Europawahlen: Absage an Große Koalition, schallende Ohrfeige für SPD und enttäuschendes Linkspartei-Ergebnis
Als Generalprobe für die Bundestagswahl im September sind die Europawahlen aus Sicht der Regierungsparteien gründlich missglückt. Das Abschneiden der SPD war desaströs. Aber auch die Union büßte über ein halbes Dutzend Prozentpunkte ein.
DIE LINKE gewann zwar gegenüber dem Resultat der PDS vor fünf Jahren dazu, schnitt mit 7,5 Prozent jedoch schlechter ab als bei der Bundestagswahl 2005 (als sie auf 8,7 Prozent kam) und konnte ihr Potenzial bei Weitem nicht ausschöpfen.
von Aron Amm, Berlin
Vor den Europawahlen warb die Europäische Union im Internet mit „zehn guten Gründen“ für die Wahlbeteiligung. Wer sein Kreuz macht, bestimmt mit, hieß es – auch auf den Wahlplakaten etablierter Parteien in der Bundesrepublik landauf landab. Alles Lüge. Initiativrecht hat nur die, von niemand wähl- und abwählbare, Europäische Kommission. Das Europäische Parlament hat in Europa noch weniger zu melden als der Bundestag auf deutscher Ebene. Dafür kassieren die Abgeordneten in Brüssel und Strasbourg um so exorbitanter ab.
Ablehnung des Establishments
Europaweit brach die Wahlbeteiligung auf 43,39 Prozent weiter ein. In Deutschland gingen ebenfalls nur 43,3 Prozent zur Wahl, damit verharrte man auf dem Rekordtief von 2004. In Berlin gaben sogar nur ein Drittel der Wahlberechtigten, in Brandenburg lediglich 29 Prozent ihre Stimme ab. Das hat nicht mit „Europamüdigkeit“ zu tun, wie in den bürgerlichen Gazetten lamentiert wird. Beim Widerstand auf der betrieblichen Ebene nimmt das Interesse an den Nachbarländern, konkret an grenzüberschreitenden Aktivitäten seit Monaten zu: ob bei Continental, Opel oder Federal Mogul. Aussagen wie „So wie in Frankreich oder Griechenland müssten wir uns hier auch wehren“ sind immer öfter zu hören.
Die geringe Teilnahme am Urnengang drückt ein tiefes Misstrauen gegen die Europäische Union aus. Aus gutem Grund: War die EU doch jahrelang Motor für neoliberale Maßnahmen, höhlte Arbeitnehmerrechte aus und zielt mit dem Lissaboner Vertrag auf eine weitere Umverteilung von unten nach oben ab.
Regierungsparteien abgestraft
Die Union verlor gegenüber den letzten Europawahlen 2004 fast sieben Prozent und erhielt 37,9 Prozent der Stimmen. Die SPD kam nur mit Ach und Krach über die 20-Prozent-Marke und fiel gegenüber ihrem historischen Tief von vor fünf Jahren (21,5 Prozent) noch einmal auf 20,8 Prozent zurück. Nimmt man alle Wahlberechtigten, so hat die Große Koalition nicht mal mehr bei einem Drittel Rückhalt!
Diese Abfuhr bezieht sich nicht vorrangig auf eine Kritik an bestimmten Europa-Abgeordneten der Regierungsparteien. Zwar erfreuen diese sich bestimmt nicht großer Beliebtheit, doch unterstreichen alle Umfragen, dass bei den meisten WählerInnen Programm und Politik im Bund ausschlaggebend waren: So nannten bei Infratest Dimap 56 Prozent die Bundespolitik und gerade mal 25 Prozent die Europapolitik für ihre Wahlentscheidung zentral.
Gleiches gilt für die meisten der insgesamt 27 EU-Mitgliedsstaaten. Ob in Großbritannien, Spanien, Portugal, Ungarn oder Slowenien – hier und in weiteren Ländern waren die jeweiligen Regierungsparteien die Verlierer. In Frankreich konnte sich Premier Nicolas Sarkozy zwar behaupten, allerdings um den Preis, dass er auf Grund der Gegenwehr von Beschäftigten, Schüler- und StudentInnen sein Tempo bei den Attacken auf den Lebensstandard deutlich drosseln musste.
