Ein vollständiger Bruch mit dem kapitalistischen Staatsapparat und Privateigentum an Fabriken ist nötig
Jüngst machte der venezolanische Präsident Hugo Chávez Schlagzeilen mit der Verstaatlichung eines Luxushotels und zweier Zuckerfabriken. Mitte Mai hatte das venezolanische Parlament bereits ein Gesetz zur Verstaatlichung der Öl- und Gasbranche beschlossen und über hundert Unternehmen in staatliches Eigentum überführt. In seiner Rede vor der Vollversammlung der UNO Ende September bezog sich Chávez positiv auf Lenin und formulierte für Lateinamerika: „Im Kapitalismus ist Veränderung nicht möglich. Glauben wir den Lügen nicht. Nur im Sozialismus werden wir wirkliche Veränderungen erreichen, und die Revolution in Lateinamerika trägt einen zutiefst sozialistischen Inhalt in sich“. Im Mai sagte Chávez der FAZ: „Wir werden den Kapitalismus begraben.“
Die soziale Lage der verarmten Massen, die ökonomische Krise, der Aufwind der rechten Opposition und die Tendenzen der Bürokratisierung im Staatsapparat sprechen jedoch leider eine andere Sprache. Die Errungenschaften in Venezuela, die vor dem Hintergrund von Massenmobilisierungen erkämpft wurden, sind in Gefahr. Wohin geht Venezuela?
von Lucy Redler, Berlin
Der Kampf gegen Neoliberalismus und Kapitalismus, umfangreiche Sozialprogramme und Alphabetisierungskampagnen und Reden vom „Sozialismus des 21. Jahrhundert“ begeisterten lange nicht nur VenezolanerInnen, sondern auch viele Linke und SozialistInnen weltweit. Im Zuge der ökonomischen und sozialen Entwicklung Venezuelas und aufgrund der Innenpolitik der Regierung scheint sich die Begeisterung und Aktivität der Massen Venezuelas jedoch einzutrüben. Auch die Außenpolitik von Chávez wie die gemeinsame Front mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad führt zu Verwirrung und Abwendung bei Linken und Sozialisten.
Wirtschaft in der Krise
Nach fünf Jahren Wachstum ist die venezolanische Wirtschaft in der Krise. Aufgrund des Fall des Ölpreises und der weltweiten Wirtschaftskrise schrumpfte die Wirtschaft im zweiten Quartal diesen Jahres um 2,4 Prozent. Einige Analysten warnen bereits für 2010 vor einem Minus von ein bis zwei Prozent.
Venezuela exportiert hauptsächlich Öl: Der Export davon macht 90 Prozent aller Ausfuhren aus. Die Hälfte des bisherigen Haushalts basiert auf Öleinnahmen. Mit dem drastischen gefallen Preis von 86 Dollar pro Barrell im August 2008 auf jetzt um die 40 US-Dollar bricht ein großer Teil der Einnahmen weg, aus dem die Regierung ihre Sozialprogramme finanziert.
Bereits jetzt lebt – aller sozialen Verbesserungen zum Trotz – immer noch ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze (zu Beginn von Chávez Amtszeit waren es 50 Prozent). Wenn die Einnahmen im Zuge der Krise weiter wegbrechen, droht auf kapitalistischer Grundlage eine dramatische Zunahme von Armut, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit. Schon jetzt hat die Regierung die Mehrwertsteuer um drei Prozent angehoben und Ausgaben um 30 Prozent gekürzt. Diese Maßnahmen werden vor allem die arme Bevölkerung treffen.
Zu weiterem Unmut in der einfachen Bevölkerung führt, dass die Inflationsrate weiterhin sehr hoch ist und auch im kommenden Jahr zwischen 20 und 26 Prozent betragen soll.
Unterstützung bröckelt
In der Vergangenheit sind zu mehreren Anlässen Hunderttausende Menschen zur Verteidigung der Chávez-Regierung auf die Straße gegangen. Angriffe oder gar ein Putschversuch der rechten Opposition konnten durch aktive Massenmobilisierungen und Initiativen von unten verhindert werden.
Diese aktive Unterstützung scheint jedoch zu bröckeln. Bei den letzten Regionalwahlen im November 2008 und beim Referendum zur Änderung der Verfassung im Februar 2009 verlor Chávez an Unterstützung. Nur 54 Prozent stimmten für die Änderungen der Verfassung. Chávez konnte zwar die Regionalwahlen in den meisten Provinzen gewinnen, die rechte Opposition ging jedoch gestärkt aus den Wahlen hervor.
Der Grund für die sinkende Identifikation der Massen mit der Regierung und die entstehende Müdigkeit und Resignation ist neben dem Unmut über die soziale Lage, das langsame Tempo von Verbesserungen, die wachsende Korruption und hohe Kriminalitätsrate auch die Unzufriedenheit über die Bürokratisierung im Staatsapparat und der neuen Partei PSUV von Chávez (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuela). Bei jüngsten Umfragen liegt die PSUV gerade mal bei 32,3 Prozent Zustimmung (venezuelanalysis.com), wobei die Zustimmungsraten für Hugo Chávez weitaus höher liegen.
Der nächste Parteikongress der PSUV beginnt am 21. November. Seit Ende Oktober laufen die Delegiertenwahlen zum Kongress. Für Unmut sorgt, dass die PSUV-Führung vor der Delegiertenwahl in jeder Region eine Auswahl der KandidatInnen trifft, die gewählt werden können. Dieses undemokratische Wahlverfahren hat zur Folge, dass sich kritische KandidatInnen kaum durchsetzen können.
