Rechte Offensive radikalisiert die Massen und provoziert Landbesetzungen
von Tony Saunois (CWI; Komitee für eine Arbeiterinternationale, dem die SAV als Sektion in Deutschland angehört) und Roberto Antezana
(Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Bolivien), 19. September 2008
Die Regierung der MAS (Bewegung zum Sozialismus) von Evo Morales fuhr einen vernichtenden Sieg beim Referendum ein, das am 10. August 2008 stattfand. Er heimste einen erdrutschartigen Sieg von landesweit 67,41 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 83,33 Prozent ein. Das Referendum führte nicht – wie von der Rechten kolportiert – zu einem „Patt“. In den ausschlaggebenden Regionen Cochabamba und Chuquisaca, die zwischen der Rechten und der Linken als umstritten gelten, gewann Morales 70,90 Prozent bzw. 53,88 Prozent. Sogar in der von der Rechten kontrollierten Region des sogenannten Media Luna (spanisch: Halbmond; umfasst die im Osten Boliviens gelegenen Provinzen Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija; Anm. d. Übers) erzielte Morales 52,50 Prozent in Pando, 49,83 Prozent in Tarija und 40,75 Prozent in Santa Cruz. Damit lag die Zustimmung für Morales höher als die für Hugo Chávez und bei weitem über der von Salvador Allendes Koalition Unidad Popular, welche von 1970-73 in Chile regierte.
Der überwältigende Sieg, den Evo Morales verzeichnen konnte, widerspiegelt die Forderung der bolivianischen Massen nach einer radikalen Umwälzung der bolivianischen Gesellschaft und ihre Opposition gegen den Neoliberalismus und die herrschende Klasse. Dieser Sieg versetzte daher die herrschende Klasse in Panik, die befürchtet, dass der Druck auf Morales, radikalere Maßnahmen zu ergreifen, zunehmen wird.
Nach dem Sieg gingen die rechten, reaktionären Kräfte in den östlich gelegenen Provinzen des Media Luna in die Offensive. Der Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution spitzte sich dramatisch zu. Um die zunehmende Bedrohung der Konterrevolution zurückzuschlagen, besteht die Notwendigkeit für klare, revolutionär-sozialistische Maßnahmen mehr denn je. Diese Offensive seitens der Rechten radikalisierte wichtige Teile der Arbeiterklasse und der Bauernschaft und führte zu Landbesetzungen.
Nach einer Woche heftiger Kämpfe finden zur Zeit Verhandlungen zwischen Vertretern der östlich gelegenen Provinzen und der Zentralregierung statt. Während diese Verhandlungen den Anschein haben, zu einer zwischenzeitlichen Beruhigung der Situation beizutragen, werden sie den tiefer liegenden Grund für die Krise nicht beheben können. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass es zu weiteren Zusammenstößen kommt. Der Druck von Seiten der Massen ist so enorm, dass die Regierung sich gezwungen sah, den Gouverneur von Pando, Leopoldo Fernandez, während der Verhandlungen zu verhaften. Ihm wird angelastet, Schlägertrupps angeheuert zu haben, um 16 BäuerInnen, auf ihrem Weg zu einer Kundgebung für die Regierung, umzubringen. Leider versagten die MAS-Führung und Evo Morales darin, den Sieg beim Referendum als Sprungbrett zu nutzen, um die Revolution voran zu bringen und den Kapitalismus zu überwinden, was es den Kräften der Reaktion erlaubte, die Initiative zu ergreifen.
“Bürgerlicher Putsch” in Santa Cruz
Am 8. September ist in Santa Cruz ein „bürgerlicher Putsch“ organisiert worden. Gebäude der Zentralregierung einschließlich des Büros der Impuestos Internas (Steuerbehörde), des Instituto Nacional de Reforma Agraria (landwirtschaftliche Reformen) und des Telekommunikationsunternehmens ENTEL wurden übernommen und geplündert. Um die Verbindung in die Stadt zu unterbrechen, wurden der Regionalflughafen besetzt und Straßenblockaden aufgestellt. Man gelangte nur durch, von rechten Gruppen kontrollierte, Checkpoints zum Flughafen. Rechte Schlägertrupps der halb-faschistischen Jugendorganisation Unión Juvenil Crucenista (UJC) drangen in das ärmste Elendsviertel „Plan 3.000“ ein, wo Morales enorme Unterstützung genießt. Sie hatten Militärkleidung an und terrorisierten Kinder und Jugendliche. Auch drohten sie damit, die Ventile abzudrehen und die Gaslieferungen aus Brasilien zu unterbrechen.
