Neu im Kino: „Entre le murs“ („Die Klasse“) von Laurent Cantet
2008 ist das Jahr, „in dem die Finanzmärkte ihre schwerste Krise seit den dreißiger Jahren erlebt haben“ (Nouriel Roubini, Professor an der New Yorker University) und mit der „Realwirtschaft“ in einen Abwärtsstrudel geraten sind. David Gow vom Guardian erinnert daran, dass de Gaulle im Pariser Mai 1968 nach Baden-Baden flüchten musste und fürchtet ein „heißes Frühjahr“.
von Aron Amm, Berlin
Im Filmjahr 2008 findet sich das in keiner Weise wieder. Das Kino von heute scheint davor die Augen zu verschließen. Bis auf wenige Ausnahmen. Der Streifen „Entre le murs“ („Die Klasse“), der am 15. Januar in den deutschen Kinos startet, gehört zu diesen Ausnahmen. Laurent Cantets neuer Film ist voll das Leben. Ganz großes Kino.
Ein Klassenzimmer als „Resonanzkörper der Welt“
Worum geht es? In dieser Silvesternacht wurden Hunderte Autos in den Straßen von Paris angesteckt, ein Drittel mehr als in den Vorjahren. Ende letzten Jahres tobten Massenproteste von SchülerInnen, Studierenden und LehrerInnen bis hin zu tagelangen Schulbesetzungen, was die französische Regierung zu Zugeständnissen zwang. Premier Nicolas Sarkozy erklärte kürzlich, dass die Leute Carla Bruni und ihm bei ihren Auftritt angeblich gern zuwinken würden, dass in Frankreich aber auch schon „Könige unter die Guillotine gesteckt“ wurden. Worum geht es in „Entre le murs“? Genau darum geht es in Cantets Film – der 2008 in Cannes die Goldene Palme gewann.
Ort des Geschehens ist eine Schule im 20. Pariser Arrondissement. Dargestellt wird ein Schuljahr. Um die dreißig Schülerinnen und Schüler, 14 oder 15 Jahre alt, einige von ihnen Kinder von MigrantInnen aus den ehemaligen Kolonien, auch aus Mali oder China, zusammengepfercht in einer achten Klasse, wie Tausende andere.
Nachdem die Kamera den Französischlehrer, gespielt vom ehemaligen Lehrer eines Banlieue-Colleges, beim Betreten des Schulgebäudes begleitet, verlässt sie die Schule nicht mehr; die meiste Zeit hält sie sich in dem Klassenzimmer dieser achten Klasse auf. Ab und zu beobachtet sie auch Lehrerkonferenzen oder Elterngespräche.
Der Regisseur Cantet, dessen Eltern beide Lehrer waren, meint zum Schulbetrieb, dass wir „darin ein Bild unserer Gesellschaft sehen, mit all den Fragen nach der kulturellen Identität, nach Integration, nach der Fähigkeit, mit den verschiedenen ethnischen und kulturellen Hintergründen der Migrantenkinder respektvoll umzugehen und das als einen kleinen Reichtum unserer Gesellschaft zu begreifen. Im Film konzentrieren wir uns auf dieses eine Klassenzimmer, das zum Resonanzkörper der Welt wird.“
Monsieur Cantet, wie haben Sie das gemacht?
Die SchülerInnen sind keine Nachwuchsschauspieler, sondern besuchen allesamt die in „Entre le murs“ gezeigte Schule, wenn auch nicht die gleiche Klasse. Laurent Cantet hat bei Proben von 50 SchülerInnen 25 für die Rollen ausgewählt. „Es müssen ja nicht immer 3.000 sein.“ Auch die weiteren Lehrer sind von der Schule. In einem Improvisations-Worksshop wurden mehrere Monate lang die Rollen gemeinsam erarbeitet.
Laurent Cantet schwebte bereits ein Film über den Schulbetrieb vor, als er während seiner Recherchen auf einer Veranstaltung den Lehrer Francois Begaudeau kennenlernte, der einen Roman mit dem Titel „Entre le murs“ („Zwischen den Mauern“) veröffentlicht hatte. Daraufhin krempelte Cantet sein Projekt um, stützte sich auf die im Buch behandelten Erfahrungen und machte den Autor Francois Begaudeau zum Darsteller des Französischlehrers.
