Über die spontanen Streiks bei Daimler in Sindelfingen und Bremen 2009/2010
Die bürgerlichen Medien und selbst viele, die sich als links betrachten, haben die Arbeiterklasse hierzulande als Machtfaktor abgeschrieben. Die Kampfvermeidungsstrategie der Gewerkschaftsführung hat dazu geführt, dass selbst in der Arbeiterklasse das Vertrauen in die eigene Stärke verloren ging. Der spontane Streik der Beschäftigten bei Daimler-Sindelfingen Anfang Dezember 2009 hat wie ein Blitz aus heiterem Himmel die enorme Kampfkraft der abhängig Beschäftigten demonstriert und nicht nur die Daimler-Bosse aufgeschreckt. Sindelfingen blieb keine Ausnahme. Im Daimler-Werk in Bremen kam es in den letzten Monaten zu wiederholten spontanen Arbeitsniederlegungen. Die Zukunft Betrieben wirft ihre Schatten voraus.
von Ursel Beck, Stuttgart
In der Januar-Ausgabe der Mitgliederzeitung der IGM wird die Betriebsvereinbarung „Sindelfingen 2020“ als Sicherheit für die Arbeitsplätze für den „kommenden Strukturwandel“ verkauft. Für den Standort Untertürkheim erschien Ende Januar eine Extra-Ausgabe der Betriebszeitung „ScheibenWischer“. Darin wird die kühne Behauptung aufgestellt, dass der Betriebsrat durchgesetzt hätte, „dass der Entfall der C-Klasse in Sindelfingen auch auf längere Sicht keine negativen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze an unserem Standort“ habe. In der Vereinbarung würde der Standort Untertürkheim sogar „in die Zukunft gestärkt“. Probleme sehen die IGM-Betriebsräte lediglich durch die „CO2-Debatte“. Sie fordern, dass Daimler in die Entwicklung des Elektroantriebs bzw. in die Batterietechnologie investiert und diese „wettbewerbsrelevantenTechnologien“ selber produziert, statt sich von Zulieferern abhängig zu machen. „Dabei braucht man sicher nicht in Panik zu verfallen. Denn den klassischen Verbrennungsmotor wird es immer noch geben, wenn ein Großteil der heutigen Belegschaft in Rente geht.“, so der „ScheibenWischer“. Statt Aufklärung und Klarsicht über die kapitalistische Überproduktionskrise betreibt die IGM Augenwischerei und betätigt sich als Bremse gegen die Kampfbereitschaft in der Belegschaft. Aber wer immer auf der Bremse steht, nutzt sie ab. Und dann funktioniert sie nicht mehr richtig. So kommt es immer öfters zu spontanen wilden Streiks.
Vorgeschichte
Pünktlich zum 100jährigen Jubiläum der Marke Mercedes bedachte das Management die Belegschaft im Mai 2004 mit einem 500 Millionen schweren Erpressungskatalog. Die für 2007 geplante neue Modellreihe der C-Klasse sollte nur dann in vollem Umfang in Sindelfingen und Bremen gebaut werden, wenn es zu einer Personalkostenkürzung von 500 Euro pro Auto käme. Mit diesem Erpressungsversuch provozierte das Daimler-Management den bis dahin größten Protest in seiner Geschichte. Ab Anfang Juli 2004 kam es in den Werken Sindelfingen und Untertürkheim zu Produktionsausfällen, weil an Samstagen Überstunden verweigert wurden und es immer wieder zu Abteilungsversammlungen kam. Betriebsversammlungen Anfang Juli wurden von den Beschäftigten genutzt, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Manager wurden mit Pfeifkonzerten bis zu 10 Minuten daran gehindert zu reden. Transparente und Plakate machten die Versammlungen zusätzlich zu Protestkundgebungen. Vorläufiger Höhepunkt des Aufstands der Daimler-Beschäftigten war der von der IGM organisierte bundesweite Daimler-Aktionstag am 15.7. Die Nachtschicht im Düsseldorfer Daimler-Werk machte mit Arbeitsniederlegung und einem Fackelzug durch die Innenstadt den Anfang. In den anderen Werken von Hamburg bis Sindelfingen ( Bremen, Berlin, Kassel, Gaggenau, Rastatt, Wörth) schmiss die Frühschicht am 15.7. die Brocken hin. 60.000 Kolleginnen und Kollegen insgesamt. Davon 30.000 im Mittleren Neckarraum. Vor dem Untertürkheimer Tor gab es eine Protestaktion mit 10.000 Beschäftigten. Die „Mettinger Rebellen“ marschierten mit 2.000 Kolleginnen und Kollegen auf der B 10 und brachten damit den Autoverkehr für eine Stunde zum Erliegen. Im Sindelfinger Werk nahmen 20.000 an einer Kundgebung teil und marschierten anschließend