Westerwelle, spätrömische Dekadenz und sozialistische Züge

Zu der Hetze gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen und dem angeblich "sozialen" Urteil des Bundesverfassungsgerichts


 

Nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts machte ein Artikel des Vorsitzenden der Freien Demokratischen Mövenpick-Partei FDP in der "Welt" die Runde.

von Sebastian Fuhr, Essen

„Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein" und „die Hartz-IV-Diskussion trägt sozialistische Züge" krakeelte Vize-Kanzler Guido Westerwelle und erntete Protest – nicht nur von Linken und Gewerkschaften sondern von Parteien, die Hartz IV mit auf den Weg gebracht haben – CDU/CSU, SPD und Grüne. Da musste sogar Westerwelle seinen Kollegen „Scheinheiligkeit" vorwerfen.

Verbale Angriffe gegen Erwerbslose

Der FDP-Chef bekräftigte bei jeder weiteren Gelegenheit seine Aussagen. Es sei eine zynische Debatte, dass sich Arbeitende dafür entschuldigen müssten, dass „sie von ihrer Arbeit etwas behalten möchten". Die Arbeitenden würden „mehr und mehr zu den Deppen der Nation".

In Sachen Scheinheiligkeit steht Westerwelle den anderen bürgerlichen Politikern in nichts nach. Denn die FDP steht wie keine andere Partei für den Angriff auf Löhne und die Rechte der Arbeiterklasse. Die aktuellen Vorhaben der Regierung aus CDU/CSU und FDP in der Steuer- und Gesundheitspolitik sollen die Umverteilung von unten nach oben noch weiter verschärfen.

Westerwelle versucht, mit der Debatte die arbeitende gegen die erwerbslose Bevölkerung auszuspielen. Und wie schon so oft die zu Arbeitslosigkeit verdammten Hartz-IV-EmpfängerInnen als Faulenzer darzustellen, denen es doch „noch viel zu gut" geht. Dieser Spaltungsversuch muss von Gewerkschaften, der Partei DIE LINKE und sozialen Bewegungen zurück gewiesen und bekämpft werden. Dabei muss erklärt werden, dass Erwerbslose Lohnabhängige auf Abruf sind und dass das Erwerbslosenheer zur Lohndrückerei eingesetzt wird. Gerade die Einführung von Hartz IV gab den Kapitalisten ein Erpressungsinstrument an die Hand, dass zu massiven Lohnabsenkungen in den letzten Jahren eingesetzt wurde.

Der Hintergrund ist, dass Teile der aktuellen Bundesregierung offen darüber nachdenken, die Regelleistungen stärker zu kürzen. Das Lohndumping soll damit in die nächste Runde eintreten, denn nach noch niedrigeren Regelsätzen kommen noch niedrigere Niedrigstlöhne. „Es kann nicht sein, dass die Hartz-IV-Bezüge eine Höhe erreichen, dass sich eine Beschäftigung im Niedriglohnbereich nicht mehr lohnt“ so Michael Fuchs, stellvertretender Unionsfraktionsvorsitzender im Bundestag.

Andere bürgerliche Politiker wie der Vorsitzende des NRW-Landesverbandes der FDP Pinkwart drängen auf härtere Strafen für Hartz-IV-Empfänger, die Arbeit verweigern.

Wer ist hier eigentlich dekadent?

Die von Westerwelle bemühte „spätrömische Dekadenz" von Hartz-IV-EmpfängerInnen ist ein schlechter Witz. Ein monatlicher Regelsatz von 359€ für Erwachsene und 207€ für Kinder unter 14 Jahren ist menschenunwürdig! Er ermöglicht weder eine Beteiligung am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, noch eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Wie soll zum Beispiel ein Erwerbsloser mit 11,27 Euro im Monat für den öffentlichen Nahverkehr tatsächlich mobil sein und an kulturellen und sozialen Aktivitäten teilnehmen? In Berlin kann man mit diesem Betrag gerade mal fünf Mal die U-Bahn benutzen – zwei dieser Fahrten gehen zum JobCenter …

Auch die in den Medien immer wieder bemühten Vergleiche des Einkommens der „Hartz IV-Familie“ mit einer „Elektriker-Familie“ sind Propaganda und nebenbei frauenfeindliche, denn sie gehen beim Einkommen der „Hartz IV-Familie“ von den Regelsätzen von Vater und Mutter aus, während die „Elektriker-Familie“ den Vater als Alleinverdiener heran zieht …

