In den USA reifen die „Früchte des Zorns“. Neue Aktivenschicht beginnt zu entstehen
In seinem neuen Buch „Sieben Krisen – ein Crash“ konstatiert Winfried Wolf: „Die USA sind im Krisengeschehen auf allen Gebieten einen Schritt weiter.“ Damit hält Nordamerika der Bundesrepublik in Vielem den Spiegel der eigenen Zukunft vor. Nicht gerade gute Aussichten. Denn in der US-Krise, die für Ex-Notenbankchef Alan Greenspan wie ein „Jahrhundert-Tsunami“ wütete, wurden schon über acht Millionen Beschäftigte entlassen. Alle 7,5 Sekunden verliert eine Familie ihr Eigenheim. Mit seinem Wahlkampfslogan „Change“, „Wandel“ traf Barak Obama vor einem Jahr den Nerv. Heute, zwölf Monate später, fragen sich viele: Wandel? Was für ein Wandel?
von Aron Amm, Berlin
Mitte Oktober übertraf der Dow-Jones-Aktienindex wieder die 10.000er Marke. Ein Unternehmen nach dem anderen korrigierte seine Gewinnerwartungen nach oben. Also wieder alles in Butter?
Eine Geschichte zweier Ökonomien?
Während die Großaktionäre von einem „goldenen Oktober“ schwärmten, waren im November zum ersten Mal seit 26 Jahren über zehn Prozent arbeitslos gemeldet, doppelt so viele wie zu Beginn der Rezession im Dezember 2007.
Allein zwischen Juli und September wurden 944.000 Hausbesitzern ihre Hypothek gekündigt. Millionen stehen über Nacht ohne Arbeit, Eigenheim und jegliche soziale Absicherung da. Selbst in Kalifornien sprießen Suppenküchen wie Pilze aus dem Boden. In Los Angeles sind 100.000 Menschen obdachlos. Zeltdörfer entstehen.
In New York werben Restaurants heute mit „recession dinners“: Hot Dog und Bier für fünf Dollar. Jeder Siebte reiht sich in das Heer der Armen ein. Und arm sein bedeutet in den USA oft nicht nur, auf Schnäppchenjagd gehen zu müssen, sondern bereits in der zweiten oder dritten Woche eines Monats kein Geld mehr für eine Mahlzeit aufbringen zu können. „Millionen Amerikaner hungern“, schlagzeilte die FAZ am 18. November. 49 Millionen sollen von Hunger bedroht sein. Und das nicht nach Gewerkschaftsangaben, sondern laut einer Studie des Landwirtschaftsministeriums!
Zur gleichen Zeit zeigen sich die Großaktionäre in Kauflaune. Das verheißt aber keinen neuen Aufschwung. Vielmehr bilden sich erneut spekulative Blasen. Mit Kaufkraftschwund und dem Auslaufen der Abwrackprämie sind weitere ökonomische Einbrüche programmiert.
Gesundheitslüge
Da von 308 Millionen in den Vereinigten Staaten heute 47 Millionen nicht krankenversichert sind, setzten viele ihre Hoffnung in Obamas Versprechen einer umfassenden Gesundheitsreform. Jahrzehntelang hatten betriebliche Versicherungen das staatliche Sozialsystem weitgehend ersetzt. Doch längst ist nicht nur eine kleine Minderheit von prekär Beschäftigten davon ausgeschlossen, sondern auch Millionen weiterer Lohnabhängiger. Wer sich mit Diabetes oder Übergewicht herumschlagen muss, hat kaum eine Chance, eine Police zu ergattern. Auch das ist möglich im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“.
Obama repräsentiert den Teil der Herrschenden, der nicht zuletzt angesichts der grassierenden Entlassungen nur einen Absturz ins Bodenlose vereiteln und damit Massenprotesten den Nährboden entziehen wollte. So schwebte Obama vor, über eine staatliche Regulierung Maßnahmen der Versicherungskonzerne wie die Aufkündigung des Vertrags im Fall längerer oder chronischer Erkrankung zu unterbinden. Private und bereits existierende staatliche Versicherungen wie Medicare (primär für RentnerInnen) und Medicaid (für Verarmte) sollten nebeneinander fortbestehen.
Der Berg kreißte monatelang und gebar eine Maus. Der Gesetzesentwurf sieht einen sanften Druck auf die Konzerne vor, die Beschäftigten die Versicherung vorenthalten möchten. Zudem sollen Nichtversicherte eine Strafe zahlen respektive einen staatlichen Zuschuss für eine Versicherung erhalten. Die Pharmakonzerne, die insgesamt mit 60 Milliarden Dollar jährlich doppelt so viel für Werbung wie für Forschung ausgeben, werden geschont. Das Congressional Budget Office (CBO) schätzt, dass auch zehn Jahre nach Inkrafttreten dieser Reform noch rund 25 Millionen US-AmerikanerInnen ohne Schutz einer Krankenversicherung sein werden.
Und noch mehr Enttäuschungen
Mit dem „Employee Free Choice Act“ sollte die gewerkschaftliche Organisierung in Betrieben erleichtert werden. Dieses Vorhaben ist geblieben, was es vor Obamas Amtseinführung war: lediglich ein Vorhaben – von einer Realisierung weiter denn je entfernt.
