Eltern, SchülerInnen, Studis, Erzieherinnen, Lehrerinnen und alle im Bildungsbereich Beschäftigten gemeinsam auf die Straße am 17. Juni – Elternaufruf dokumentiert
Wir Eltern sind in großer Sorge um unsere Kinder und ihre Zukunft.
Das mehrgliedrige Schulsystem bedeutet Leistungs-, Noten- und Konkurrenzdruck von der Grundschule an. Klassengrößen von 30 und mehr Schülern erzeugen ein Klima der Anonymität und das Gefühl von Überflüssigkeit des Einzelnen. Zwischen LehrerInnen und SchülerInnen kann keine persönliche und dem Lernen und Leben förderliche Beziehung entstehen. Angst, Neid, Mobbing sind die Folgen. Und selbst die Beziehung von Eltern und Kindern bzw. das Familienklima leidet durch die Schule. Schlechte Noten führen zu Demotivation, zur Blockade- oder sogar zur Verweigerungshaltung. Lernen in Bewegung wird durch stundenlanges Stillsitzen und erzwungene Konzentration im Frontalunterricht verhindert. Kinder, die das stundenlange Stillsitzen nicht aushalten, werden diszipliniert oder sogar für krank erklärt.
Wenn Kinder in der Schule nicht respektvoll behandelt werden, wenn nur Noten zählen und es an Anerkennung ihrer Persönlichkeit fehlt, dann leidet das Selbstwertgefühl. Und Gewaltausbrüche von SchülerInnen – welche Form sie auch immer annehmen – haben mit einem stark angeschlagenen Selbstwertgefühl, mit Versagensgefühlen zu tun. Die steigende Massenarbeitslosigkeit verschärft die Perspektivlosigkeit der Jugend und erhöht den Konkurrenzdruck auf Kinder und Eltern.
Mit dem Amoklauf von Winnenden wurde eine Schule wiederholt zum Tatort für ein schreckliches Gewaltverbrechen. Seit Jahren häufen sich solche Ereignisse. Computerspiele sind nicht Ursache dafür. Das starke Bedürfnis nach PC-Spielen und Fernsehkonsum erklärt sich vielmehr als eine Flucht in eine spannende virtuelle Welt, eine Flucht vor der Langeweile, vor den alltäglichen Disziplinierungen und Demütigungen in der Schule. Es ist traurig, wenn sich unsere Kinder in dieser virtuellen Welt die Anerkennung und den Kick holen müssen, denen ihnen die Schule versagt.
Wir akzeptieren es nicht, dass die Medienindustrie gewaltverherrlichende Spiele und Filme auf den Markt werfen darf und wir Eltern verantwortlich dafür gemacht werden, wenn Kinder solche Medien konsumieren. Wir fordern, dass die gesellschaftliche Verantwortung für Erziehung und Bildung endlich ernst genommen wird. Der Schlüssel dafür ist die Einrichtung von gut ausgestatteten und an den Bedürfnissen der SchülerInnen orientierten Ganztagsschulen mit Spaß- und Kreativfaktor.
In den letzten Jahren wurden Selektion und Leistungsdruck im Bildungssystem enorm verschärft: G8, Studiengebühren, Verschulung des Studiums durch Bachelor/Master.
Es fehlen Hunderttausende von Lehrstellen. Hauptschüler haben so gut wie keine Chance mehr auf einen Ausbildungsplatz. Die Tatsache, dass in Deutschland jedes Jahr 70.000 Schülerinnen und Schüler – das ist jede/r fünfte – die Schule ohne Abschluss verlassen, ist ein Armutszeugnis für unser selektives Schulsystem.
Die derzeit stattfindende Arbeits- und Ausbildungssplatzvernichtung in der Wirtschaft verschärft die Situation für uns und unsere Kinder. Immer weniger Schulabgänger bekommen eine Lehrstelle. Weil Eltern nicht mehr genug Einkommen haben, müssen Studierende ihr Studium abbrechen. Mit der Rezession brechen auch Ferien-, Schüler- und Studentenjobs weg. Unsere Kinder drohen zu einer Generation ohne Zukunft zu werden.
Hunderte von Milliarden Steuergelder werden aufgebracht, um die Spekulationsverluste der Banken zu begleichen, aber für dringend nötige Bildungsinvestitionen ist angeblich kein Geld da. Fünf Milliarden Euro staatliche Mittel werden ausgegeben, um neun Jahre alte funktionstüchtige Autos zu verschrotten, aber unseren Kindern werden weiter jahrzehnte alte abgewrackte Schulgebäude und trostlose Schulhöfe zugemutet. Lediglich für die energetische Sanierung von Schulen, nicht aber für die Verbesserung der Lernbedingungen, gibt es im Konjunkturpaket II Geld.
Wir fordern, dass unsere Steuergelder für die Zukunft unserer Kinder investiert werden.