Dieser reaktionäre „bürgerliche Putsch“ fand im Anschluss an ein blutige Massaker an den BäuerInnen in Pando statt. An diesem Gemetzel waren eindeutig die örtliche Landbesitzer und der Provinzgouverneur beteiligt. Der Blutzoll beläuft sich bisher auf 30 Tote – alle Opfer sind BäuerInnen und UnterstützerInnen von Morales.
Morales entsandt die Armee in die Region von Santa Cruz und das Land stand am Rande eines Bürgerkrieges. Morales wies den US-Botschafter wegen seiner aktiven Unterstützung für die rechten Organisationen in der Media Luna des Landes aus. Dem folgte die Ausweisung des US-Botschafters aus Venezuela durch Hugo Chávez in Solidarität mit Morales. Die Regierung in Honduras lehnte es daraufhin ab, das Empfehlungsschreiben des dortigen US-Botschafters zu akzeptieren. Die USA reagierten mit der Ausweisung der Botschafter Boliviens und Venezuelas aus Washington.
Diese Krise in Bolivien hatte regionale Rückwirkungen und Konsequenzen. Den herrschenden Klassen Lateinamerikas graut davor, dass der Ausbruch eines Bürgerkrieges in Bolivien auf den gesamten Kontinent überschwappen wird.
Darüber hinaus würde ein möglicher Zerfall Boliviens mit den östlichen Provinzen des Media Luna, die nach Unabhängigkeit streben und die Gas- und Energiereserven übernähmen, eine Serie von Grenzstreitigkeiten auslösen, welche Chile, Brasilien und Argentinien mit einschlössen. Aus furcht vor diesen Konsequenzen erklärten die Regierungen von Brasilien, Chile, Argentinien und anderen Staaten ihre Unterstützung für Morales, und sie äußerten sich gegen die Rechte in der Media Luna. Sie hoffen, über diese Einflussnahme weiteren Druck auf Morales aufbauen zu können, damit er die Massenbewegung in Schach hält, und weitere revolutionäre Entwicklungen zu brechen. Dieser internationale Druck und das plötzlich einsetzende Gegengewicht der Klassen-Kräfte in Bolivien ist vermutlich der Grund dafür, weshalb die Rechten Verhandlungen mit der Regierung zugestimmt haben – bis jetzt!
Der US-Imperialismus hat die reaktionären Kräfte der Media Luna ganz eindeutig unterstützt. Bezeichnenderweise hat das Bush-Regime den jüngsten „bürgerlichen Putsch“ nicht verurteilt oder kritisiert. Binnen weniger Stunden nach der Rückkehr von Branco Marinkovic, dem Präsidenten des reaktionären, Santa Cruz unterstützenden Comité Civico, aus Miami brach die Krise in Santa Cruz aus. Er traf dort den ehemaligen bolivianischen Minister Sánchez Berzaín. Berzaín war als Hardliner der unterlegenen rechten Regierung Gonzalo Lozadas bekannt, die 2003 von einem Massen-Aufstand zu Fall gebracht wurde. Berzaín residiert heute im Exil in Miami und wird in Bolivien aufgrund seiner Rolle bei der Niederschlagung der Massenproteste vom 17. August 2003 wegen „Genozids“ gesucht. Bei den Zusammenstößen sind 67 Protestierende getötet und mehr als 300 verletzt worden.
Geplante Konterrevolution
Die jüngste konterrevolutionäre Offensive war offensichtlich geplant und vorbereitet, nachdem Evo Morales seinen erdrutschartigen Sieg beim Referendum erzielt hatte. Nach diesem Abstimmungs-Durchmarsch kündigte Morales Pläne für ein weiteres Referendum über eine neue Verfassung im Dezember 2008 an. Die Reformen, die dieser Verfassungsentwurf beinhaltet, würden die Einflussmöglichkeiten der indigenen Bevölkerung, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, ausweiten und darüber hinaus wichtige Reformen hinsichtlich eines Mindestlohnes, der Renten und des Gesundheitssystems beinhalten. Entscheidend dabei ist, dass darüber hinaus auch der Landbesitz (auf 5.000 oder 10.000 Hektar) begrenzt würde, der von den großen Latifundistas gehalten wird. Heute besitzen die großen Landbesitzer hunderte oder gar tausende von Hektar Land. Ein umfangreiches Programm zur Landreform, das unweigerlich zu erbitterten Kämpfen führen würde, wäre nötig, um diese Klausel auch in der neuen Verfassung einmünden zu lassen. Dies war zweifellos eines der Vorhaben, das auf der Rechten am meisten zu Angst und Entrüstung geführt hat.