Zwar titelte SPIEGEL Online: „Europa steuert nach rechts.“ Doch sind die Gewinne für die Konservativen vorrangig darauf zurückzuführen, dass die Sozialdemokratie in mehr Ländern Regierungspartei ist und dementsprechend von der Ablehnung der Regierungskräfte besonders betroffen war. Dass es nicht um einen allgemeinen Rechtsruck, sondern in den meisten Fällen um ein Votum gegen die jeweilige Ministerriege ging, zeigt zum Beispiel Griechenland: Dort setzte sich der Abschwung der seit 2004 allein regierenden Nea Dimokratia fort, wodurch in diesem Fall die sozialdemokratische Opposition PASOK profitieren konnte.
Der Wahlausgang bedeutet aber auch eine ernste Warnung für die Arbeiterbewegung europaweit. In den Niederlanden, in Österreich, Dänemark, Ungarn oder Rumänien konnten auch rechtspopulistische und rechtsradikale Formationen punkten. In Deutschland spielten die Kandidaturen von Republikanern und DVU bei den Europawahlen keine große Rolle. Allerdings könnte die NPD, aber auch eine möglicherweise entstehende populistische Partei am rechten Rand bei künftigen Wahlen besser abschneiden. Um so notwendiger ist es, gegen Rechts zu mobilisieren, die Gefahr der Spaltung der Arbeiterklasse aufzuzeigen und auf der politischen Ebene Interessenvertretungen für ArbeiterInnen und Erwerbslose aufzubauen beziehungsweise bei schon bestehenden Ansätzen für einen kämpferischen Kurs und eine unmissverständlich antikapitalistische Ausrichtung zu streiten.
Debakel für die SPD
Bei den bürgerlichen Politikern ist es Usus, das eigene Ergebnis am Wahlabend schönzureden, ganz gleich, wie es ausfällt. Dass aber nicht einmal jeder zehnte Wahlberechtigte für die Sozialdemokratie votierte, verschlug selbst den SPD-Spitzen die Sprache. 2004 waren sie von gut dreißig Prozent um zehn Prozent abgestürzt. Damit hatten sich die WählerInnen bei der Schröder-Regierung für die ein Jahr zuvor beschlossene Agenda 2010 gerächt (die Union war damals im Bund Opposition). Parteichef Franz Müntefering und Konsorten erwarteten nun, ihr diesjähriges Abschneiden – das ihren Erwartungen nach in jedem Fall über der Pleite von 2004 liegen sollte – als Aufwärtstrend verkaufen zu können. Jetzt mussten sie erfahren, dass die arbeitende Bevölkerung nicht vergessen hat, wer sich für die Hartz-Gesetze hauptverantwortlich zeichnet. Zumal die Partei mit Frank-Walter Steinmeier den Architekten des Agenda-Kurses zum Kanzlerkandidaten gekürt hat. Die populistischen Töne, Opel oder Arcandor vor der Insolvenz retten zu wollen, halfen da nicht. Bei vielen Lohnabhängigen ist der Hass gegenüber der SPD, die trotz ihrer bürgerlichen Führung bis in die neunziger Jahre hinein noch einen Fuß im Arbeiterlager hatte, besonders ausgeprägt. So konstatierte die Berliner Zeitung am 8. Juni: „Die SPD konnte weder ihr Potenzial un ter Arbeitern noch im großstädtischen Milieu ausschöpfen.“ Das trifft zu, abgesehen davon, dass das frühere „Potenzial“ in der Form gar nicht mehr existiert.
Der 7. Juni offenbarte auch, dass die Gewerkschaftsoberen mit ihrer kaum versteckten SPD-Wahlhilfe abschmierten. Und das, obwohl sie rechtzeitig vor den Europawahlen mit der SPD ein gemeinsames Papier verfassten, die bundesweite Demonstration am 16. Mai als Wahlkampfunterstützung missbrauchten und vom „kleineren Übel“ (SPD wählen, um FDP und Union zu verhindern) schwafelten.