durch die Innenstadt. Und selbst im brasilianischen Werk bei Sao Paolo kam es zu einer Solidaritätsaktion und einer Grußadresse an die KollegInnen in Deutschland. Während die Daimler-Beschäftigten an diesem Tag bundesweit ihre Kampfbereitschaft demonstrierten, nutzten die Betriebsräte die Versammlungen in und außerhalb der Betriebe um die Belegschaft auf Zugeständnisse einzuschwören. „Wir haben aber auch immer betont, dass wir bereit sind eine faire Lösung zu suchen, die sicher auch auf unserer Seite Kompromissbereitschaft fordert“. Für diese Aussage erntete der Betriebsratsvorsitzende Helmut Lense beim Daimler-Aktionstag im Sommer 2004 Buhrufe und Pfiffe. Bei der Kundgebung in Sindelfingen stimmte GBR-Vorsitzender Erich Klemm damals die Belegschaft mit folgenden Worten auf Verzicht ein: “Wir wollen das profitabelste Werk des Konzern bleiben“. Anstatt die Proteste weiterzuführen, kam es mit der „Zukunftssicherung 2012“ zum Zugeständnis von 500 Millionen u.a. durch Absenkung der Lohnlinie um 2,79% ab 2006, durch Ausdehnung von 39/40-Stunden-Verträgen und Lohnabsenkung für Neueingestellte um 20%. Die Produktion der C-Klasse blieb hier – vorerst. Betriebsbedingte Kündigungen blieben bis 2011 ausgeschlossen, nicht jedoch weiterer Personalabbau. Bereits ein Jahr nach Abschluss der sogenannten „Beschäftigungssicherung“ kündigt Daimler an, dass der Absatz der E-Klasse im ersten Halbjahr 2005 rund ein Drittel unter dem Vorjahreshalbjahr liege und deshalb weitere Personalkostenkürzungen anstünden. Konkret wurde der Abbau von 8.500 Stellen in den Werken Sindelfingen, Untertürkheim, Bremen, Berlin und Hamburg über Abfindungen und Frühpensionierung beschlossen. Das Werk in Sindelfingen war davon mit 3.600 Stellen betroffen. Insgesamt wurden in den Jahren 2004 bis 2009 bei Daimler ohne betriebsbedingte Kündigungen sogar 30.000 Stellen abgebaut. In Sindelfingen war der geplante Personalabbau noch nicht abgeschlossen, als die Verlagerung der C-Klasse vom Vorstand erneut auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
Verlagerung C-Klasse
Im September 2009 wurden die Pläne bekannt, die C-Klasse aus dem Werk Sindelfingen zu verlagern. Was machen Betriebsrat und IGM in so einer Situation? Sie bieten Verhandlungen an. Aber das Management lehnte ab. Als der Daimler-Vorstand ankündigt, am 1.12. endgültig über die Produktionsverlagerung zu entscheiden, organisiert die IGM am selben Tag in der Frühschicht ab 9.00 Uhr eine Protestkundgebung zwischen Tor 7 und Tor 16 des größten Automobilwerks in Deutschland mit 38.000 Beschäftigten. 12.000 nehmen daran teil, darunter kleine Delegationen aus Zulieferwerken, wie Behr, Bosch, Mahle. Die Kundgebungsredner fahren Argumente auf, die den Vorstand überzeugen sollen, die C-Klasse in Sindelfingen zu lassen. Das Werk sei das produktivste und beste, wie sich der Dollar-Kurs entwickle sei unklar, das Werk sei der Herzmuskel der Region und wenn die Produktion des meistverkauften Daimler- Modells abgezogen würde, müssten Zulieferer mitziehen. Es wird an den Vorstand appelliert sich mit dem C-Klasse-Nachfolgemodell für Sindelfingen zu entscheiden. Der Sprecher der DGB-Region, Bernd Löffler, kündigt unter starkem Beifall der 12.000 Kolleginnen und Kollegen an, dass man die Politik der Abwanderung verhindern werde. Am Ende erklärte der Betriebsratsvorsitzende, Erich Klemm, dass die für Samstag geplanten Flexi-Schichten nicht stattfinden würden. Auch werde man weiteren Widerstand organisieren, wenn sich der Vorstand heute für die Verlagerung entscheide. Uwe Meinhardt, der Erste Bevollmächtigte der IGM Stuttgart kündigt eine „Widerstandskette“ an: „Wir werden mit allen Belegschaften der Region den Widerstand organisieren“. Das war aber eine leere Drohung, denn es wurden keine Kampfschritte in diese Richtung organisiert. Am Ende der Kundgebung wurden die Kolleginnen und Kollegen sogar aufgefordert, nach der Mittagspause wieder an ihre Arbeit zu gehen. Gegen die Aufforderung zur Wiederaufnahme der Arbeit gab es an diesem Tag vereinzelte Proteste. Am Ende gingen aber alle wieder an die Arbeit.