Die bisherigen Proteste gegen Studiengebühren und die Schülerstreiks im letzten Jahr haben zu wenig Wirkung gezeigt. Deshalb begrüßen wir die Initiative „Bundesweiter Bildungsstreik 15. – 19. Juni 2009“.
Wir stellen uns ausdrücklich hinter alle Forderungen des zentralen Streikaufrufs:
„selbstbestimmtes Lernen und Leben statt starrem Zeitrahmen, Leistungsdruck und Konkurrenzdruck,
freier Bildungszugang und Abschaffung von sämtlichen Bildungsgebühren wie Studiengebühren, Ausbildungsgebühren und Kita-Gebühren,
öffentliche Finanzierung des Bildungssystems ohne Einflussnahme der Wirtschaft unter anderem auf Lehrinhalte, Studienstrukturen und Stellenvergabe
und Demokratisierung und Stärkung der Mit- und Selbstverwaltung in allen Bildungseinrichtungen.“
Ergänzend bzw. konkretisierend fordern wir:
Ganztagsschulen als Regelschulen und massiver Ausbau des an den Bedürfnissen der SchülerInnen orientierten kreativen, handwerklichen, sportlichen und musischen Bereichs.
Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems – gemeinsames Lernen in einer integrativen Gemeinschaftsschule bis zum zehnten Schuljahr
Reduzierung der Klassenstärken auf maximal 20 SchülerInnen
120% Lehrerversorgung an allen Schulen
Pädagogische Aus- und ständige Weiterbildung für alle LehrerInnen
Einsatz von ErzieherInnen, FreizeitpädagogInnen, SozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen an allen Schulen
Kostenloses, professionell zubereitetes qualitativ gutes Essen an allen Schulen
Ausreichend qualitativ gute Ausbildungsplätze und garantierte Übernahme in den erlernten Beruf
Weg mit Zulassungsbeschränkungen an den Unis. Abschaffung der Studiengebühren und elternunabhängiges Bafög für alle.
Die Grundlagen für eine gute Bildung müssen bereits in den Kindertagesstätten geschaffen werden. Doch zu wenig Plätze, ungenügende Ausstattung der Einrichtungen und personelle Unterbesetzung sind denkbar schlechte Rahmenbedingungen für die frühkindliche Bildung. Die Absenkung der ohnehin zu niedrigen Löhne der ErzieherInnen im Jahr 2005 bei gleichzeitig steigenden Anforderungen hat zu einem ErzieherInnenmangel geführt. Offene Stellen können nicht mehr besetzt werden. Die Personalnot verschärft sich dramatisch. Wir unterstützen die Forderung der ErzieherInnen, nach besserer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen. Wir wollen ausreichend flächendeckende gebührenfreie Ganztagskitas (auch für die Kinder unter drei Jahren), kleinere Gruppen und einen besseren Personalschlüssel.
Die Beschäftigten im Bildungswesen, angefangen von den ErzieherInnen, über LehrerInnen, Dozenten bis hin zu den Hausmeistern und anderen Beschäftigten, sind wie unsere Kinder, Opfer der Unterfinanzierung und des auf Selektion ausgerichteten Bildungssystems. Verbesserungen im Bildungswesen müssen deshalb auch die Arbeitsbedingungen und die Löhne vieler Berufsgruppen verbessern. Die Ziele des Bildungsstreiks sind auch im Interesse der Beschäftigten.
Wir fordern deshalb alle in Bildungseinrichtungen Tätigen auf, sich mit dem Bildungsstreik zu solidarisieren, keine Repressalien gegen streikende SchülerInnen und Studierende zu verhängen und gemeinsam während der Arbeits-, bzw. Schul- und Vorlesungszeit am 17. Juni mit auf die Straße zu gehen.
Und vor allem: Wir fordern alle Eltern auf, ihre Kinder zur Teilnahme am Bildungsstreik zu ermutigen, sich schützend hinter sie zu stellen und wenn möglich selbst an den Demonstrationen teilzunehmen.
ErstunterzeichnerInnen: Ursel Beck, Mutter von zwei Schulkindern, Stuttgart; Christa Hourani, Mutter von drei Kindern, Mitglied im Elternbeirat, Backnang; Dieter Janssen, Vater von zwei Kindern im Kindergarten, Stuttgart; Werner Sauerborn, Vater zweier schulpflichtigen Kinder und einer Studentin, Mitglied im Elternbeirat, Stuttgart; Ruyker Ugur, Mutter von zwei Schulkindern, Stuttgart; Conny Fuchs, Mutter eines schulpflichtigen Kindes, Gerlingen; Rainer Barth, Vater von zwei Kindern, Schwäbisch Gmünd; Selattin und Elif Sari, Eltern eines Schulkindes, Stuttgart; Barbara Rochlitzer, Mutter eines schulpflichtigen Kindes, Stuttgart
Weitere UnterzeichnerInnen bitte melden
ursel.beck@gmx.de