Verluste für die CDU
Kanzlerin Angela Merkel und Anhang waren am Wahlabend erleichtert. Das speiste sich jedoch nicht aus eigenen Zugewinnen, sondern aus der Tatsache, im Vergleich zur SPD mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Die Union verlor nicht nur im Bund über sechs Prozent verglichen mit 2004. Gerade in einigen Bundesländern, in denen sie am Ruder ist, brach sie auch bei den Kommunalwahlen ein. So bekam sie im Saarland – acht Wochen vor der dortigen Landtagswahl – knapp sieben Prozent weniger als bei den letzten Kommunalwahlen.
Gefeiert wurden innerhalb der Union vor allem die 49,5 Prozent der CDU in Bayern. Allerdings zeigt gerade der erdrutschartige Einbruch bei den Landtagswahlen – „das 43-Prozent-Debakel“, so die Financial Times Deutschland – im vergangenen Herbst, dass nicht nur die SPD, sondern auch die traditionellen bürgerlichen Parteien von der Destabilisierung der politischen Verhältnisse erfasst werden. Verglichen mit 2004 hat die CSU, wenn auch nur leicht, ebenfalls verloren – und fiel von acht auf 7,2 Prozent, bundesweit gerechnet, zurück. Geholfen hat ihr, im Vorfeld der Europawahlen auf Abstand zur Merkel-Regierung gegangen zu sein. Das galt für den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer, und das galt auch für den neuen Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg.
Sind FDP und Grüne die Gewinner?
Die FDP steigerte sich von 6,1 auf elf Prozent, die Grünen legt kaum, von 11,9 auf 12,1 Prozent, zu. Das verheißt keine dauerhafte Stärkung der FDP und der grünen Partei als Öko-FDP. Zu Gute kam beiden vielmehr der Umstand, im Bundestag gegenwärtig auf den Oppositionsbänken zu sitzen. Auch wenn die bürgerlichen Kommentatoren gerade über die FDP-Gewinne erfreut sind, so konnten diese nicht einmal die CDU-Verluste ausgleichen, geschweige denn die Stimmrückgänge der Großen Koalition als Ganzes.
Generell kommen hier Verschiebungen innerhalb des bürgerlichen Lagers zum Ausdruck. So konnten die Grünen auch bei den Kommunalwahlen gerade dort beträchtlich zulegen, wo die CDU als Regierungspartei in den Landtagen und Rathäusern Unmut auf sich gezogen hat. Das gilt beispielweise für Stuttgart – dort steigerten sich die Grünen (nicht zuletzt wegen der brennenden Frage „Stuttgart 21“) von 18,7 auf 27 Prozent, gleichzeitig patzte die CDU und fiel von 32,9 auf 26,5 Prozent ab (die SPD fiel von 22,8 auf 15,5 Prozent zurück).
Als Regierungspartei halbierten die irischen Grünen bezeichnenderweise ihr Stimmergebnis von vier auf zwei Prozent und verloren unter anderem alle kommunalen Mandate in Dublin (während die dortige SAV-Schwesterorganisation Socialist Party mit Joe Higgins nicht nur ins Europaparlment einzog, sondern auch ihre Stadtratspositionen eindrucksvoll verteidigen beziehungsweise noch ausbauen konnte).
LINKE enttäuscht auf ganzer Linie
Gegenüber dem Abschneiden der PDS 2004 legte die Linkspartei um 1,4 Prozent auf 7,5 Prozent zu. Angesichts des Einbruchs der SPD und der wachsenden Wut auf die Bundesregierung hat DIE LINKE vor dem Hintergrund von Weltwirtschaftskrise und beginnender Entlassungswelle ihre Möglichkeiten jedoch um Längen verfehlt. Kein Wunder, dass es bei der Wahlparty im Karl-Liebknecht-Haus bei der ersten Hochrechnung über den SPD-Sinkflug mehr Beifall gab als über das dürftige eigene Abschneiden. Kein Wunder, dass auch das Neue Deutschland am 8. Juni feststellte: „Es lässt sich nicht schönreden“, die weit verfehlten 10 + x Prozent „sind eine Schlappe“.
