Das Land der Widersprüche
Trotzki entwickelte in seiner Theorie der Permanenten Revolution, die die Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Revolution in Ländern mit verspäteter bürgerlicher Entwicklung darlegt, die These von der "kombinierten und ungleichmäßigen Entwicklung". Nichts könnte diese These mehr bestätigen, als ein Besuch in Brasilien.
von Sascha Stanicic
Denn in Brasilien, und ich habe anlässlich einer Teilnahme an der zweiten Lateinamerika-Sommerschulung des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) nur die zwei großen Metropolen Rio de Janeiro und Sao Paulo besucht, begegnet einem auf Schritt und Tritt die Kombination von Verhältnissen der so genannten Dritten und Ersten Welt und die Ungleichmäßigkeit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in den unterschiedlichen Bevölkerungsklassen. Brasilien ist voller Widersprüche.
Armut
Während mir in Rio vor allem die verarmten StraßenverkäuferInnen aufgefallen sind, die an den Kreuzungen, im Verkehrsstau oder auf dem Bürgersteig gekühlte Getränke, DVD"s und alle erdenklichen Gebrauchsgegenständen anbieten, kann man im Zentrum Sao Paulos keinen Schritt tun, ohne auf Obdachlose und Bettler zu treffen. Unter den Brücken der Stadt haben sich tausende mit Pappen, alten Matratzen und Sofas nieder gelassen. Niemand weiß, wie viele Menschen in der Stadt obdachlos leben. Aber fünfzig Prozent der EinwohnerInnen der 11-Millionen-Metropole gelten als arm und in schlechten Wohnverhältnissen lebend.
In Rio erstrecken sich riesige Slums, die Favelas, mit bis zu 300.000 EinwohnerInnen an den Berghängen. Hier herrscht das Gesetz von Gewalt und Repression. Drogendealer lassen kleine Kinder für sich arbeiten, die Polizei hängt mit drin oder reagiert mit brutalster Repression. Raquel und Reginaldo aus der zum Ballungsraum Rio gehörenden Stadt Niteroi erzählen mir, dass am Vortag ein Kind von Drogendealern erschossen wurde. Nicht selten kommt aber auch vor, dass diese Kinderdealer von der Polizei geradezu exekutiert werden, die ein solches Vorgehen oftmals auch noch als Säuberung der Favelas von Kriminalität und Drogenmissbrauch rechtfertigen.
Neben den Obdachlosen gehen Geschäftsleute und telefonieren mit den modernsten Handys. Menschen hetzen an den verwahrlosten und verarmten BettlerInnen vorbei, als ob sie sie gar nicht mehr sehen würden. Die Geschäfte sind gut mit Waren aller Art ausgestattet, man fragt sich nur, wie die einfache Bevölkerung diese Preise bezahlt, die nicht selten an Preise in deutschen Supermärkten erinnern – und das nicht nur für importierte Waren. Denn die Löhne sind in Brasilien nicht auf europäischem Niveau. Viele meiner GenossInnen von der brasilianischen Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale, der Gruppe Socialismo Revolucionario (SR), sind LehrerInnen bzw. befinden sich in Lehramts-Studiengängen. LehrerInnen gehören zu den am schlechtesten bezahlten Teilen der Arbeiterklasse. Ihre Löhne liegen oftmals bei unter 300 oder 400 Euro im Monat. Gleichzeitig erklärt mir Paolo, dass die Mieten in Rio für eine 35 bis 40-Quadratmeter-Wohnung bei 250 bis 300 Euro oder mehr liegen. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben …
Rassismus
Auf den ersten Blick erkennt man keinen Rassismus in diesem Land. Die GrenzpolizistInnen am Flughafen sind schwarz, weiß oder haben asiatische Gesichtszüge. In den Straßen sieht man Menschen aller denkbaren Hautfarben und -schattierungen und der unterschiedlichsten Physiognomien. Es ist sofort klar, dass Brasilien eine lange Geschichte der Einwanderung aus allen Teilen der Welt hat. Doch schaut man genauer hin, fällt auf, dass Armut in diesem kontinentalen Land schwarz ist. Die Obdachlosen, BettlerInnen und StraßenverkäuferInnen sind fast ausnahmslos schwarz.