Unmittelbar nach dem Referendum begann die Rechte in Santa Cruz damit, in die Offensive zu gehen. Nach seiner Bestätigung im Amt des Präfekten beschuldigte Ruben Costas Morales ein „Diktator“ zu sein und nannte Morales in eindeutig rassistisch-beleidigender Weise einen „Affen“. Costas urteilte die regierende Partei MAS als „Staatsterroristen“ ab. Wie eine Voraussage der innerhalb weniger Wochen losbrechenden Ereignisse kündigte Costas auch Pläne zur Wahl einer neuen Autonomen Gesetzgebenden Versammlung und zum Aufbau einer parallel existierenden Polizeieinheit sowie einer Provinzial-Steuerbehörde an. Am 15. August führte Costas eine Demonstration an, die damit endete, dass seine Sympathisanten den örtlichen Polizeichef und dessen Stellvertreter zusammenschlugen. Die halb-faschistische UJC marschierte zum Treffen der Lokalregierung ebenfalls auf. Berichten zufolge hatten sie vor, das einzige Ratsmitglied, das Mitglied der MAS ist, zu lynchen.
Diese Offensive der Rechten beschränkt sich bisher auf die Provinzen der Media Luna. Zur Zeit sind diese Entwicklungen ein Omen für die Bedrohung, die seitens der Konterrevolution besteht. Das könnte sich zu einem Putschversuch durch die abtrünnigen Teile der bewaffneten Kräfte im Zusammenhang mit den von der Rechten geführten Provinzen der Media Luna entwickeln.
Die von der Rechten in Santa Cruz ergriffene Initiative wurde von der rechten Opposition im Nationalkongress, PODEMOS, unterstützt. Ihr Führer Jorge Quiroga erklärte öffentlich, dass es sich bei den Vorfällen in Santa Cruz um einen „demokratischen Putsch, einem Aufruf zum Bürgerkrieg handele. Morales handelt nun wie ein Diktator und nicht wie ein der Verfassung verantwortlicher Präsident.“
Die Alarmglocken müssten nach der Erklärung des Armeeoberst a.D., Joaquín Rejas Ledesma, läuten, der folgenden offenen Aufruf machte: „Meine Kameraden bei den bewaffneten Einheiten, die Rolle und Verantwortung der bewaffneten Kräfte ist es, die politische Verfassung des Staates in Respekt vor dem privaten Eigentum zu gewährleisten […] mittels scharfer Opposition gegenüber den anarchistischen Kämpfen der sozialen Klassen, die versucht, die verfassungsmäßige Ordnung zu destabilisieren […].für uns kann kein Zweifel daran bestehen, dass es der Wille dieser Regierung ist, das demokratische soziale System und die Rechte des Privateigentums zu zerstören […].“ (La Opinión, 30. August, 2008)
Die Konterrevolution könnte auch dergestalt weitergehen, dass die Provinzen der Media Luna sich tatsächlich von Bolivien abspalten und dabei die Gas- und Energiereserven sowie das üppige Grundeigentum im Besitz der Latifundistas mitnehmen. Die Rechte in der Media Luna hat die Forderung nach größerer „Autonomie“ einschließlich eines höheren Anteils an den Einnahmen aus den Gas- und Energiereserven benutzt, um ihrem konterrevolutionären Programm eine Form zu geben.
