Chinesisches Regime befürchtet neue Revolte
Am 10. März 2009 vor fünfzig Jahren begann der tibetische Aufstand gegen die chinesische Herrschaft. Dieses Datum markiert nur eines in einer ganzen Reihe von Ereignissen, die sich 2009 jähren und denen das chinesische Regime mit Nervosität entgegensieht. Aufgrund der spürbar um sich greifenden Wirtschaftskrise und einer auf Rekordhöhe ansteigenden Arbeitslosigkeit in ganz China fürchtet die Regierung, dass diese Jahrestage zum Kristallisationspunkt für die wachsende Unzufriedenheit werden könnten. Für den 20. Jahrestag des Massakers auf dem Platz des himmlischen Friedens / Tian"anmen-Platz am 04. Juni trifft dies in besonderem Maße zu. Nach den Protesten im Autonomen Gebiet Tibet im vergangenen Jahr und deren gewaltsamen Niederschlagung jedoch wirft der März 09 ein weiteres Schlaglicht auf das Jahr, das zu einem Revoltejahr werden könnte.
von Greg Maughan
In Vorbereitung auf diesen Jahrestag forderte die chinesische Führung das größte Personenkontingent an Einsatzkräften seit dem Erdbeben in Sichuan im vergangenen Frühling an. In Tibets Hauptstadt Lhasa gilt weiterhin eine abendliche Ausgangssperre. Verzweifelt damit beschäftigt, eine Wiederholung der Ereignisse des letzten Jahres zu verhindern, als 220 TibetanerInnen getötet und nahezu 1.300 verletzt wurden, wird das Autonome Gebiet Tibet vom chinesischen Regime streng überwacht. Bisher sieht es danach aus, als ob dieses harte Durchgreifen die von Hu Jintao und seinen Verbündeten befürchteten Massenproteste verhindern können. Die Wut auf das chinesische Regime ist allerdings weiterhin groß und könnte jederzeit zu einer Revolte auswachsen.
Am Höhepunkt des tibetischen Aufstands von 1959 protestierten 300.000 Menschen. Dies war Anlass für eine Welle der Unterdrückung, bei der, wenn man die Geschehnisse vorher und nachher miteinbezieht, insgesamt 86.000 TibeterInnen getötet wurden. Dies wird sowohl von tibetischen als auch von chinesischen Quellen bestätigt. SozialistInnen haben äußersten Respekt vor den vielen tibetischen Menschen, die an der Bewegung teilgenommen haben, und vor allem vor den Tausenden, die ihr Leben verloren haben. Um aber den Charakter des Aufstandes verstehen zu können, ist es nötig, sich die Politik der maoistischen Bürokratie bezüglich Tibet, wie auch die Bestrebungen und Ziele der selbst ernannten Führung des Aufstandes, dem Dalai Lama und der alten feudalistischen Ordnung, genauer anzusehen.
Tibet und die Chinesische Revolution
Für SozialistInnen ist die Chinesische Revolution von 1949 die Größte nach der Russischen Revolution von 1917: Der Kapitalismus und der Großgrundbesitz wurden abgeschafft und China schüttelte das Joch des Imperialismus ab. Doch das Regime, das aus der Revolution entsprang, war nicht dasselbe wie jenes, das 32 Jahre zuvor in Russland nach der dortigen Revolution entstand. Die bolschewistischen Führer Lenin und Trotzki sahen die Ereignisse in Russland als Beginn einer sozialistischen Transformation im Weltmaßstab und vertraten stets eine unerbittliche internationalistische Auffassung. Die Volksrepublik China erlangte demgegenüber in einer völlig anderen Epoche historische Bedeutung als der junge Arbeiterstaat in Russland. Dem stalinistischen „Modell“ folgend suchte das chinesische Regime seine eigene Stellung zu untermauern, anstatt zu versuchen die Revolution zu verbreiten. Dies spiegelte sich im Einmarsch nach Tibet im Jahre 1950 wider.
Der französische Revolutionär Robespierre hatte seinerzeit das Volk gewarnt, nicht den „Missionaren mit Bajonetten“ anzuhängen. Und als die Volksbefreiungsarmee zuerst in Tibet einmarschierte, konnte diese nicht einmal als „Missionar“ bezeichnet werden – obgleich sie Bajonette mit sich trug! Angesichts des eskalierenden Kalten Krieges begann die Invasion vielmehr als taktisches Manöver. Da drei Monate vorher der Korea-Krieg ausgebrochen war, sollte der Einmarsch der Volksbefreiungsarmee in Tibet, einem vom Westen unterstützten Vorstoß für die Unabhängigkeit von Lhasa zuvorkommen, der eine weitere Front im Kalten Krieg zwischen „Ost“ und „West“ hätte eröffnen können.