Sonntags zeigen mir Paolo, Cassia und andere GenossInnen etwas von Rio. Unter anderem geht es an den berühmten Strand von Ipanema, der sich an den Strand von Copacabana anschließt. Diese beiden Stadtteile gehören zu den reicheren Vierteln. Direkt an Ipanema schließt sich ein riesiges Favela an, aber am Strand sind kaum schwarze Körper zu sehen. Hier lassen sich neben Touristen die Reichen und Angehörige der Mittelschichten in der Sonne bräunen. Die ersten Schwarzen, die mir auffallen sind wieder die Verkäufer, die in brütender Hitze schwer beladen mit Eis, Getränken oder Schmuck den Strand auf und ab laufen, um etwas von ihrer Ware zu verkaufen.
Luciano, ein schwarzes SR-Mitglied aus Niteroi berichtet später von Repression gegen Schwarze. Er erzählt, dass er auf seinem Weg zur Arbeit mal gezählt hat, wie oft ihn eine Polizeistreife angehalten und kontrolliert hat. Von 15 Fahrten an einem Kontrollpunkt vorbei, wurde er 13 mal gestoppt. Der hellhäutigere Kollege, der ihn begleitete, hatte diese Erfahrung noch nie gemacht.
Land der Zäune
In Brasilien ist das ganze Jahr Sommer. Das Leben findet auf den Straßen und Plätzen statt. Die offene Herzlichkeit vieler BrasilianerInnen wird begleitet von der permanenten Sorge, Opfer eines Überfalls zu werden. Als ich mit Raquel und Reginaldo nachmittags durch die Straßen von Niteroi gehe, weisen sie mich darauf hin, dass es besser wäre nicht ganz so laut auf Englisch zu sprechen. Schließlich sehe man mir auch so genug an, dass ich ein "Gringo" bin und das lade nur zu Diebstahl und Überfall ein. Kurze Zeit später werden die Beiden nervös, weil sie den Eindruck haben, dass uns jemand verfolgt. Tatsächlich geht eine Person seit geraumer Zeit hinter uns. Als ich mich umdrehe, sagt Reginaldo, dass ich das bleiben lassen solle. Stattdessen beschleunigt er den Schritt und ist offensichtlich erleichtert, als wir kurze Zeit später seine Wohnung erreicht haben. Etwas irritiert frage ich mich, warum wir uns nicht einfach umgedreht und die Person konfrontiert haben. Wahrscheinlich ein naiver Gedanke in einem Land, in dem ein Menschenleben deutlich weniger wert ist, als ich es gewohnt bin.
Die allgegenwärtige Polizeipräsenz wird dementsprechend kaum in Frage gestellt und fällt den BrasilianerInnen scheinbar kaum mehr auf. Mir schon. Und als mir der einzige Park Sao Paulos gezeigt wird, bin ich zwar nicht mehr verwundert, dass dieser komplett von einem Zaun umgeben ist, aber doch, dass an jedem Eingang eine Art Pförtnerhäuschen steht, in dem sich ein oder mehrere Polizisten befinden.
Die Sorge vor Einbrüchen hat dazu geführt, dass so gut wie alle Gebäude mit Zäunen umgeben sind, die Fenster in Parterre oder Balkone im ersten und zweiten Stock sind ebenfalls mit Gittern verbarrikadiert. Ich denke, das ist das Land der Gitter und Zäune. Nicht gerade einladend. Noch weniger einladend ist die Tatsache, dass in den meisten Mietshäusern ein Portier in der Eingangshalle Dienst tut. Er öffnet die Eingangstüre und fragt jeden Besucher und jede Besucherin, wohin er bzw. sie wollen. Dann wird in der entsprechenden Wohnung angerufen und erst nachdem das OK von dort kommt, darf man weiter gehen.
Land der Lebenslust
Jane, Fabia und Inaia nehmen mich mit zu einer Karnevalsgruppe, die wenige Tage vor den großen Umzügen ein letztes Mal Tanz und Musik proben. Wir fahren in einen ärmeren Stadtteil, wo sich circa 150 Personen in einen kahlen Saal drängen. Auf einer Empore macht eine dreißig-köpfige Percussion-Gruppe Musik und im Saal tanzen eben so viele Männer, Frauen und Kinder nach einer von VortänzerInnen vorgegebenen Choreographie. Die meisten MusikerInnen und TänzerInnen sind schwarz und statt Samba gibt es afrikanische Klänge. Die Lieder handeln von Sklaverei und Befreiung. In Brasilien kämpfen viele Schwarze auch um ihre kulturelle Identität.