Zum Entsetzen wachsender Teile der Bevölkerung führt der neue Friedensnobelpreisträger auch weiter Krieg. Nachdem Obama die US-Truppenstärke in Afghanistan zu Beginn seiner Amtszeit schon um 21.000 Soldaten auf 68.000 erhöht hatte, könnten nun nochmal 30.000 GIs entsandt werden. Zwischen März und September ging die Unterstützung für den Afghanistan-Einsatz in den USA laut CNN von 67 auf 49 Prozent zurück. Nach dem Amoklauf des Armeepsychaters Nidal Malik Hasan in Texas wird der Rückhalt dafür weiter geschwunden sein.
Obama – der Lack ist ab
Als Obama ins Weiße Haus einzog, schnellten seine Sympathiewerte rasant in die Höhe. Über 70 Prozent der Bevölkerung standen hinter ihm. Francesca, New Yorker Lehrerin und CWI-Mitglied, meinte: „Wenn du Kritik an Obama äußerst, wirst du oft erst mal als Rassist eingestuft. So war das jedenfalls bis Sommer.“ Mittlerweile ist die Unterstützung für Obama auf knapp 50 Prozent gesunken. Bei den Gouverneurswahlen in Virginia und New Jersey Anfang November halfen Obamas zahlreiche Wahlkampfauftritte nicht. Die Demokraten mussten ihre Sitze an die Republikaner abgeben.
Allerdings unterscheiden die meisten trotz der Enttäuschung über Obamas Resultate noch immer zwischen ihm und seiner Partei. Viele machen nicht ihn, sondern die Abgeordneten der Demokraten im Kongress verantwortlich.
Nach dem Wahldebakel vor einem Jahr ging in den Reihen der Republikaner die Sorge um, dass sie bis auf Texas und eine Handvoll weiterer Bundesstaaten massiv an Einfluss verlieren könnten. Während sich langjährige Parteigänger abwenden, tummeln sich vermehrt erzkonservative und extrem reaktionäre Kräfte im Republikaner-Lager. Militante rechte Anhänger haben, aufgestachelt vom TV-Sender Fox News, eine Vielzahl von öffentlichen Diskussionsveranstaltungen zur Gesundheitsreform gestört und nicht selten sogar gesprengt. „Das trägt dazu bei, dass die Hauptströmungen der Bürgerlichen sich nicht mehr wie früher zwischen ihren beiden Parteien aufteilen, sondern sich zunehmend auf die Demokraten konzentrieren – und mit divergierenden Positionen im Kongress Obamas Politik blockieren“, so Alan Jones von der SAV-Schwesterorganisation.
Die Erben von Tom Joad
Michael Moore stellt gegen Ende seines neuen Films „ Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ fest, dass dieses System bösartig ist und wie ein Geschwür beseitigt werden muss. Das merken und meinen immer mehr Menschen in den USA. Ein dramatischer Stimmungswandel hat eingesetzt. Nur noch 50 Prozent stellten sich jüngst in einer Umfrage hinter die Marktwirtschaft, 20 Prozent ziehen eine sozialistische Gesellschaft vor; unter Jugendlichen sind es sogar 33 Prozent (obgleich viel Verwirrung vorherrscht, was unter Sozialismus zu verstehen ist). CWI-Mitglieder treten deshalb mit der Parole auf: „Mach mit bei den Sozialisten – für echten Wandel.“
Nicht zuletzt wegen dem Fehlen einer Arbeiterpartei und der fatalen Rolle der Gewerkschaftsbürokratie (die sich bei Chrysler Belegschaftsanteile mit dem Verzicht auf das Streikrecht erkaufte), gibt es noch wenig Arbeitskämpfe. Trotzdem tut sich bereits was. Nach den Großdemonstrationen von MigrantInnen vor wenigen Jahren forderten nun am 11. Oktober 100.000 Menschen in Washington gleiche Rechte für Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle. Dieser weitgehend von einer neuen Generation von AktivistInnen organisierte Protestmarsch war der größte gegen sexuelle Diskriminierung seit über einem Jahrzehnt. Auch hier schwang Frust über Obama mit.
Vor exakt 70 Jahren schrieb John Steinbeck seinen Roman „Früchte des Zorns“ über Tom Joad und seine Familie, die während der Großen Depression ihre Schuldzinsen nicht bezahlen kann und von ihrem bewirtschafteten Land vertrieben wird. Tom Joads Angehörige werden in Streiks hineingezogen und in Kämpfe für Migrantenrechte getrieben. Damit schuf Steinbeck den verarmten Massen, die sich in den Dreißigern gegen das Big Business erhoben, ein literarisches Denkmal. „Der Geist von Tom Joad“, wie Bruce Springsteen vor 14 Jahren textete, wird heute langsam wieder lebendig. Ob bei der sechstägigen Betriebsbesetzung letzten Dezember von „Republic Windows & Doors“ in Chicago, die den 260 Streikenden klar machte, dass „es sich lohnt zu kämpfen“, wie Melvin Maclin, einer der Streikführer, ausrief. Oder der Protest von Rosemary Williams in Minneapolis, die sich am 11. September mit hundert UnterstützerInnen gegen die Räumung ihres Hauses zur Wehr setzte und die Solidarität von Mieterinitiativen bis hin zu Antikriegsorganisationen gewann. Oder aber die Ablehnung des von der Spitze der Autoarbeitergewerkschaft UAW ausgehandelten sechsjährigen Verzichts auf Lohnerhöhungen durch 41.000 Ford-Beschäftigte.