde daraufhin vom Handelsverband Berlin-Brandenburg verklagt. Nach einer zweijährigen juristischen Auseinandersetzung stellte das BAG schließlich fest: „Gewerkschaftliche Maßnahmen, die zur Durchsetzung tariflicher Ziele auf eine Störung betrieblicher Abläufe gerichtet sind, unterfallen der durch Art. 9, Abs. 3 Grundgesetz gewährleisteten Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften.“
Die kritischen Pressereaktionen auf das Urteil kann IG-Metall-Justiziar Thomas Klebe nicht nachvollziehen. Schließlich gibt es, so Klebe in einem Pressegespräch, „eine erhebliche Verschiebung zu Lasten der Gewerkschaften“. Durch die „Globalisierung“ könnten die Konzerne ihre Produktion verlagern. Auch die zunehmende Prekarisierung in Form von Befristungen und Leiharbeit schwäche die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften. Zudem sei die Tariflandschaft von den Unternehmern teilweise gezielt zerstört worden – so beispielsweise im Kfz-Gewerbe, wo sich die Innungsverbände schlicht weigerten, erneut Tarifverträge abzuschließen.
Ähnliches gilt für den Einzelhandel, wo ver.di über Monate hinweg nicht in der Lage war, einen neuen Tarifvertrag zu erzwingen. Der Rückgriff auf Aktionen wie den „Flashmob“ ist also vor allem eine Folge der gewerkschaftlichen Schwäche.
Solidaritätsstreiks
Wie verhält es sich mit den Gerichtsurteilen zum Solidaritätsstreik? Zwar revidierte das BAG 2007 seine Entscheidung von 1985 und erlaubte grundsätzlich, dass Beschäftigte aus Solidarität mit anderen Belegschaften in den Ausstand treten. Dies setze aber eine „Verbundenheit mit dem Hauptstreik voraus“, erklärte Klebe. So könnten beispielsweise Verlagsangestellte für die für den Verlag tätigen Drucker in Solidaritätsstreik treten, aber nicht für KollegInnen, mit denen sie formal nichts zu tun haben.
Sozialtarifvertrag
Während Solidaritätsstreiks in der Praxis bislang – auch wegen der Politik der Gewerkschaftsspitzen – kaum eine Rolle spielen, ist der Kampf um Sozialtarifverträge mittlerweile gang und gäbe. In der Vergangenheit wurden im Falle von Betriebsschließungen oder Massenentlassungen zumeist nur vom Betriebsrat Sozialplanverhandlungen geführt. In letzter Zeit haben die Beschäftigten diese Auseinandersetzungen jedoch immer öfter auf tariflicher Ebene geführt. So zum Beispiel bei AEG in Nürnberg und im Bosch-Siemens-Hausgerätewerk Berlin. Der Vorteil: Für einen Sozialtarifvertrag können die Beschäftigten streiken, für einen Sozialplan nicht. Diese von den Unternehmern lauthals beklagte Entwicklung hält Klebe indes für „keine substanzielle Veränderung“. Schließlich erlaube das Betriebsverfassungsgesetz schon seit 1972, Sozialpläne tariflich zu vereinbaren.