Auffällig ist, dass es offensichtlich keine feste Mitgliedschaft in der Tanzgruppe gibt. Hier tanzen Männer und Frauen aller Altersgruppen und es geht offensichtlich nicht darum einen Schönheitspreis zu gewinnen. Niemand hat sich aufgemotzt. Es gibt keinen Unterschied der Geschlechter beim Tanz. Männer und Frauen tanzen nebeneinander, ohne unterschiedliche Rollen einzunehmen oder nach Geschlechtern verteilt einen Platz in der Tanzgruppe zugeteilt bekommen zu haben. Und dazwischen Kinder jeden Alters. Später fällt mir auf, dass das auch für die Musikgruppe gilt, in der ich Dreijährige mit Musikinstrumenten entdecke. Und beim Tanz bemühen sich auch die Jüngsten nicht nur wild herum zu hüpfen, sondern orientieren sich an den Tanzbewegungen der Erwachsenen. Wer das beobachtet, kann erkennen, dass hier der Rythmus nicht im Blut liegt, sondern die Integration der Kinder von kleinstem Alter in Musik und Tanz dazu führt, dass sie den Rythmus so verinnerlichen. Nach zwei Stunden im Saal geht es dann auf die Straße und ein anderthalb-stündiger Umzug durch den Stadtteil beginnt. Mir wird erklärt, dass die Gruppe sich weigert solche Aktionen mit der Polizei abzusprechen, sondern kurzerhand die Straßen blockiert. Die AutofahrerInnen scheint das nicht zu stören. Während sonst bei jeder Gelegenheit auf die Hupe gedrückt wird, scheinen sie in diesem Fall die nötigen Umwege anstandslos in Kauf zu nehmen, was auch für die Linienbusse gilt, die ihre Route kurzfristig ändern müssen.
Pantanal
Socialismo Revolucionario arbeitet seit circa zwei Jahren mit dem Colectivo Liberdade Socialiste (CLS) zusammen und es wird gerade die Fusion der beiden Organisationen vorbereitet. In einer Zeit, in der sich viele revolutionäre und trotzkistische Gruppen gespalten haben (tatsächlich ist SR so ziemlich die einzige Organisation, der dieses Schicksal erspart blieb) sticht dieser Zusammenschluss positiv heraus und entwickelt schon jetzt eine gewisse Anziehungskraft auf andere linke Kräfte.
Die GenossInnen des CLS sind unter anderem in der Druckergewerkschaft in Minais Gerais, der Gewerkschaft der Wasserwerke von Sao Paulo und in der Landlosenbewegung aktiv und bekleiden dort einige wichtige Positionen.
Nikos – ein Genosse des CWI aus Griechenland, der ebenfalls an der Lateinamerika-Schulung teilgenommen hat und anschließend auf einer Veranstaltungsreise durch verschiedene Städte über die Jugendrevolte in seinem Land berichtet – und ich werden eingeladen am Stadtrand von Sao Paulo eine Gruppe von CLS-Mitgliedern und -SympathisantInnen zu treffen und ihnen das CWI vorzustellen. Wir fahren mit der Bahn eine Stunde bis an die Peripherie der Metropole und kommen zu einer Gegend, die ich erst einmal fälschlicherweise als ein Favela einschätze. Hier reihen sich selbstgebaute Häuser aneinander, die Straßen sind nicht asphaltiert, es wimmelt von streunenden Hunden, die Armut ist greifbar.
Doch dann erklären mir Marzenai und Ronaldo, dass dieses Viertel, Pantanal, vor zwanzig Jahren durch eine Landbesetzung entstand, als viele Menschen vor einer Flutkatastrophe flüchten mussten. Seitdem wird der Kampf um Legalisierung, vernünftige Strom- und Wasserversorgung und vor allem Kanalisation geführt. Hier leben tausende ArbeiterInnen, insgesamt 40.000 Menschen. Es ist ein Arbeiterviertel, kein Favela. Denn in den Favelas gibt es einen viel niedrigeren Stand der Urbanisierung, als in Pantanal. Hier haben die Häuser Strom und Wasser, wenn sie sich dies auch anfangs selber „angezapft“ haben. Und hier leben viele ArbeiterInnen. Marzenai und andere Genossen, die ich treffe sind aktive Gewerkschafter bei den Wasserwerken. Bei der letzten Wahl zum Gewerkschaftsvorsitz traten sie mit einer eigenen Kandidatur an und verloren mit nur 14 Stimmen – wobei Paolo darauf besteht, dass sie nicht verloren haben, sondern ihnen die Stimmen durch die Gewerkschaftsbürokratie geklaut wurden. Sie sind sich sicher, dass es zu Wahlfälschung kam, können es aber nicht beweisen.