In Tibet war die Grundlage für eine Bewegung für wirklichen sozialistischen Wandel vorhanden, auf der man hätte aufbauen können. Bei der städtischen Bevölkerung und vor allem der Arbeiterklasse handelte es sich zwar um eine winzige Minderheit. Eine Minderheit jedoch, die in einer Massenbewegung nichtsdestoweniger eine führende Rolle hätte einnehmen können. Statt sich jedoch auf diese Schicht zu stützen, suchte Maos Regime seine Stellung durch eine „patriotische Allianz“ mit dem Dalai Lama und der tibetischen feudalistischen Elite zu sichern. Es wurde weder versucht, sich auf die unterdrückten Massen im Allgemeinen zu stützen, noch auf die proletarischen Schichten der ländlichen und städtischen ArbeiterInnen im Besonderen. Die Aktionen der KPC in Tibet entstanden nicht mit einer internationalistischen Perspektive, mit der die Errungenschaften der Revolution Verbreitung hätten finden können. Stattdessen ging es um die Verteidigung der strategischen Interessen der herrschenden Bürokratie. Deshalb unternahm die KPC auch keinerlei Versuch, jedwede soziale Reform in diesem Gebiet durchzuführen.
Mit der Zusage, dass die Regierung in Peking nichts am politischen System in Tibet verändern würde, wurde 1951 ein Vertrag unterzeichnet, der vorsah, dass der Dalai Lama die Präsenz der KPC billige. Diese Kollaboration mit den Feudalherren in Tibet hatte einen verwirrenden Effekt auf die durchschnittlichen TibeterInnen. Wie Tom Grunfield es in seinem Buch »The making of modern Tibet« (Die Entstehung des modernen Tibets) ausführte, „drängte [die KPC] auf »Befreiung« der Leibeigenen von ihren Feudalherren, während sie gleichzeitig Bündnisse mit eben diesen Herren schmiedete.“
Doch trotz der Tatsache, dass der Premierminister Zhou Enlai für ein Abwarten bei möglichen Agrarreformen in Tibet eintrat, da diese sich „über die nächsten 50 Jahre erstrecken könnten“, wurde in benachbarten Regionen ein ganz anderer Ansatz verfolgt, der übrigens auch die tibetischen Bevölkerungsgruppen in diesen Gebieten betraf. Eine erzwungene Kollektivierung im Agrarbereich in Provinzen wie Qīnghǎi und Gānsù provozierte eine ganze Reihe von Rebellionen, die auch auf Tibet Einfluss hatten. Einerseits lebten viele unter den tibetischen Massen weiterhin unter der Knute des Feudalismus, während sie auf der anderen Seite erlebten, wie in anderen Gebieten sozialer Wandel bürokratisch von oben verordnet stattfand. Diese widersprüchlichen Faktoren führten sowohl zu Abneigung gegen die Besatzungstruppen der Volksbefreiungsarmee wie auch gegen das Regime der KPC.
Der Aufstand von 1959
Indem sie die wachsenden Spannungen ausnutzten und im fortwährenden Kalten Krieg der Gegenseite einen Schlag zu versetzen versuchten, half der US-Imperialismus, eine „antikommunistische“ Guerilla vor allem in der Region Kham zu bewaffnen und auszubilden. Die Antwort des maoistischen Regimes auf die im Folgenden durchgeführten Angriffe der Guerilla führte nur zu weiteren Spannungen. Von der Volksbefreiungsarmee wurden Klöster angegriffen und öffentliche Exekutionen durchgeführt. Der Versuch der KPC, die Bedrohung durch die Guerilla zu egalisieren, wurde als eine Form der „kollektiven Bestrafung“ der tibetischen Bevölkerung verstanden und heizte nur die Unterstützung für die Guerillas an.
Da die Repression fortgesetzt wurde, verbreitete sich das Gerücht, die Volksbefreiungsarmee habe vor, den Dalai Lama zu entführen. Am 10. März 1959 schwärmten Tausende um den Palast des Lamas zusammen. Daraufhin kam es innerhalb von zwei Tagen zu Protesten und in den Straßen von Lhasa wurden Barrikaden errichtet. Die Volksbefreiungsarmee war schnell dabei, den Aufstand der zahlenmäßig unterlegenen und spärlich bewaffneten tibetischen Kräfte niederzuhalten. In Sorge um etwaige Reaktionen in buddhistischen Ländern und in Indien für den Fall, dass der Dalai Lama Schaden nehmen sollte, griff Mao Tse Tung persönlich ein und stellte sicher, dass dem Dalai Lama und seinem Gefolge die Flucht ermöglicht wurde. Rund 100.000 Menschen, die hauptsächlich der alten Feudalelite entstammten, flohen nach Nordindien, wo sie eine Exilregierung errichteten.
Ihrem Charakter nach waren die Ziele der Führer dieses Aufstandes reaktionär. Es handelte sich um eine feudalistische Bewegung, die ihre Unterstützer in erster Linie in den Lamas, dem feudalen Adel und dem Offizierskorps der alten tibetischen Armee fand. Ihre Anführer kleideten die Bewegung in den Farben der Religion und des tibetischen Nationalismus. In Wirklichkeit war ihr Ziel aber, die rückwärts gerichteten feudalistischen Besitzverhältnisse zu verteidigen, die in Tibet immer noch Bestand hatten und die sie durch die in den benachbarten Regionen durchgeführte erzwungene Kollektivierung sowie die grobschlächtige Reaktion des chinesischen Regimes auf die von den USA gestützten Guerilla-Aktivitäten des vorangegangenen Jahres bedroht sahen.