Spontane Arbeitsniederlegung
Einen Tag später, am 2.12. verkündete der Vorstand um 8.20 Uhr seine Entscheidung die C-Klasse zu verlagern. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Die Belegschaft legt spontan die Arbeit nieder, Schicht für Schicht. Nicht nur einen Tag, sondern zwei Tage hintereinander. Vorgesetzte, die versuchen, die Kollegen an die Bänder zu bekommen werden nicht nur verbal attackiert. Die angestaute Wut entlädt sich in diesen Tagen, wie noch nie zuvor in diesem Werk. Die Stuttgarter Zeitung zitiert Betriebsrat Rolf Wanner am 4.12.09 mit den Worten: „Wir befinden uns kurz vor der Explosion. So etwas hab ich noch nicht erlebt.“ Der Versuch von Betriebsräten, Kollegen am Donnerstag nach einer Protestaktion in der Frühschicht zur Aufnahme der Arbeit zu bringen, scheiterte. Betriebsräte wurden scharf für ihre Untätigkeit und ihre Verzichtspolitik in der Vergangenheit kritisiert. Die Stimmung griff auf das Stammwerk in Stuttgart-Untertürkheim über und zwang die IGM Kundgebungen während der Arbeitszeit zu organisieren. Im Werk Untertürkheim und in Mettingen nahmen 3.500 bzw. 2.000 Kolleginnen und Kollegen daran teil. In der Nacht vom 4. auf den 5. 12. kam es in der Nachtschicht zu einer spontanen Arbeitsniederlegung im Werksteil Mettingen. Jörg Hofmann, Bezirksleiter der IGM erklärt gegenüber der Presse, der IGM drohe, die Kontrolle über die Belegschaft zu verlieren. Um dies zu verhindern, tat die IGM alles, um den Protest zu kanalisieren und ihn gleichzeitig herunterzukochen. Für Freitag, den 4. Dezember wurde in Sindelfingen zu einer Demonstration vom Werk in die Innenstadt aufgerufen. 15.000 Beschäftigte, d.h. die ganze Frühschicht beteiligt sich an dieser Demonstration. Die Stimmung hatte sich seit der Kundgebung am Montag enorm radikalisiert. Während es am Montag nur Sprechchöre mit der Parole „C-Klasse bleibt“ gab, kam es am Freitag zu Sprechchöre mit: „Jetzt geht’s los“, „Zetsche raus“, „Vorstand raus“. Bei dieser Kundgebung wurde allzu deutlich, dass die Belegschaft sich ihrer Stärke bewusst geworden war. Inzwischen war auch bekannt geworden, dass es Zetsche plötzlich nicht mehr schnell genug gehen konnte mit Verhandlungen. Der Produktionsausfall von 1.000 Autos am Tag in Sindelfingen, die Streikfolgewirkung des Stillstands der Bänder im Werk Rastatt gingen an den Profit. Kollegen berichteten von Attacken auf Vorgesetzte und Sabotageaktionen. Die Macht von Zetsche und Co. wurde offen in Frage gestellt. Das jagte dem Vorstand Angst und Schrecken ein. Am 7.12. trat Zetsche auf Betriebsversammlungen auf. Der wütende Protest gegen ihn bei dieser Versammlung zwang ihn offensichtlich noch mehr zu versprechen, als er ursprünglich vor hatte. Zetsche versprach Ersatzarbeitsplätze - was von den Beschäftigten zunächst als leeres Versprechen aufgefasst wurde. Die Frühschicht nahm nach der Betriebsversammlung nicht mehr die Arbeit auf. Die Betriebsräte und die IGM nutzten das Zurückweichen des Daimler-Vorstands für einen schnellen Abschluss am Verhandlungstisch. Bereits zwei Tage später gab es einen Abschluss.