Wir treffen uns im "Instituto Alana", einer von einer Nichtregierungsorganisation geleitete Gemeindeeinrichtung mit Kindergarten, Bibliothek, Kursangeboten für Jugendliche und Räumlichkeiten,um Versammlungen abzuhalten. In diesem Fall hatten die LandbesetzerInnen Glück – die Grundbesitzerin, deren Boden sie okkupierten, sympathisiert mit ihren Aktionen und unterstützt die Stadtteilprojekte und das Gemeindezentrum finanziell.
Ronaldo müsste an diesem Abend eigentlich an einer Versammlung zur Koordination des Widerstandes gegen die Vertreibung von 3.000 Familien, deren Häuser einem Park weichen sollen, teilnehmen. Doch er will die Gelegenheit, die Gäste aus Europa kennen zu lernen nicht verpassen. Er erklärt uns, dass sie nicht gegen den Park sind, aber nicht akzeptieren können, dass es nicht zuerst eine angemessene Lösung für die betroffenen Familien gibt. Ronaldo berichtet auch, wie er als Aktivist in Pantanal im Kampf gegen die alltäglichen Probleme angefangen hat und dann auf die CLS-GenossInnen getroffen ist, die seinem Kampf eine politische Perspektive gegeben haben. Bis zur Gründung der neuen sozialistischen Partei P-SoL (Partei für Sozialismus und Freiheit) wurde von den Stadtteil-AktivistInnen keine Partei unterstützt, weil sie sich von allen betrogen fühlten. Nun haben sie eine Gruppe der P-SoL gegründet, sind aber unzufrieden mit der Strategie der P-SoL-Führung, die sich weitgehend auf Wahlkämpfe und die Erringung von Parlamentspositionen konzentriert. Wir sind uns schnell einig, dass es die Aufgabe einer sozialistischen Partei ist, massenhaften Widerstand gegen die kapitalistischen Verhältnisse zu organisieren und eine Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus aufzuzeigen. Auch in der Notwendigkeit innerparteilicher Demokratie sind wir uns einig. Ronaldo geht sogar so weit, zu fordern, dass alle einem Abgeordneten zur Verfügung stehenden Ressourcen durch die von ihm vertretene Gemeinde verteilt werden müssen und dass er in dieser Gemeinde weiter wohnen muss – es sei denn, sein Leben sei bedroht. Marzenai lacht und weist Ronaldo darauf hin, dass dieser trotz diverser Morddrohungen ja auch noch in Pantanal lebe.
Im Anschluss an unsere dreistündige Diskussion stellen uns die GenossInnen stolz der aus Jungen und Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren bestehenden Hip-Hop-Tanzgruppe vor, die sofort eine kleine Vorführung für uns macht. Der sicher auf die 50 zugehende Marzenai erklärt uns stolz die fünf Elemente von HipHop: Rap, Tanz, Auflegen, Graffitti und Beats machen!
P-SoL
Brasilien hat in den letzten Jahren eine rasante und widersprüchliche Entwicklung durch gemacht. 2002 wurde der Führer der Arbeiterpartei (PT), Lula Inacio da Silva, zum Staatspräsidenten gewählt. Damit ging ein zwanzig Jahre dauernder Kampf der PT erfolgreich zu Ende und es gab große Hoffnungen in eine neue Regierung, die die Interessen der Arbeiterklasse und Armen in den Mittelpunkt stellen würde. Aber Lula wendete sich vom Sozialisten zum sozialdemokratisch-Neoliberalen, wie wir sie aus der SPD kennen. Er versuchte sich mit Kapital und Imperialismus auszusöhnen und führte verschiedene Angriffe gegen Teile der Arbeiterklasse durch. Das desorientierte viele Linke und GewerkschafterInnen, die in die PT ihre Hoffnungen für eine bessere Zukunft gesteckt hatten. Als die PT dann im Jahr 2003 mehrere SenatorInnen ausschloss, die gegen eine Rentenreform gestimmt hatten, bildeten diese zusammen mit tausenden sozialistischen PT-Mitgliedern, vor allem aber verschiedenen trotzkistischen und sozialistischen Gruppen und Strömungen, die P-SoL als neue Partei. Diese konnte verhindern, dass eine völlige Fragmentierung der brasilianischen Linken statt fand und erfolgreich ein Forum zur Debatte und für Wahlkandidaturen bilden. Socialismo Revolucionario gehört zu den Gruppen, die die P-SoL mit gegründet haben.