Ende diesen Jahres finden Parlamentswahlen statt. Die rechte Opposition scheint ihre Taktik geändert zu haben: Weg von konspirativen Putschversuchen und hin zu dem Versuch „demokratisch“ Mehrheiten zu erobern durch Mobilisierungen auf der Straße und Wahlen. War es früher aufgrund der klaren Ablehnung durch die Massen noch undenkbar, dass die Führer der Opposition in öffentlichen Institutionen Wahlkampf betreiben und politisch auftreten, werden sie von der Masse der Bevölkerung heute nicht mehr daran gehindert.
Stagnation = Rückschritt
„Stagnation bedeutet Rückschritt“ formulierte bereits Rosa Luxemburg treffend. Die Prozesse in Venezuela sind ein Beleg dafür: Wenn der revolutionäre Prozess nicht weiter voran schreitet, sondern stagniert, kann die rechte Opposition an Unterstützung gewinnen.
Momentan sieht es nicht danach aus, als würde die Opposition auf einen Putsch gegen Chávez setzen. Der Putsch gegen den honduranischen Präsident Zelaya zeigt jedoch, wie weit die rechte Opposition bereit ist zu gehen, wenn sie erstmal Morgenluft wittert und wie schnell soziale Errungenschaften in Gefahr geraten können.
Wenn die Regierung Chávez, gestützt auf die Mobilisierung der Massen, nicht den Bruch mit dem Kapitalismus und dem kapitalistischen Staatsapparat vollzieht, können die Errungenschaften nicht von Dauer sein und Armut und Arbeitslosigkeit nicht beseitigt werden. Eine grundlegende Verbesserung der Lebensverhältnisse der Mehrheit der Bevölkerung ist nur möglich durch eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft.
Vollständiger Bruch mit System nötig
Die Politik der Regierung Chávez scheint jedoch keinem klaren Plan zu folgen. Die bisherigen Verstaatlichungen sind weder vom Ausmaß besonders umfassend noch stellen sie einen radikalen Bruch mit den Eigentümern dar. In vielen Bereichen sind private Konzerne weiterhin beteiligt. So investiert beispielsweise der französische Konzern Total derzeit 17 Milliarden Euro in die weitgehend staatliche Ölförderung.
Auch der Umfang der Verstaatlichungen ist nicht so umfassend: Aufgrund des Wachstums vor der Rezession ist der private Sektor der Wirtschaft heute sogar noch größer als zu Chávez Amtsantritt. In Nicaragua war die Konterrevolution möglich, weil die Sandinisten 1979 nicht gewillt waren, vollständig mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln und dem Kapitalismus zu brechen. Das könnte auch Venezuela drohen, wenn es nicht zu einem Bruch mit dem System kommt.
Revolution oder Konterrevolution
Ganz Lateinamerika steht vor einer Epoche von Revolution und Konterrevolution. In Venezuela stellt sich diese Frage in aller Schärfe. Im ersten Halbjahr 2009 gab es eine Zunahme von Streiks. Die Zunahme der Krise kann dazu führen, dass Chávez durch den Druck der Massen zu weitergehenden Maßnahmen gedrängt wird. Das ist aber aufgrund der sinkenden Begeisterung der Massen alles andere als sicher.
Die Einführung von Verschlechterungen wie Ausgabenkürzungen einhergehend mit einer Propaganda für den „Sozialismus des 21. Jahrhundert“ führt bei den Massen eher zur Verwirrung als zu Klarheit über die anstehenden Herausforderungen.
Momentan stützt sich Chávez einerseits auf die Massen und fordert den US-Imperialismus weiter heraus. Andererseits sucht er immer wieder einen Ausgleich und die Vermittlung zwischen den Interessen der Arbeiter, Bauern und der verarmten Masse der Bevölkerung einerseits und den Interessen des Kapitals und Großgrundbesitz andererseits. Mit einer Zuspitzung der ökonomischen und politischen Situation wird der Druck auf die Regierung weiter steigen.
Rolle der arbeitenden und verarmten Bevölkerung
Die bisherigen Errungenschaften können nur gegen den Druck der rechten Opposition und des US-Imperialismus verteidigt werden, wenn die Massen sie aktiv verteidigen und nicht nur einzelne Betriebe, sondern die gesamten Schlüsselbereiche der Wirtschaft verstaatlicht werden, die bisher in den Händen von fünf reichen Familien Venezuelas sind. Entschädigungen sollten bei Enteignungen nur bei erwiesener Bedürftigkeit gezahlt werden.
Es geht bei den Enteignungen jedoch nicht nur um eine Verteilungsfrage, sondern darum, wer die Macht innehat: die alte venezolanische Elite oder die arbeitende Bevölkerung Venezuelas?
Nötig wäre ein Aufruf an Beschäftigte ihre Betriebe zu besetzen und die Kontrolle über die Betriebe selbst zu übernehmen als erster Schritt zu Arbeiterverwaltung. Die verstaatlichten Betriebe müssten Teil eines nationalen demokratischen Produktionsplans werden.
Ähnliche Komitees müssen in der Armee, in Gemeinden, Unis und Schulen aufgebaut werden und sich lokal, regional und national vernetzen. Dies wäre die Basis für eine Regierung der ArbeiterInnen und verarmten Landbevölkerung, die den alten kapitalistischen Staatsapparat ersetzen kann.
Für eine Verteidigung der Errungenschaften und eine erfolgreiche Revolution ist eine demokratische sozialistisch-revolutionäre Partei nötig. CWI-Mitglieder setzen sich innerhalb der PSUV für demokratische Strukturen und ein revolutionäres Programm ein. Eine solche Partei kann ein Forum bilden, um über die weiteren Schritte im revolutionären Prozess zu diskutieren und dafür zu kämpfen, dass der Sozialismus im 21. Jahrhundert in Venezuela und international Wirklichkeit wird.