Zum neuen Wahlprogrammentwurf des Bundesvorstands der LINKEN
Die Antwort der Partei „Die LINKE“ auf die gegenwärtige Systemkrise des Kapitalismus bleibt weiterhin offen. Der gestern vom Parteivorstand bei drei Gegenstimmen gebilligte zweite Entwurf für ein Bundeswahlprogramm präsentiert viele wichtige Reformforderungen zur Verbesserung der Lebenssituation der Massen, aber keine überzeugende Antwort auf die Jahrhundertkrise des Kapitalismus.
von Heino Berg, Mitglied der Partei DIE LINKE in Bremen
Während der ursprüngliche Text, dessen Endfassung von Gregor Gysi und Dietmar Bartsch fertig gestellt wurde, mehr dem Entwurf für eine Koalitionsvereinbarung mit SPD und Grünen als dem Wahlprogramm einer eigenständigen linken Partei ähnelte, enthält der neue Programmvorschlag wesentliche Zugeständnisse an den Widerstand des linken Parteiflügels. Vor allem in der Beschreibung der Weltwirtschaftskrise ist der Text nun deutlich systemkritischer als der Bartsch-Entwurf, der ja nur den „gegenwärtigen“ Kapitalismus durch neue „Spielregeln“ verbessern wollte. Die Wut der Bevölkerung auf die Bank- und Konzernherren, die jahrelang Milliardengewinne eingestrichen haben und nun für ihr Zerstörungwerk in der Krise auch noch mit Bürgschaften aus Steuergeldern belohnt werden, erhält damit eine Stimme, anstatt mit seichten Gemeinplätzen gedämpft und „Avancen an die Profiteure der Krise“ (Stellungnahme der AKL) geopfert zu werden. Mit dem neuen Wahlprogramm spricht sich die LINKE eindeutig gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Lohnabhängigen und für Forderungen aus, die bei konsequenter Umsetzung die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung spürbar verbessern würden. Das gilt vor allem für die Absage an Lohnsenkungen, Privatisierungen und Sozialabbau, aber auch für Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und anderen . Solche Festlegungen unterscheiden die LINKE vom bürgerlichen Parteienblock und machen sie für die Menschen wählbar, denen von Regierung und Kapital die eigentliche Zeche für die Krise erst nach dem Wahltag präsentiert werden wird. Sie spiegeln die Erwartungen der Mitglieder- und Wählerbasis einer Partei, die als Opposition gegen die Herrschenden und ihren Parteienblock gegründet wurde und als solche in der Krise mehr denn je gebraucht wird.
System- oder Konjunkturkrise
Im 2. Entwurf heißt es nun ausdrücklich: „Die gegenwärtige Krise ist keine Konjunkturkrise“ (…) sondern die „Krise einer Wirtschaftsordnung, die allein für den Profit produziert.“ Wenn damit nicht nur „der Finanz-Kapitalismus gescheitert ist“ (Zeile 276) , sondern das kapitalistische System insgesamt, dann kann die Krise nicht nur durch neue „Spielregeln“ für die Marktwirtschaft überwunden werden, sondern nur durch den Kampf für eine sozialistische Gesellschaftsordnung, die eben nicht mehr vom Profitstreben einer Minderheit von Kapitalbesitzern und von blinden Gesetze der Marktwirtschaft gesteuert wird. Obwohl der neue Entwurf feststellt, dass „viele Bürger wütend und enttäuscht über die neoliberale Politik und über den Kapitalismus“ seien (Z.16-18), schlägt er keine sozialistische Alternative dazu vor. Das Wort „Sozialismus“ wird nur einziges Mal und auch da nicht im Zusammenhang mit der Krise und neuen Eigentumsverhältnissen benutzt, sondern ähnlich wie im SPD-Grundsatzprogramm nur als Erinnerung an historische „Werte“: „Die soziale und die demokratische Frage haben beide einen eigenen Wert. Diese Werte dürfen nie mehr gegeneinander ausgespielt werden. Das bildet die Grundlage für einen demokratischen Sozialismus.“ (Z. 253-258)
Der Verzicht auf sozialistische Alternativen zur Systemkrise des Kapitalismus beeinflusst die praktischen Konsequenzen, die das Wahlprogramm zu deren Lösung vorschlägt: Die Enteignung der weltweit für Millionen zusätzliche Arbeitslose verantwortlichen Kapitalbesitzer und Verstaatlichungen werden nur für die Banken im Ausgleich für die bisherigen Milliardenhilfen gefordert, ohne dies mit einer demokratischen Kontrolle durch die Beschäftigten und ihre direkt gewählten Vertreter zu verbinden. Hinsichtlich der anderen Großkonzerne, die – nicht nur in der Autoindustrie – von den Kapitalbesitzern und ihren Managern im Konkurrenzkampf um die höchsten Profitraten vor die Wand gefahren wurden und wo jetzt Massenentlassungen drohen, begnügt sich auch der neue WP-Entwurf mit „Beteiligungen der öffentlichen Hand oder der Belegschaften im Austausch für staatliche Hilfen“. (Z. 599- 602) Mit solchen Minderheitsanteilen können aber weder das Profit- und Konkurrenzprinzip, noch dessen Folgen für die weltweite Überproduktion oder die Zerstörung der Umwelt bekämpft, geschweige denn überwunden werden.
