(Nicht nur) Sarrazin läuft Amok
Niemand außer Silvio Berlusconi bringt den Rassen- und Klassenhass von oben so offen auf den Punkt wie der Berliner Ex-Finanzsenator und jetzige Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin. Unvergessen seine Ernährungsratschläge für Hartz IV–EmpfängerInnen. Oder seine Empfehlung an frierende Erwerbslose, denen das Amt die höheren Heizkosten nicht zahlt, einfach einen Pullover mehr anzuziehen. Dabei kann der „Sparkommissar“ durchaus spendabel sein, zum Beispiel bei der Senats-Unterstützung des Golfclubs im noblen Berliner Villenvorort Wannsee.
von Michael Schilwa, Sputendorf
In einem Interview mit dem renommierten Kulturmagazin Lettre International wünscht sich Sarrazin nun eine Entwicklung Berlins „von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten“. Bei so was stören Türken und Araber natürlich nur, haben sie doch „keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“. Wenn die Türken und Araber nicht mit Obst und Gemüse handeln, „produzieren sie ständig neue kleine Kopftuchmädchen“. Und das macht sie so gefährlich: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.“
Zuviel Energie aufzuwenden für die Empörung über diese rassistisch-chauvinistischen Rülpsereien lohnt nicht. Belassen wir es bei dem Hinweis, dass die wahren „Sozialschmarotzer“ nicht die vom Kapital gefeuerten und von der Politik zur Armut per Gesetz verdammten Erwerbslosen (egal ob deutscher oder migrantischer Herkunft) sind, sondern die mit den „leistungslosen“ Millionen und Milliarden Einkommen und Vermögen – also die Bosse und die Bonzen oder eben Frühstücksdirektoren wie Sarrazin, bei dem zu Hause der Trend eher zum Zweit-Schnitzel gehen dürfte. Bei einem (laut Bundesbank-Geschäftsbericht) Monatseinkommen von 18.933 Euro wird er sich nämlich kaum an seine eigenen „Unterschicht-Ernährungstipps“ halten.
Die neue Unverschämtheit
Interessanter ist die Frage, ob wir es hier mit einer individuellen Entgleisung zu tun haben oder mit den deutlichen Anzeichen eines gesellschaftlichen „Klimawandels“. Für Letzteres spricht die Tatsache, dass Sarrazin auch mit diesen unsäglichen Thesen keineswegs alleine steht. Die Linie seiner Verteidiger war so schlicht wie vorhersehbar: Meinungsfreiheit versus „politische Korrektheit“ – ein mutiger Querdenker soll von der Meute der Gutmenschen mundtot gemacht werden. In vorderster Front selbstverständlich alle professionellen Islam-Hasser und Reaktionäre der Republik: von Hendryk M. Broder und Ralph Giordano bis zu Hans-Olaf Henkel und Arnulf Baring. Aber es gibt auch ernsthaftere Indikatoren für eine verschärfte Gangart von oben – auch SPIEGEL Online stellte sich unverblümt auf Sarrazins Seite.
Teile und Herrsche: Solange der (noch) gut verdienende Facharbeiter auf den „Hartzie“ herabblickt oder der deutsche Arbeiter auf „die Ausländer“ schimpft, brauchen sich Kapital und Regierung keine Sorgen zu machen. Lohndumping, Entlassungen, Betriebsschließungen, Kopfpauschale, Kündigungsschutz – am Besten lässt sich „durchregieren“, wenn „die da unten“ sich selbst für ihre eigene Lage verantwortlich machen. Je härter der Klassenkampf, desto schärfer auch die ideologische Auseinandersetzung, der Kampf um Deutungshoheiten. Die (noch längst nicht überwundene) ökonomische Krise und der damit verbundene Legitimationsverlust kapitalistischer Herrschaft führen also keineswegs zu einer „neuen Demut“ der blamierten Eliten, sondern im Gegenteil zu einer „neuen Unverschämtheit“.
Die sieht man überdeutlich zum Beispiel bei den so genannten „Wirtschaftsweisen“. Professor Hans-Werner Sinn, in den vergangenen Jahren Hauptstichwortgeber aller Turbo-Deregulierer, erklärt heute, eigentlich schon immer vor dem „Casino-Kapitalismus“ gewarnt zu haben. Und wer für die Krise verantwortlich ist, weiß er natürlich auch: „Der Sozialstaat hat die Unterschicht überhaupt erst hervorgebracht.“ Wer solche „Wissenschaftler“ hat, braucht keine Glaskugeln mehr!
Wohin die Reise gehen soll
Aber kommen wir zu den weniger üblichen Verdächtigen. Zu den lautstärksten Verteidigern Sarrazins zählte der Mode-Philosoph Peter Sloterdiijk. Der geistige Guru sowohl für an die Fleischtöpfe gelangte Alt-68er als auch für bourgeoise Jung-Zyniker warf sich mit Inbrunst der „ganzen Szene der Berufsempörer“ entgegen. Darüber kann sich nur wundern, wer Sloterdijks im Juni in der FAZ vorgestelltes Konzept einer „Ethik der Gabe“ noch nicht kennt: Die öffentlichen Ausgaben sollen künftig nicht mehr aus staatlichen Steuereinnahmen, sondern aus freiwilligen Spenden der Wohlhabenden bestritten werden! Statt diesen unverschämten Unsinn im Kuriositäten-Kabinett abzulegen, diskutierte die „geistige Elite“ Deutschlands den Vorschlag ernsthaft wochenlang, zum Beispiel auf den Feuilleton-Seiten der Frankfurter Rundschau.
Natürlich wird auch eine schwarz-gelbe Bundesregierung so etwas jetzt nicht umsetzen. Gefährlich ist dieses Geschwätz trotzdem, „denn Philosophen arbeiten nicht an Gesetzen, sondern an der ihnen zugrunde liegenden Ideologie“ (Thomas Wagner in der jungen Welt vom 27. Oktober).
Es wird also höchste Zeit, dass der „Pöbel“ die Dinge selbst in die Hand nimmt, und sei es nur, um diese Heerscharen von Kopflangern und Lohnschreibern des Kapitals einer sinnvollen und produktiven Beschäftigung zuzuführen.