Wenn Spitzenkandidat Lothar Bisky das Resultat damit zu erklären versucht, dass die LINKEN-Anhänger mit Europa angeblich wenig anzufangen wüssten, ist dies ein Armutszeugnis. In ihrem Kurzwahlmanifest schrieb die Linkspartei: „DIE LINKE will, dass die Europäische Union friedlich, sozial, demokratisch und ökologisch wird.“ Statt die Illusion zu verbreiten, diese EU „sozial“ gestalten zu können, wäre eine entschiedene Positionierung gegen das EUropa der Banken und Konzerne nötig gewesen.
Wie die anderen Parteien, so wurde auch DIE LINKE primär für ihre Politik auf Bundesebene bewertet. Und hier rächt es sich, dass kein kämpferisches, antikapitalistisches geschweige denn sozialistisches Profil zu erkennen ist. Die Parteispitze, allen voran die Führung der Bundestagsfraktion, gibt sich immer staatsmännischer. Ob politische Unterstützung des Bankenrettungspakets, ob der Ruf nach Mitarbeiterbeteiligung bei Opel und Co. statt einer offensiven Forderung nach Überführung von Konzernen, die massenhaft Stellen streichen, in öffentliches Eigentum oder aber der Schulterschluss mit SPD und Grünen in der Bremer Bürgerschaft für Staatsbürgschaften und damit Unternehmergeschenke für Arcandor.
Da die Führung der LINKEN keine sozialistische Perspektive einnimmt und dabei stehen bleibt, im Rahmen des Kapitalismus zu agieren, akzeptiert sie die Logik des Profitsystems und zeigt sich unfähig, einen grundlegenden Konflikt mit der Unternehmerseite und ihren politischen Repräsentanten einzugehen. Zwar trat zum Beispiel der nordrhein-westfälische Landesverband für die Verstaatlichung von Opel ein. Die Parteispitze jedoch – und das dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung – bemüht sich verzweifelt, die Eigentumsfrage zu umschiffen. Wenn ein Konzern nach dem anderen jedoch auf Basis von Überkapazitäten und Profiteinbrüchen Werke schließt und Belegschaften dezimiert, dann sind die Vorschläge von Gregor Gysi und Co. so viel wert wie ein durchlöcherter Regenschirm bei einem Wolkenbruch.
Sowohl bezüglich der Programmatik als auch im Hinblick auf das Erscheinungsbild der Partei wird sie von den meisten Beschäftigten, Erwerbslosen und Jugendlichen nicht als fundamental anders gesehen als die politische Konkurrenz. Dass die Linkspartei gerade in Stuttgart und Mannheim bei den Kommunalwahlen nur auf katastrophal niedrige vier beziehungsweise 4,5 Prozent kam – also in industriellen Zentren, in denen bei der Arbeitsplatzvernichtung eine Hiobsbotschaft auf die nächste folgt -, ist erschreckend. Zwar hat DIE LINKE einige engagierte betriebliche AktivistInnen in ihren Reihen und zählt mehrere Untergliederungen, die Solidaritätsarbeit für KollegInnen leisten und den Kampf gegen die Streichung von Betrieben und Stellen unterstützen. Doch auf Bundesebene ist die Partei weit davon entfernt, im Bundestag, in den Talkshows, in den Stadtteilen, an den Arbeitsplätzen die kapitalistische Krisenpolitik und das dieser Politik zu Grunde liegende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem offensiv anzuprangern und Forderungen wie „Enteignung von Jobkillern“, „Demokratische Kontrolle und Verwaltung von verstaatlichten Banken und Konzernen durch die arbeitende Bevölkerung“ oder „Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich in großen Schritten“ als Antworten auf die herrschende Politik aufzustellen und dafür auf allen Ebenen aktiv zu mobilisieren.