Ein Spielfilm, der wie ein Dokumentarfilm wirkt. Oder ein Dokumentarfilm als Spielfilm… Jedenfalls gelingt Cantet durch seine Vorgehensweise ein im höchsten Maß authentisches, ungemein packendes Stück Kino.
Verbales Tennis
Was den Film außerdem so aufregend macht, ist der Umstand, dass sich alles um Sprache, um Sprachlosigkeit, um Verstehen und das Unverstanden bleiben dreht. Francois unterrichtet indikatives Imperfekt, konditionalen Konjunktiv, schreibt Fremdwörter an die Tafel und will mit der Klasse, die mehr als ein Dutzend verschiedener Sprachen spricht, Worten und Wörtern auf den Grund gehen.
Das Geschehen haben wir wie ein mit Worten ausgefochtenes Tennismatch gefilmt“, so Cantet. „Links der Lehrer, rechts die Klasse. Ein einfaches Schema, das dann freilich komplexer wird, wenn die Schüler untereinander agieren, wenn der Lehrer ihr Terrain betritt, sie berührt. Vielleicht ist das Tennismatch nicht so treffend: Es ist wie bei den Lanzenkämpfen im Mittelalter, wo es darum geht, den anderen vom hohen Ross zu stoßen.“
Der Lehrer setzt sich mit den SchülerInnen auseinander wie ein kleiner Sokrates, wirft immer wieder Fragen auf, will sie in Form eines Frage-Antwort-Spiels weiterbringen. An einer Stelle des Films, wenn die Klasse sich mit Francois über Bücher unterhält, sagt die Schülerin Esmeralda übrigens, dass sie den „Staat“ von Platon“ gelesen habe. „Und welche Fragen stellt Sokrates in Platons Buch?“ „Er stellt Fragen über alles: die Liebe, Religion, Gott und die Leute, über alles.“
Respekt
Es gibt ihn doch, den politischen Film auf hohem Niveau. Das bewies Laurent Cantet bereits mit seinem Debüt „Ressources Humaines“ von 1999 über Arbeitsplatzabbau und Arbeitskampf. In seinen darauf folgenden Filmen beschäftigte er sich mit den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit „Auszeit“ von 2001 und mit Sextourismus „In den Süden“ von 2005. Cantets Anspruch: „Ich liebe die Filme von Maurice Pialat, von den Dardennes-Brüdern oder Rosselini, also Filme, die tief ins Gesellschaftliche eintauchen, aber nicht als soziologische oder politische Abhandlungen daherkommen, sondern als Personengemälde. Sie beobachten nüchtern, ergreifen das Gefühl, ziehen hinein ins innere Drama der Personen.“ Darunter versteht Cantet die Aufgaben des politischen Films.
„Entre les murs“ macht deutlich, dass „die Schule Ausschlusscharakter hat“, wie Cantet es nennt. „Dass die Schüler nach dieser Klasse getrennte Wege gehen, von der Berufschule bis zur Eliteschule Henri IV.“ Der Film, dadurch dass er sich auf die Akteure einlässt, zeigt auch auf, dass in allen SchülerInnen durch die Bank Fähigkeiten stecken, in ihnen Potenzial schlummert, das heute ungenutzt bleibt, aber in einem anderen System zur Entfaltung kommen könnte. Ein Wirtschafts- und Bildungssystem, das den SchülerInnen – anders als heute – Respekt zollt.
Der Guardian und andere bürgerliche Kommentatoren machen sich Sorgen über ein mögliches neues Mai "68. Cantet haben die damaligen Ereignisse geprägt. „Im Mai "68, ich war damals sechs, habe ich meine Eltern, beide Lehrer, einen Monat lang überhaupt nicht gesehen, weil sie permanent demonstrierten. Im Staatsfernsehen waren sie leider nicht zu sehen, da kam ja kaum was.“
„Entre le murs“ war bereits auf dem Französischen Filmfest in Berlin im Sommer 2008 zu sehen. Cantets Streifen war der Höhepunkt des abgelaufenen Fimjahrs – noch vor „Happy Go-Lucky“, „Waltz with Bashir“ und „Gomorrha“.