Fauler Kompromiss
Das Zurückweichen des Vorstands, das Versprechen von Ersatzarbeitsplätzen und der Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen ist zweifellos ein Erfolg. Es ist der Erfolg des zweitägigen wilden Streiks. Der Abschluss ist aber ein fauler Kompromiss, weil die enorme Kampfkraft, die sich entwickelt hatte, nicht genutzt wurde, um den Erhalt der C-Klasse und alle Angriffe von oben zurückzuschlagen. Die Vereinbarung selbst ist keine feste Arbeitsplatzgarantie. Für den Fall von Absatzrückgängen gibt es für Daimler eine Ausstiegsklausel. Die Rückverlagerung von ausgelagerter Produktion ist nichts anderes als die Verlagerung von Arbeitsplatzvernichtung auf Belegschaften der Zulieferindustrie. Mit dem „Freiwilligen Ausscheidungsprogramm“ der Vereinbarung soll die Zahl derjenigen, die in Altersteilzeit gehen erhöht werden und Kollegen über Abfindungen zur Aufgabe ihres Arbeitsplatzes gedrängt werden. „Der Betriebsrat unterstützt in diesem Zusammenhang die Instrumente zur freiwilligen Personalanpassung“, so steht es in der Vereinbarung. Das zeigt, auch ohne betriebsbedingte Kündigungen geht die Arbeitsplatzvernichtung –mit Unterstützung des Betriebsrats – weiter. In einer Protokollnotiz zur Sindelfinger Vereinbarung heißt es, dass „über die Laufzeit der Vereinbarung in diesem Rahmen weiterhin Maßnahmen zur Effizienzsteigerung erforderlich sind, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Sindelfingen zu erhalten“. Aufgabe von Betriebsräten und Gewerkschaften darf es aber nicht sein, den Konkurrenzkampf zu organisieren sondern den gemeinsamen Kampf aller Automobil-Belegschaften.
Die geplante Effizienzsteigerung in Sindelfingen könnte in Zukunft noch öfters wie in der Vergangenheit den Widerstand der betroffenen Arbeiter provozieren. Während der Auseinandersetzung in Sindelfingen Anfang Dezember kam an die Öffentlichkeit, dass es in den Monaten zuvor vier mal spontane Arbeitsniederlegungen in verschiedenen Bereichen gegeben hatte. Zum Beispiel kam es in der E-Klassen-Produktion im Juli 2009 zweimal zu kurzen Streiks gegen die Reduzierung der Taktzeit von 100 auf 85 Sekunden. Obwohl mit der Verlagerung der C-Klasse auch die entsprechende Achsenmontage aus dem Werk Untertürkheim mitverlagert wird, gilt der Vertrag nur für Sindelfingen. Für andere Standorte, die von der C-Klassen-Verlagerung betroffen sind, lehnt das Daimler-Management weiter eine Arbeitsplatzgarantie für die Beschäftigten ab. Laut Personalchef Porth soll die Sindelfinger Vereinbarung eine „Ausnahme“ bleiben.
Zahlenspielereien mit Arbeitsplätzen
4.500 Kolleginnen und Kollegen arbeiten direkt in der C-Klasse in Sindelfingen. Hinzu kommen noch mal 1.500 Arbeitsplätze in Sindelfingen, die an der C-Klasse hängen. Im Werk Untertürkheim werden die Achsen für die C-Klasse montiert. Sie wird im Falle der Verlagerung mitverlagert. Bei den Zulieferern hängen 2.000 Arbeitsplätze an der Sindelfinger C-Klasse. Auch im Transport und in den Häfen werden Arbeitsplätze überflüssig. Niemand verliert ein Wort darüber. Die Presse berichtete Anfang Dezember, dass durch Rationalisierung in Sindelfingen 2.000 Stellen in den nächsten Jahren entfallen. Vor dem Hintergrund dieser Fakten ist es verwunderlich, dass der Betriebsratsvorsitzende Erich Klemm bei der Auseinandersetzung um die C-Klasse nur von 3.000 Arbeitsplätzen sprach, die bedroht seien. Selbst wenn der Roadster SL mit 1.000 Arbeitsplätzen künftig in Sindelfingen produziert wird, sind im Sindelfinger Werk und in der Zulieferindustrie weiter 9.000 Arbeitsplätze gefährdet. Absatzeinbrüche sind dabei unberücksichtigt.
