Der Kapitalismus stellt die Systemfrage – die Linkspartei muss sie beantworten
In der seit langem aufgeschobenen Debatte über ein Parteiprogramm der LINKEN geht es um die politische Identität und den eigentlichen Daseinszweck dieser neuen Partei in der Krise des Kapitalismus. Im Laufe des nächsten Jahres werden hierzu die Weichen gestellt. Die nach der Erkrankung vom Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine hochgespülte Führungsdebatte ist nur ein weiterer Hinweis darauf, dass die Partei einer Richtungsentscheidung nicht mehr länger ausweichen kann.
von Heino Berg, Göttingen
Bei der Gründung der LINKEN wurde die programmatische Basis der neuen Partei nicht geklärt, sondern vertagt. Allerdings geben in der Parteiführung diejenigen den Ton an, die „in der BRD angekommen“ (Lothar Bisky) sind, sich – wie beim Bankenrettungspaket – staatstragend zeigen und nur Reformen im Rahmen des Kapitalismus anstreben.
Die Partei hat heute einen reformistischen Charakter. Bei der Programmdebatte stellt sich aber die Frage, ob dieser Anpassungskurs festgeschrieben wird. Oder ob eine solche programmatische Festlegung verhindert werden kann – und so das mit der LINKEN bestehende Potenzial zum Aufbau einer Partei von Zehntausenden Lohnabhängigen, Erwerbslosen und AktivistInnen gewahrt bleibt. Einer Partei, die einen Bezugspunkt für betriebliche und soziale Kämpfe darstellen kann, Kampagnen organisiert, nach außen geht und in der es einen regen Austausch über politische Fragen und Ziele gibt.
„Programmatische Eckpunkte“
Die von der „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und Links-partei.PDS verabschiedeten „Programmatischen Eckpunkte“ sind eine Ansammlung von Formelkompromissen. Im Schlusskapitel, den so genannten „Nachbemerkungen“, listen sie die noch nicht geklärten Schlüsselfragen auf, deren Beantwortung gerade die Aufgabe eines Parteiprogramms wäre: „Inwieweit müssen (für eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft) auch kapitalistische Eigentumsverhältnisse aufgehoben werden? (…) Welche Bedeutung hat der Bezug auf Klasseninteressen und -kämpfe für unsere Politik? (…) Wie ist das Verhältnis zwischen außenparlamentarischer und parlamentarischer Arbeit zu gestalten? (…) Unter welchen Bedingungen kann sich eine linke Partei an einer Regierung auf Landes- beziehungsweise Bundesebene beteiligen?“
Bis heute sind diese Kernfragen in der Linkspartei nicht grundlegend diskutiert und geklärt worden. Die Antworten, die einzelne Landesverbände und Parlamentarier geben, sind widersprüchlich: In Brandenburg wird ein Koalitionsvertrag mit der SPD unterschrieben, der sich zu massivem Stellenabbau und zum Lissabonner EU-Vertrag bekennt, während die Delegierten in Nordrhein-Westfalen ein Wahlprogramm verabschieden, das sich für das genaue Gegenteil einsetzt.
Fahrplan
Auf Dauer kann dieser Widerspruch nicht unter dem Deckel gehalten werden. Bereits im Oktober 2007 hatte der Parteivorstand eine flügelübergreifende Programmkommission eingesetzt, die bis Mitte 2008 einen ersten Programmentwurf vorlegen sollte. Mit Hinweis auf die anstehenden Wahlkämpfe wurde dieser Auftrag jedoch bisher nicht umgesetzt. Anstatt programmatische Unterschiede in der Kommission – die zwischen den Vertretern des „Forum Demokratischer Sozialismus“, wie der Bundestagsabgeordneten Caren Lay auf der einen, oder Vorstandsmitglied und Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht und der emeritierte FU-Professor Elmar Altvater auf der anderen Seite niemanden überraschen würden –, in alternativen Stellungnahmen für alle Parteimitglieder transparent zu machen, wurde die Debatte auf Eis gelegt.
Inzwischen drängt auch der rechte Parteiflügel auf eine Entscheidung. Denn die SPD-Führung verlangt als „Eintrittspreis“ für ein – inzwischen nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossenes – Regierungsbündnis mit der LINKEN im Bund nicht zuletzt eine Aufweichung der bisherigen Absage an Auslandseinsätze der Bundeswehr, die der Regierungsflügel der LINKEN deshalb in ein „Ausstiegsszenario“ verwandeln möchte, das den Weg in die Hölle des Krieges mit guten Vorsätzen pflastert.
Laut Fraktionschef Gregor Gysi sollen nun im Februar/März 2010 Programm-Thesen vorgelegt werden. Ein erster Entwurf soll dann im Mai folgen, aber auf dem Rostocker Bundesparteitag noch keine Rolle spielen, um die NRW-Wahlen abzuwarten. Die Verabschiedung des Programms ist nun für das zweite Halbjahr 2011 geplant.
WASG und LINKE
Die WASG war im Gegensatz zur PDS weder durch die SED-Vergangenheit noch durch die Regierungspraxis in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern belastet. Sie entstand als Reaktion auf die rot-grüne Agenda 2010 und die Politik des angeblich „kleineren Übels“, mit dem Sozial- und Stellenabbau gerechtfertigt werden. Der Anspruch der WASG, diese Umverteilungspolitik abzulehnen, hatte – vor dem Hintergrund der Anti-Hartz-Proteste – ihren spektakulären Aufschwung und der LINKEN die nachhaltige Veränderung der politischen Landschaft erst ermöglicht. Der Ablehnung jeder Form von Sozialkürzungen sollte auch DIE LINKE in ihrem Programm verpflichtet sein.