Wirtschaftsdemokratie
Die Halbheiten des Parteivorstands-Entwurfs in der Systemfrage verwässern die Sofortforderungen für die Interessen derjenigen, die in der Krise vom Verlust ihrer Arbeitsplätze und weiterem Reallohnverlust bedroht sind. Das „Verbot von Massenentlassungen“ soll nur in Unternehmen gelten, die „nicht insolvenzgefährdet“ sind. (Z. 593). Für Opel oder Schaeffler sollen sie von der LINKEN also akzeptiert werden, weil Verstaatlichungen in der sog. „Realwirtschaft“ nicht in Frage kommen? Von einem „Veto-Recht“ der Beschäftigten bei Werksschließungen oder –verlagerungen, das Lafontaine noch im letzten Bundestagswahlkampf gefordert hatte, ist nun nicht mehr die Rede. Anstatt den Besitz und die Macht des Privatkapitals wirklich in Frage zu stellen, wie es Lafontaine bei der Gründung der LINKEN noch für die Schlüsselindustrien gefordert hatte, sollen sich die Beschäftigten jetzt an der betrieblichen Umsetzung des Profitprinzips beteiligen, was die Belegschaften weiterhin gegeneinander ausspielen und Standortlogik und Co-Management bei ihren Vertretern verstärken würde. Die „Wirtschaftsdemokratie“, die der neue Entwurf ebenso wie der frühere anstelle von sozialistischen Alternativen „auf die Tagesordnung setzen“ will, bedeutet dann aber nicht mehr, dass auch in den Betrieben das Prinzip der Demokratie gilt, in der jeder die gleichen (Stimm)rechte besitzt, sondern es würde dabei bleiben, dass Tausende von Beschäftigten genauso viel zu sagen hätten wie eine Handvoll Großaktionäre.
Antikapitalistische Rhetorik bleibt aber inkonsequent und für das Wählerpotenzial der LINKEN wenig überzeugend, wenn die Partei unter dem Strich keine wirklichen Eingriffe in die Besitz- und Machtverhältnisse des Kapitalismus anstrebt, sondern nur dessen Fassade verändern will. Die LINKE kann nichts gewinnen, wenn sie mit der SPD um die Rolle des (mitregierenden) Arztes am Krankenbett des Kapitalismus konkurriert, anstatt als dessen Totengräber anzutreten und damit auch für den Teil der Bevölkerung wählbar zu werden, die sich in Ermangelung von grundsätzlichen Alternativen nicht mehr an Wahlen beteiligt hat.
Sofortforderungen
Bei den Forderungen des Wahlprogramms, in denen es um die politische Substanz der Forderungen geht, auf die sich Linkspartei in den kommenden (Krisen)jahren festlegen will, sind die Unterschiede zwischen beiden Entwürfen (und damit auch zum Wahlprogramm der SPD) deutlich geringer als bei der antikapitalistischen Beschreibung der Krise. Zwar werden jetzt statt 435 € immerhin 500 für die Hartz-IV-Regelsätze gefordert und 10 € beim Mindestlohn anstelle von vorher 8,45 €. Aber die „Sanktionsfreiheit“ bei der Zahlung einer Grundsicherung, die an die Stelle der Hartz-Gesetze treten soll, steht auch im neuen Programmentwurf im Widerspruch zu „neuen Regeln für die Zumutbarkeit von neuer Arbeit“. (z. 1662)
Bei den außenpolitischen Forderungen werden nun zwar auch „UN-mandatierte“ Kriegseinsätze eindeutig abgelehnt (Z. 3583) und der „sofortige“ Abzug deutscher Truppen aus Afghanistan verlangt, aber Militärbündnisse wie die Nato sollen keineswegs aufgelöst, sondern „sich der UNO unterordnen“ bzw. durch ein „kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands ersetzt“ werden. (Z. 3726). Damit wird die Forderung nach Auflösung bzw. Austritt aus der Nato von einer vorherigen Einigung unter den Großmächten abhängig gemacht. Die Beschränkung auf eine Ablehnung von kriegseinsätzen lässt die Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, die trotz offizieller Darstellung als Blauhelmeinsätze, einen imperialistischen Charakter tragen, zu.