Und was ist mit den Arbeitsplätzen bei den Kommunen? Sindelfingen zum Beispiel ist bereits pleite. Im neuen Haushalt sollen 148 Stellen, davon 83 in den Kitas gestrichen werden. Die Mehrheit des Gemeinderats beschloss am 25.11.09 die Schließung der größten Hauptschule in Sindelfingen. Die Verlagerung der C-Klasse wird zu weiteren Steuermindereinnahmen in Sindelfingen, Böblingen und anderen Städten in der Region führen. Und in der Folge davon, werden weitere Arbeitsplätze vernichtet werden.
Chance verspielt
Mit Fortsetzung und Ausweitung des Streiks auf alle Standorte und die insgesamt 160.000 Daimler-Beschäftigten in Deutschland, hätte der Kampf gegen die Verlagerung der C-Klasse mit der Abwehr aller anderen derzeit stattfindenden Angriffe auf die Daimler-Belegschaften verbunden und abgewehrt werden können. Das Selbstbewusstsein der Beschäftigten hätte dadurch enorm aufgebaut, und die Belegschaft für weitere Kampfschritte bis hin zu Betriebsbesetzungen gewonnen werden können. Diese großartige Chance wurde von der IGM und ihren Betriebsräten verspielt. Geradezu sträflich ist es, dass die IGM den überfälligen gemeinsamen Widerstand aller Belegschaften gegen Arbeitsplatzvernichtung, Betriebsschließungen und Lohnverzicht in der Region Stuttgart im Dezember 2009 nicht aufgenommen hat. Wäre die Sindelfinger Belegschaft am Freitag, den 7.12. nicht in Sindelfingen, sondern gemeinsam mit den Daimler-Kollegen in Untertürkheim auf die Straße gegangen, wie aus der Belegschaft gefordert, hätte das das Fanal sein können für einen gemeinsamen Aufstand aller derzeit in Auseinandersetzung stehenden Belegschaften in der gesamten Region und der Studierenden, die an der Uni Stuttgart zeitgleich einen Hörsaal besetzt hatten. Wäre der Kampf gegen Arbeitsplatzabbau mit dem ohnehin stattfindenden Protesten gegen kommunale Kürzungen und dem anwachsenden und wütender werdenden Widerstand gegen das Wahnsinnsprojekt Stuttgart 21 verbunden worden, hätte die breite Bevölkerung in die Auseinandersetzung einbezogen werden können. Einen Tag nach der Kundgebung am 7.12. mit 15.000 Beschäftigten hat die Stadt Sindelfingen ihren Kürzungshaushalt verabschiedet. Gegen die Schließung der Klostergartenschule hatte es in den Wochen zuvor Proteste von LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen gegeben. IGM, Ver.di und GEW hätten allen Grund gehabt die machtvolle Demonstration in Sindelfingen am 7.12. zu einer gemeinsamen Demonstration gegen Arbeitsplatzvernichtung, gegen die Schließung der Klostergartenschule und gegen kommunale Kürzungen zu machen.
Eintägiger regionaler Generalstreik
Die SAV Stuttgart war der Meinung, dass die Gewerkschaften Mitte Dezember mit einem eintägigen regionalen Generalstreik die verschiedenen Kämpfe hätten zusammenbringen sollen. Die gesamte Bevölkerung, Belegschaften, Schüler, Studierende, Rentner, Hausfrauen hätten an diesem Tag zu einer Großdemonstration gegen Arbeitsplatzvernichtung, kommunale Kürzungen und Stuttgart 21 aufgerufen werden sollen. Das hätte das Kräfteverhältnis in der Gesellschaft verschoben und bundesweite Ausstrahlung gehabt.