System- und Klassenfrage
Ausgangspunkt des Programms der LINKEN sollte eine Analyse des kapitalistischen Systems sein. Anders als die etablierten Parteien darf DIE LINKE die gegenwärtige Krise nicht als eine reine Finanzkrise abtun, sondern muss ausarbeiten, dass solche Krisen auf Basis des Kapitalismus unvermeidlich sind.
Zudem ist die in den „Programmatischen Eckpunkten“ aufgeworfene Frage nach dem „Bezug auf Klasseninteressen“ eine Schlüsselfrage. Die Zugehörigkeit zu einer Klasse bestimmt sich durch die Stellung, die jeder in den ökonomischen Prozessen einnimmt. Folglich sollte die Linkspartei entschieden für diejenigen eintreten, die gezwungen sind, ihre Ware Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen – also „Partei“ ergreifen für Beschäftigte und Erwerbslose (aber auch für Jugendliche und Rentner-Innen).
Wirtschaftspolitik
In den „Eckpunkten“ strebt DIE LINKE keine Vorherrschaft öffentlichen Eigentums an, sondern „sieht im Vorhandensein unterschiedlicher Eigentumsformen eine Grundlage für eine effiziente und demokratische Wirtschaft“. Der Berliner Parteitag lehnte die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien explizit ab und ersetzte dies durch Minderheitsbeteiligungen sowie Mitbestimmungsrechte für die Belegschaften.
Das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft würde jedoch ohne eine Forderung nach Umwälzung der Eigentumsverhältnisse ausgerechnet in der tiefsten Krise des Kapitalismus seit 80 Jahren zu einer hohlen Phrase degradiert, die auch von der Sozialdemokratie in ihrem Hamburger Programm strapaziert werden kann.
Ähnlich vage bleiben die „Eckpunkte“ auch bezüglich der DDR. Sie „verurteilen“ zwar den „Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus“, lassen aber offen, ob sie das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln oder die bürokratische Kontrolle der SED-Clique darüber für den Zusammenbruch der DDR verantwortlich machen. Nötig ist im Programm jedenfalls eine klare Abgrenzung vom Stalinismus als ein System, in dem nicht die arbeitende Bevölkerung, sondern eine abgehobene Bürokratie das Sagen hatte.
Forderungen
Im Programm, aber auch in den Forderungen, die die Partei in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen aufstellt, sollte die – vollständige und dauerhafte – Verstaatlichung, nicht nur der Banken, sondern auch der Konzerne zentral sein. Aufgrund der Erfahrungen mit der DDR, aber auch der Staatsbetriebe in der BRD, ist es unerlässlich, das Ziel der Verstaatlichung mit der Forderung nach demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung zu verbinden.
Friedrich Engels kritisierte das Erfurter SPD-Programm 1891 für die Trennung in Minimal- und Maximalforderungen. In der Tat führte diese Trennung dazu, dass die grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse immer weniger als aktuelle Aufgabe angesehen wurde und Reformforderungen kapitalistischen „Sachzwängen“ zum Opfer fielen. Um so wichtiger ist es heute, Forderungen nach „Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich“, einem „öffentlichen, kostenlosen Bildungs- und Gesundheitswesen“ und der „Verstaatlichung von Banken und Konzernen“ aufzustellen, diese und weitere Forderungen aber nicht vom Ziel einer sozialistischen Gesellschaft abzunabeln.
Regierungsfrage
In den „Eckpunkten“ heißt es: „DIE LINKE wird aber nur unter Beachtung ihrer Grundsätze Koalitionen mit anderen Parteien eingehen. (…) DIE LINKE wird in Regierungen dafür eintreten, öffentliche Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger nicht durch Personalabbau zu verschlechtern und Kürzungen sozialer Leistungen nach Kräften zu verhindern.“
Hier ist der Ausschluss von Personal- und Sozialabbau keine (Minimal-)Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung, sondern lediglich ein Ziel, das DIE LINKE in diesen Regierungen „beachten“ und wofür sie sich „nach Kräften“ einsetzen soll. Wohin diese „guten Vorsätze“ führen, sieht man in Berlin und nun in Brandenburg.
Eine Partei, die sich in der Regierungspraxis am Sozialabbau beteiligt und dann auch noch programmatisch auf sozialistische Perspektiven zur Umwälzung der Produktionsverhältnisse verzichtet, wäre nur eine Kopie der Sozialdemokratie, die letztendlich keinen eigenen Platz in der Gesellschaft hätte. Kein Wunder, dass Parteichef Lothar Bisky perspektivisch auch eine Vereinigung der LINKEN mit der SPD befürwortet, anstatt mit Rosa Luxemburg die sozialistischen Ursprünge der Arbeiterbewegung in konsequenter Opposition zur Sozialdemokratie zu verteidigen.
Aufgaben
MarxistInnen kann der Verlauf des innerparteilichen Ringens um sozialistische Perspektiven nicht gleichgültig sein. Eine weitere Aufweichung antikapitalistischer Positionen würde die politische Linke generell zurückwerfen und könnte – als Reaktion auf enttäuschte Hoffnungen – die extreme Rechte stärken. Deshalb ist eine marxistische Opposition gegen die Linie von Gysi und Co. erforderlich. SAV-Mitglieder werden sich jedenfalls an der Programmdebatte beteiligen und dafür eintreten, dass sie für alle Mitglieder und WählerInnen der Partei geöffnet wird.
Nötig ist aber nicht nur ein sozialistisches Programm, sondern vor allem auch eine Ausrichtung der Partei darauf, Kämpfe gegen Regierungen und Unternehmer anzustoßen, zu unterstützen sowie politisch und programmatisch zu stärken.