Aktionsperspektiven
Bei der Frage, wie die Ziele des Wahlprogramms in der Krise durchgesetzt werden sollen, bleibt es auch im neuen Entwurf bei der parlamentarischen Fixierung, die der Gegenwehr der Betroffenen nur die Rolle eines zusätzlichen Druckmittels zugesteht. Die Schlusssätze des Wahlprogramms lauten:„Der Politikwechsel, der jetzt, mitten in der Krise notwendig ist, erfordert Entschiedenheit und Mut. Er erfordert auch politischen Druck aus der Gesellschaft, aus Vereinen, Betrieben und sozialen Bewegungen, aktives Einmischen. Unsere Fraktion wird auch in den kommenden vier Jahren offen sein für den Protest und die Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften, (…)Je stärker DIE LINKE, desto sozialer das Land.“ (Z. 3915-3925)
Anstatt eine linke Partei und ihre Fraktion als Mittel zur Unterstützung der Emanzipation und Selbstorganisation der Lohnabhängigen und die „sozialen Unruhen“ einschließlich Generalstreik als wichtigsten Motor für eine soziale Umwälzungen zu begreifen, sollen die Abgeordneten nur noch „offen“ sein für Anregungen der Betroffenen. Die Frage, wie „sozial“ unser Land ist bzw. nach den Bundestagwahlen bleibt, hängt aber weniger von der Anzahl linker Abgeordneten in den Parlamenten als von der sozialen Bewegung auf den Straßen und in den Betrieben ab. Das Kapital und seine Parteien fürchten in der Krise nicht nur die Stärke der Linkspartei, sondern vor allem die Ausbreitung von „sozialen Unruhen“ und von Massenstreiks wie in vielen europäischen Nachbarländern: Deshalb sollte die LINKE auch in ihrem Wahlprogramm solche Kampfmaßnahmen und die dazu notwendigen Aktionsbündnisse mit Gewerkschaftern und sozialen Initiativen unterstützen und dazu aufrufen, anstatt sie umgekehrt von parlamentarischen Erlaubnissen abhängig zu machen.
Wenn die eigentlichen Ursachen der gegenwärtigen Krise nicht nur in der neoliberalen (Regierungs)Politik, sondern in den Profitgesetzen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu finden sind, wie es das der neue Wahlprogrammentwurf der LINKEN nach deutlichen Hinweisen der Parteibasis zu konstatieren gezwungen ist, dann kann das Ziel dieser Partei eben nicht nur in einem Politik-, sondern nur in einem Systemwechsel bestehen. Dann geht es um mehr als um eine „Änderung der Spielregeln“ (Z. 3878) für das kapitalistische Spekulationskasino und seine globalen Player: Nämlich um ein sozialistisches (Wahl)Programm gegen die Systemkrise des Kapitalismus, über das die Delegierten auf dem Bundesparteitag eine Entscheidung fällen können… wenn entsprechende Änderungsanträge vorgelegt werden.
Regierungsfrage
Die entscheidende Frage für die Mitglieder und potentiellen Währer der LINKEN besteht jedoch in der Glaubwürdigkeit solcher Wahlversprechen. Lafontaine und andere Vertreter der Linkspartei weisen mit Recht darauf hin, dass die Forderungen der SPD nach Einführung von Mindestlöhnen, Börsenumsatzsteuern oder Millionärsabgaben ein reiner Wahlbetrug sind, wenn sie diese Versprechungen ausgerechnet mit der FDP in einer Ampelkoalition umsetzen will.
Das gilt aber auch umgekehrt: Die Wahlziele der LINKEN, zum Beispiel für die Abschaffung der Hartz-Gesetze können nur dann von der Bevölkerung ernst genommen werden, wenn sie Regierungsbündnissen mit Parteien eine klare Absage erteilt, die – wie die SPD in Bundes- und Landesregierungen – FÜR die Hartz-Gesetze, FÜR Steuergeschenke an das Großkapital, FÜR Auslandseinsätze der Bundeswehr und FÜR die Erhaltung des Kapitalismus verantwortlich sind. Wer die Hartz-Gesetze wirklich zurücknehmen und nicht nur für die Aufbesserung ihrer Regelsätze eintreten will, muss klar sagen, dass sich diese Ziele nicht mit, sondern nur gegen SPD und Grüne verwirklichen lassen. Den praktische Beweis dafür liefert nicht zuletzt der Berliner Senat von Linkspartei und SPD, der für Sozialabbau, Privatisierungen und Tarifflucht verantwortlich ist und den Milliardengeschenken an die Bankkonzerne ausdrücklich zugestimmt hat. Ein Bundeswahlprogramm der LINKEN, dass sich – ähnlich wie das der Grünen – vor einer Beantwortung der Regierungsfrage drückt, anstatt klar festzuhalten, dass die LINKE für die Vertretung von Arbeiterinteressen kein Bündnis mit prokapitalistischen Parteien, sondern nur mit den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen Bündnispartner eingehen wird, nährt Zweifel an der Verlässlichkeit dieser Wahlziele und verringert unnötig ihre Chance, das gewaltige Wählerpotential der Krisenopfer auszuschöpfen. Auf diese Schlüsselfrage linker Politik gibt auch der neue, einstimmig im Parteivorstand verabschiedete Programmentwurf keine Antwort. Die SAV-Mitglieder in der LINKEN werden dafür bei den kommenden Landesparteitagen und auf dem Bundesparteitag Änderungsanträge einbringen.