Doch viele der fortschrittlichsten und kämpferischsten GewerkschafterInnen sind unzufrieden mit dem parlamentsorientierten und wenig kämpferischen Kurs der P-SoL-Führung. So treffe ich auf eine kämpferische Gruppe von Lehrer-GewerkschafterInnen aus Rio de Janeiro, die anfangs als Gruppe in der P-SoL arbeiten wollten und sich nun dazu entschlossen haben, als rein gewerkschaftliche Gruppe zu agieren. Zu große Kritik und Zweifel gibt es an der P-SoL. Doch während eine kleine Minderheit die P-SoL zu Recht von links kritisiert, hat die große Masse der arbeitenden und armen Bevölkerung weiterhin Illusionen in Lula, der den Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre auch für ein paar Reformen im Interesse der Ärmsten der Armen nutzte. Allerdings kann Lula bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 nicht mehr kandidieren und es gibt noch keinen PT-Kandidaten, der in seine großen Fußstapfen treten könnte. Nicht zuletzt deshalb rechnet sich die P-SoL-Führung gute Chancen für ihre sehr prominente Kandidatin Heloisa Helena aus. Doch leider führt das unter anderem zu einer Offenheit in der P-SoL-Führung, Bündnisse mit bürgerlichen und pro-kapitalistischen Parteien einzugehen. Trotzdem sind sich die GenossInnen von SR sicher, dass die politische Polarisierung sich in der nächsten Zeit in weiterer Unterstützung für die P-SoL ausdrücken kann und eine aktive Mitarbeit in der Partei deshalb notwendig ist.
SR und CLS bilden mit drei anderen Gruppen den Block "Resistencia Socialista" in der P-SoL und agieren als organisierte, marxistische Opposition gegen den Kurs der Parteiführung.
Gewerkschaften
Auch im gewerkschaftlichen Bereich gibt es eine Um- und Neugruppierung. Der große Gewerkschaftsdachverband CUT ist nicht nur regierungstreu, sondern auch auf Kompromiss und Ausgleich mit den Arbeitgebern orientiert. Linke GewerkschafterInnen haben deshalb in den letzten Jahren neue Zusammenhänge zur Koordinierung kämpferischer Gewerkschaften gegründet. Die wichtigsten heißen Intersindical und Conlutas. Im Laufe dieses Jahres soll daraus ein neues "Gewerkschaftszentrum" entstehen. Dieses wird sowohl ganze Gewerkschaften, als auch Oppositionsgruppen, die in der CUT wirken, umfassen. Bisher sind sechs größere Gewerkschaften und circa 200 Oppositionsgruppen in Conlutas zusammen gekommen. Intersindical ist weitaus weniger organisiert. In dem neuen Gewerkschaftszentrum sollen aber auch soziale Bewegungen, Studierendenorganisationen und andere Strukturen des sozialen Widerstands zusammen kommen. Dies ist das wichtigste Projekt für SR und CLS in diesem Jahr.
Auf meine Frage, ob die Oppositionsgruppen, die sich Conlutas angeschlossen haben, denn nicht Gefahr laufen aus der CUT ausgeschlossen zu werden, lachen die beiden hauptamtlichen Mitarbeiter von SR, André und Markus. Nein, so laufe das in Brasilien nicht. Man werde als Gewerkschafter eher erschossen, als ausgeschlossen…
Repression gegen GewerkschafterInnen und AktivistInnen sozialer Bewegungen ist ein großes Thema, denn diese hat im letzten Jahr deutlich zugenommen. Auch das ist ein Ausdruck des pro-kapitalistischen Charakters der PT-Regierung und des brasilianischen Staates.
Lateinamerika-Schulung
Auf einer fünftägigen Schulung der lateinamerikanischen Sektionen des CWI kommen 100 GenossInnen und Gäste aus Brasilien, Chile, Bolivien und Venezuela zusammen. Anwesend sind neben mir auch CWI-Mitglieder aus Griechenland, Belgien, Deutschland und den USA. Als Gäste nehmen VertreterInnen von drei weiteren Organisationen teil, darunter neun Mitglieder der CLS. Sechs InteressentInnen entschließen sich während der Schulung bei Socialismo Revolucionario einzutreten, viele weitere Gäste bekräftigen, dass sie die Debatten fortsetzen wollen und sich eine Mitgliedschaft überlegen. Die Schulung ist geprägt von Aufbruchstimmung. Die Gruppen in Venezuela und Bolivien wurden in den letzten drei Jahren neu gegründet. Die brasilianische Organisation hat in dem selben Zeitraum eine auf den Großraum Sao Paulo beschränkte Existenz überwunden, ist mittlerweile in weiteren Städten vertreten und steht durch die Fusion mit der CLS vor einem weiteren wichtigen Schritt beim Aufbau einer marxistischen Organisation in Brasilien.