Das bürokratische Manövrieren der KPC und der ausbleibende soziale Wandel in Tibet führten dazu, dass viele TibeterInnen in Ihrem täglichen Leben keine Verbesserungen feststellen konnten, seit dem sie der „Volksrepublik“ angehörten. Der reaktionäre Aufstand wurde daher als nationaler Kampf gegen die chinesische Besatzung betrachtet. Das chinesische Regime trieb die durchschnittlichen TibeterInnen in die Hände der feudalistischen Nationalisten.
Nach der Niederwerfung des Aufstandes machte sich das chinesische Regime daran, in seiner Haltung gegenüber Tibet eine Kehrtwende zu vollziehen. Man versuchte, ohne die tibetischen Massen in diesen Prozess mit einzubeziehen, von oben den Feudalismus zu eliminieren und zu den „Missionaren mit Bajonetten“ zu werden, vor denen Robespierre gewarnt hatte.
Das Recht auf Selbstbestimmung und die Haltung von SozialistInnen
Als SozialistInnen können wir keinen Versuch unterstützen, mit dem das Rad der Geschichte zurückgedreht und der Feudalismus wieder implementiert wird. Entscheidend ist jedoch zu verstehen, wie die Politik des Maoismus die Bewegung angeheizt hat und wie dies hätte vermieden werden können.
Vergleichen wir zum Beispiel den Ansatz, den die KPC verfolgte mit dem der Bolschewiki in Russland. Unter Lenin sah die Verfassung der UdSSR für alle Teilrepubliken das Selbstbestimmungsrecht vor. Das beinhaltete auch das Recht auf Abspaltung von der UdSSR, das in der Praxis im Dezember 1917 zu Geltung kam, als Finnland die Unabhängigkeit zugestanden wurde. Zur selben Zeit wurden die religiösen Rechte sämtlicher geschundener Minderheiten mit großer Sensibilität behandelt. Dies war Bestandteil ihres Ansatzes, der unter der Bezeichnung der „nationalen Frage“ firmierte, wobei das oberste Ziel zu jeder Zeit darin bestand, die Spaltung und die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Teilen der Arbeiterklasse zu minimieren. Sie verstanden, dass es zur Erreichung dieses Zieles notwendig war, wieder und wieder aufzuzeigen, dass die Sowjetmacht den einzigen Weg zu nationaler Befreiung für die im zaristischen Russland unterdrückten Nationalitäten bildete. Dies war von Anbeginn die Politik, die die Bolschewiki zu entwickeln vorhatten. Dennoch wurden nach Lenins Tod und dem Erstarken der Bürokratie viele dieser Politikansätze rückgängig gemacht. Da, wo Stalin endete, nahm Mao sein Werk auf.
Die unbeständige und bürokratische Herangehensweise Maos unterminierte die Unterstützung für einen sozialistischen Wandel und lieferte den reaktionären Kräften zum Beispiel um den Dalai Lama den Deckmantel zur Ausbeutung.
Seit 1959 hat sich viel verändert. Die Proteste des letzten Jahres zeigen jedoch, dass das Verlangen nach nationalen Rechten und besseren Lebensbedingungen im Autonomen Gebiet Tibet immer noch stark ist. Die Erfahrung zeigt, dass diese Rechte nicht erreicht werden können, indem man sich auf die Vergangenheit oder an religiösen Führern orientiert. Die tibetischen Massen müssen sich mit der Arbeiterklasse und der Jugend in China und den umliegenden Gebieten zusammentun, die selber für dieselben fundamentalen Freiheiten kämpfen. Das chinesische Regime fürchtet deshalb vor allen Dingen eine Wiederholung der Proteste des vergangenen Jahres, weil damit begonnen werden könnte, eben diese Verbindungen versuchsweise zu knüpfen.
Statt die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen sollte jede neue Bewegung sehr sensibel mit bedenken, dass die Menschen in Tibet und andere Minderheiten das Verlangen haben, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und das Selbstbestimmungsrecht zu erlangen. Die chinesische Bürokratie hat kontinuierlich taktische Interessen in und mit Tibet verfolgt; vor allem, um eine Flanke zwischen China und Indien zu etablieren. Nur auf der Grundlage einer freiwilligen sozialistischen Föderation Chinas und anderer asiatischer Staaten können, als Schritt in Richtung einer sozialistischen Welt-Föderation, der Kapitalismus, die nationale Unterdrückung und Chinas herrschende Bürokratie abgestreift werden und die Massen der Region so die Gesellschaft durch eine wirklich demokratische Planung und Zusammenarbeit vorwärts bringen.
Der Artikel erschien am 12. März 2009 in englischer Sprache auf www.socialitworld.net