Lage in der BRD und die Linkspartei
Vor einem Jahr lag DIE LINKE in Umfragen noch bei bis zu 14 Prozent. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Die globale Rezession hat die Bundesrepublik inzwischen voll erfasst. Immer mehr erkennen oder erahnen zumindest, dass der Kapitalismus ihnen nichts anzubieten hat. Hätte die Führung der LINKEN die letzten zwölf Monate genutzt, als Totengräber statt als Arzt am Krankenbett dieses Systems in Erscheinung zu treten, und offensiv aufzuzeigen, dass man mit den Schickedanzens und Schaefflers nichts zu schaffen hat und diese enteignen möchte, dann hätte man am 7. Juni nicht Federn lassen müssen.
Noch sind viele Belegschaften von einer Unsicherheit gefangen genommen. Noch hat der Klassenkampf sich in Deutschland nicht verallgemeinert Bahn gebrochen. Die Linkspartei hätte mittels ihrer Möglichkeiten zum einen aber KollegInnen und AktivistInnen ihrerseits politisch stärken und ermutigen können – und damit die Ausgangslage für Gegenwehr verbessern können. Und zum anderen hätte sie als konsequente Interessenvertretung von Beschäftigten, Erwerbslosen, Jugendlichen, RentnerInnen auf der Wahlebene zulegen und auf der Basis eines solchen Kurses mit Rückenwind in die nächsten betrieblichen und sozialen Auseinandersetzungen sowie Wahlkämpfe gehen können.
DIE LINKE: Kurswechsel einleiten!
Gregor Gysi und andere Vertreter der Parteiführung beklagten im Anschluss an die Europawahlen innerparteiliche Streitigkeiten. Damit soll einerseits von der eigenen Verantwortung für die „Wahlschlappe“ abgelenkt werden. Andererseits wollen Gysi und Co. linke Kräfte in der Partei einschüchtern und eine dringend nötige Debatte über einen Kurswechsel im Keim ersticken.
Was schadet, ist nicht eine gewissenhafte Bilanz des Wahlergebnisses mit der absolut erforderlichen weitreichenden Korrektur der jetzigen Linie, was schadet, ist vielmehr eine Aussage, wie sie Andre Brie gerade gegenüber dem SPIEGEL gemacht hat: „Aus dem Kampf gegen die SPD und die Grünen muss der Kampf um diese werden.“ Dabei ist der Kurs der Parteiführung längst von einer Orientierung auf Regierungsbündnisse mit der SPD beziehungsweise Rot-Grün (wie vor allem in den Landtagswahlkämpfen im Sarland und in Thüringen) geprägt. Die Zusammenarbeit mit den Hartz-Parteien führt nicht nur perspektivisch zur Beteiligung an Sozialkürzungen (wie in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und anderswo geschehen), sondern schadet schon jetzt an der Wahlurne.
Jetzt gilt es, in der Partei die Alarmglocken zu läuten und beim Bundesparteitag am 20. und 21. Juni sowie in den verschiedenen Gliederungen einen inhaltlichen und praktischen Kurswechsel einzufordern.
Aussichten
Die Bundesbank erwartet in ihrer jüngsten Prognose, dass das Bruttoinlandsprodukt 2009 um 6,2 Prozent schrumpft. Es zeichnet sich bereits ab, dass die Kurzarbeitergeld-Politik wohl nicht, wie die etablierten Parteien hoffen, Massenentlassungen bis zur Bundestagswahl hinauszögern kann. Nicht nur bei den Autozulieferern, auch bei einer wachsenden Zahl von Industrieriesen nehmen die Indizien auf größere Stellenstreichungen ab Sommer zu. Nicht nur bei Opel ist die Gefahr der Insolvenz keineswegs gebannt, im Einzelhandel, bei den Werften und anderswo drohen entweder Konkursverfahren oder werden solche bereits eingeleitet. Zudem wird eine Agenda 2020 nach den Wahlen am 27. September alles in den Schatten stellen, was an Demontage der sozialen Sicherungssysteme bisher stattgefunden hat.