Auch wenn es dazu wegen der bremserischen Rolle von Co-Management-Betriebsräten und des IGM-Apparates nicht gekommen ist, der wilde Streik bei Daimler-Sindelfingen wird nicht als einmaliges Ereignis in die Geschichte eingehen. Die Belegschaft in Sindelfingen hat durch ihren Kampf enorm an Selbstbewusstsein gewonnen und wird sich aufgrund dieser Kampferfahrung auch in Zukunft mit spontanen Arbeitsniederlegungen zur Wehr setzen. Kolleginnen und Kollegen in anderen Betrieben wurden durch den entschlossenen Kampf der Sindelfinger ermutigt. Der Druck in der IGM gegen weitere Verzichtspolitik und für effektiven und gemeinsamen Widerstand aller Belegschaften wächst. Gleichzeitig setzt die kapitalistische Krise im Mittleren Neckarraum die kampferfahrenen Belegschaften der Metallindustrie immer mehr unter Druck. Parallel dazu nimmt der Widerstand gegen Stuttgart 21 radikalere Formen an. All das sind die Zutaten für einen Flächenbrand in der Region, für den das Wasser im Neckar nicht ausreichen wird, um ihn zu löschen.
Spontane Streiks bei Daimler Bremen
Die wiederholten Streiks bei Daimler in Bremen zeigen auch, dass ein konzernweiter gemeinsamer Kampf das Gebot der Stunde ist.
Im Bremer Daimler Werk hat es bereits im November 2005 wütende Proteste gegen den Abbau von insgesamt 8.500 Arbeitsplätzen gegeben, bei dem das Werk an der Weser mit 2.700 betroffen war. Zeitgleich mit den Protesten in Sindelfingen, spitzte sich die Situation im Bremer Daimler-Werk erneut zu. Am 14. November 2009 legten 3.000 Kolleginnen und Kollegen der B-Schicht die Arbeit nieder, zogen durch die Hallen und versammelten sich vor dem Verwaltungsgebäude. „Der Vorstand kann ohne uns kein einziges Auto bauen, meinte ein Redner, „aber wir können Autos bauen ohne den Vorstand“. Die Propaganda, das Werk in Bremen sei Gewinner der Produktionsverlagerung der C-Klasse glauben die Beschäftigten nicht.
In einem Interview mit der Jungen Welt vom 8.12.2009 erklärte Gerhard Kupfer, IG-Metall-Vertrauenskörperleiter und Betriebsrat bei Daimler Bremen, dass „ein nicht unerheblicher Teil“ der Belegschaft sage „wir müssen uns den Protesten der Sindelfinger anschließen. Aus Wut darüber, was zur Zeit insgesamt bei Daimler abläuft – Arbeitsverdichtung, Rationalisierung hoch drei….in der C-Klasse gab es teilweise Kurzarbeit. Zugleich werden die Leute aber, wenn sie im Betrieb sind, ausgelutscht bis zum Letzten. Die Bänder sind unterbesetzt…Es herrscht geballte Wut, die sehr schnell zur Explosion kommen kann.“. Am Am 14.12. legten 1.000 KollegInnen für eine halbe Stunde die Arbeit nieder. Sie zogen geschlossen vor das Verwaltungsgebäude und forderten in Sprechchören ein Treffen mit dem Betriebsrat und Werksleiter. Am 22. Januar 2010 organisierten Kollegen und Vertrauensleute ab 11.30 Uhr eine weitere Arbeitsniederlegung mit 1.500 Kollegen. Es kam zu einem Demonstrationszug durch das Werk und auf der Hauptstraße um das Werk herum. Nach einer Abschlusskundgebung um 13.15 Uhr gingen die Streikenden ins Wochenende nach Hause. Am 1.2. folgte eine weitere Arbeitsniederlegung. Diesmal auf Druck von unten von der Vertrauenskörperleitung organisiert. In der Früh- und Spätschicht beteiligten sich rund 7.0000 Beschäftigte an Protestdemonstrationen ums Werk. Auch die Nachtschicht nahm die Arbeit nicht auf. Die Streikenden forderten: Keine Lohnkürzung um 8,75%, keine betriebsbedingten Kündigungen. Die Mehrheit des Betriebsrats fiel den Beschäftigten in der Nacht vom 1. auf 2. Februar mit einem Abschluss in den Rücken, der laut Betriebsrat Gerhard Kupfer ein unverbindliches „Wischi-Waschi-Papier“ sei, das nicht mal den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen enthält.