Im alten Rom war nur eine Klasse dekadent – die herrschende reiche Klasse, deren Reichtum aus den ausgebeuteten Massen gepresst wurde. Dekadent ist heute die Kapitalistenklasse, die Zetsches und Ackermänner, deren direkte Interessenvertreter in der Regierung sitzen! Diese geben ein Vielfaches eines Regelsatzes oder auch eines Monatslohnes an einem Wochenende aus, wenn sie im Privatjet von Frankfurt/Main an die Cote d"Azur jetten und dort auf einer Privatjacht eine Party feiern.

Bundesverfassungsgericht und sozial?

Das Bundesverfassungsgericht, das mit seinem Hartz-IV-Urteil Anstoß für Westerwelles Aussagen war, ist keine neutrale Instanz, die über den Klassen steht und Gerechtigkeit herbei führen soll und schon gar nicht ist es die Interessenvertretung der Erwerbslosen und auch keine Schützenhilfe sozialer Bewegungen. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist es die allgemeinen Interessen dieses kapitalistischen Systems zur Geltung zu bringen – in der Regel gegen die Masse der Bevölkerung und ab und zu auch mal gegen Teile der herrschenden Klasse, die übers Ziel hinaus schießen.

Mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Gericht nur das Verfahren zur Festsetzung der Regelsätze als verfassungswidrig erklärt, nicht die Höhe der Regelsätze selbst. Während viele Linke das Urteil zuerst als sozial feierten, ist ein genauerer Blick hierauf notwendig. Entgegen der Falschmeldungen aus den Medien, aber auch der Partei DIE LINKE die berichteten, dass Regelsätze für Hartz IV-Empfänger verfassungswidrig seien hat das Bundesverfassungsgericht die Höhe der Regelsätze eben nicht als der Verfassung widerstrebend erklärt.

Das Gericht bejaht eindeutig die asoziale Hartz IV-Politik und hat die Regelleistungskürzung der rot/grünen Regierung und die bewusste Bedarfsunterdeckung von Millionen von Menschen rückwirkend für verfassungsgemäß erklärt und legitimiert.

So findet sich in dem Urteil auch folgende Aussage: „Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist” (Rd.Nr. 155 BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 155).

Hiermit wird also noch die Kürzung des Regelsatzes für Schulkinder als verfassungsgemäß deklariert! Es gab keine sozial-verantwortlichen Tendenzen der Richter, sich mit den Hartz-IV-Regelsätzen zu beschäftigen, sondern allein „kritische Fragen zu den statistischen Verfahren und Maßstäben, die angelegt werden."

Sozialer Protest und Selbstaktivität notwendig

Falsch wäre es, im Widerstand gegen Sozialkahlschlag auf das Verfassungsgericht zu bauen. Klagen gegen Hartz IV gab es nämlich schon zuhauf. Alleine 2009 wurden rund 194.000 erstinstanzliche Verfahren gezählt, alles Klagen gegen Hartz IV. Wirklich gebracht haben diese Gerichtsverfahren nichts.

Gefährlich ist es, Illusionen in das Gerichtsurteil zu schüren. Die Diskussion um massive soziale Angriffe ist im vollen Gange. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, dass die Kopfpauschale im Gesundheitswesen eingeführt werden soll.

Die FDP hat es eilig, auch was die Steuerpolitik und Hartz-IV-Kürzungen angeht. Wichtige Teile der CDU/CSU setzen auf Zeit und wollen bis nach den NRW-Landtagswahlen im Mai warten, um die Schäfchen ins Trockene zu bringen und die Bundesratsmehrheit zu sichern.

Wichtig ist es deshalb, jetzt den Widerstand gegen Sozialabbau auf die Straße zu bringen. Mit den Demonstrationen „Wir zahlen nicht für eure Krise!" am 20.3. in Stuttgart und Essen gibt es einen weiteren Ansatzpunkt für die Bewegung gegen Hartz IV. Notwendig sind Demonstrationen und Streiks – auch ein eintägiger Generalstreik, um den Widerstand aller Betroffenen zu bündeln und einen gemeinsamen Kampf zu ermöglichen.