Durch die Talfahrt der SPD wittern die Kräfte im bürgerlichen Lager Morgenluft, die die Unternehmerprofite noch rasanter und rücksichtsloser auf Kosten der Arbeiterklasse sanieren möchten als das Kabinett Merkel/Steinmeier, das Wählereinbrüche befürchtet. So hebt die FAZ vom 8. Juni hervor: „Die Sozialdemokratisierung der CDU unter Angela Merkel bescherte der Europa-Partei schlechthin das schlechteste Ergebnis, das sie je bei einer Europawahl erzielt hat.“ Der Mehrheit der Herrschenden war die Große Koalition schon immer ein Dorn im Auge. Die Financial Times Deutschland titelte am Tag danach nun: „EU-Wahl lässt Schwarz-Gelb träumen.“ Oben auf ihrem Wunschzettel stehen Punkte wie: weniger Staatshilfen für kränkelnde Unternehmen (Vernichtung von Kapital in der Hoffnung, Konkurrenten aus dem Weg zu räumen und so den Grundstein für eine konjunkturelle Erholung zu legen), erhebliche Senkungen der Unternehmenssteuern, eine Mehrwertsteueranhebung und forcierten Sozialkahlschlag.
Zwar ist eine Neuauflage von Rot-Grün sicherlich in weite Ferne gerückt. Weitsichtigere Teile des Kapitals sind sich allerdings auch darüber bewusst, wie instabil die ökonomischen und politischen Zustände sind und dass eine CDU/CSU/FDP-Koalition alles andere als sicher ist. Dennoch werden nach dem Verlauf der Kommunal- und Europawahlen am 7. Juni die Töne, die auf einen agressiveren Kurs gegenüber den arbeitenden und erwerbslosen Menschen setzen, lauter werden.
Die Angst vor Arbeitslosigkeit beschäftigt die Masse der Bevölkerung mehr als alle anderen Fragen. Die Entfremdung vom Establishment steigt weiter, wie die EU-Wahlen unterstreichen. Wut und Kampfeswille nehmen zu. Der erste unbefristete Streik in der Krise, der bei Federal Mogul ausgerufen worden war, der Protest bei Mahle in Alzenau, der eine ganze Region erfasste, oder auch die anhaltenden Arbeitsniederlegungen der Kita-Beschäftigten, die in der Wirtschaftskrise entschlossene Gegenwehr auf die Beine stellen möchten, zeigen, dass es bei immer mehr Beschäftigten brodelt. Wenn ernsthafte Angebote gemacht werden, findet das fast durch die Bank großen Widerhall.
Allerdings besteht bei vielen weiterhin eine abwartende Haltung. Ein Großteil hofft, dass der Kelch „Jobverlust“ an ihnen doch noch vorübergehen könnte. Das ist nicht zuletzt der DGB-Spitze geschuldet, die Verzicht predigt, Co-Management betreibt und den Klassenkampf von oben nicht durch konsequenten Widerstand von unten kontern will. Die Führung der LINKEN könnte auch dazu beitragen, die Kampfbedingungen nachhaltig zu verbessern, wenn sie die Arbeiterbewegung mit klaren antikapitalistischen Antworten und vorwärtsweisenden Kampfvorschlägen bewaffnen würde. Und das ist dringender denn je. Dies führt eine Auswertung der Wahlen vom Wochenende eindeutig vor Augen.
Dementsprechend müssen jetzt die Ansätze für Proteste aufgegriffen und verstärkt werden – mit dem Ziel, eine bundesweite Protest- und Streikbewegung aufzubauen. Das muss aber damit Hand in Hand gehen, in der Linkspartei – gerade am Vorabend des Bundesparteitags – den Kampf gegen Regierungsbeteiligungen und für eine klassenkämpferische und sozialistische Ausrichtung der Partei zu intensivieren.