MarxistInnen und das Recht auf Selbstbestimmung
MarxistInnen verteidigen das Recht auf Selbstbestimmung bishin zum Recht auf Abspaltung von einem Land, wenn dabei die Unterstützung der Mehrheit der Menschen eingeschlossen ist. Dieses demokratische Recht macht einen Teil des revolutionären Programms der Arbeiterklasse aus. Dennoch genügt MarxistInnen oder der Arbeiterklasse nicht das bloß allgemeine Ansinnen, das Recht auf Selbstbestimmung zu verteidigen. Es ist nötig, auch die konkrete Situation mit in Betracht zu ziehen, die abhängig ist von jeder einzelnen Sachlage. Unterstützung des Rechtes auf Selbstbestimmung heißt nicht, dass diese demokratische Forderung über den allgemeineren Interessen der Arbeiterklasse und dem Kampf für Sozialismus steht. Für die Rechte und Interessen der Arbeiterklasse als ganzes ist dies von nachrangiger Bedeutung. Es gibt wichtige Beispiele von historischen Kämpfen der internationalen Arbeiterklasse, die MarxistInnen Lehren im Umgang mit diesem Thema sind.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Saarland (eine Region in Deutschland an der Westgrenze zu Frankreich) unter französische Herrschaft gestellt. 1935 hatte eine Volksbefragung über die Rückkehr ins Deutsche Reich stattgefunden. Obwohl es eine klare nationale Positionierung gab, sprach sich Trotzki (zu diesem Zeitpunkt) gegen die Rückkehr des Saarlandes ins Deutsche Reich aus, da dies die Menschen im Saarland unter die eiserne Knute des Faschismus stellen und Hitlers Naziregime stärken würde. Die nationalen Aspirationen wurden den allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse mit anderen Worten untergeordnet.
Während des russischen Bürgerkrieges nach der Oktoberrevolution von 1917 schwenkten die konterrevolutionären Kräfte in der Ukraine in den „Weißen Truppen“ das Banner der „Ukrainischen Unabhängigkeit“. Sie benutzten diese Forderung auf konterrevolutionäre Art und Weise im Sinne ihres Kampfes gegen die sozialistische Revolution. Von den politisch bewusstesten ArbeiterInnen und BäuerInnen, die das Eingreifen der Roten Armee von Russland aus zur Unterstützung der Arbeiter- und Bauernrevolution in der Ukraine begrüßten, wurde dies zurückgewiesen. Nach dem Sieg der Revolution unterstützten Lenin und Trotzki – vor Auftreten des stalinistischen Regimes – die demokratischen und nationalen Rechte der Menschen in der Ukraine als Teil einer Sozialistischen Föderation.
In der konkreten Situation, die in Santa Cruz und der Media Luna besteht, bringt die herrschende Elite die Forderung nach „Autonomie“ vor, um ihre eigenen Privilegien und ihre Hoheit über die Gesellschaft zu verteidigen. In diesen Provinzen versucht die Elite mit „eiserner Hand“ zu regieren und die indigene Bevölkerung zu unterdrücken. Sie begründen eine bolivianische „soziale Apartheid“. Im Zentrum von Santa Cruz hängen Schilder in Bars und Restaurants, die es den Indigenas verbieten einzutreten! Die Verteidigung der „Autonomie“ durch die reaktionäre Rechte in der Media Luna hat mit den demokratischen Aspirationen der unterdrückten Menschen nicht zu tun, die von der Arbeiterklasse verteidigt werden. Die herrschende Elite will „Autonomie“, um mit ihrer Ausbeutung fortfahren sowie weiterhin über die indigene Bevölkerung bestimmen zu können und die Kontrolle über die Gas- und Energiereserven zu behalten.
Bei einer Schicht der Unterdrückten in Santa Cruz hat die herrschende Elite es geschafft, für Verwirrung und Konfusion über diesen Aspekt zu sorgen, und sie war in der Lage, einige Schichten als Unterstützer für sich zu gewinnen. Das liegt in erster Linie an der Schwäche des Programmes der MAS und der Zentralregierung bezüglich dieses Themas und dass es den Menschen keine Alternative anbietet – weder hinsichtlich des nationalen demokratischen Verlangens noch des wirtschaftlichen Anliegens der Menschen. Das Versagen der Regierung, mit dem Kapitalismus und dem Großgrundbesitz zu brechen bestärkte dies, weil die MAS-Regierung darin verhaftet war sich zu fragen, was innerhalb des kapitalistischen Systems „möglich“ ist. Das wurde vom rechten Regime in Santa Cruz ausgenutzt. Sie versprachen zum Beispiel, den Mindestlohn nahezu zu verdoppeln, wenn die „Provinz-Autonomie“ gesichert wäre.
Zur gleichen Zeit zeigte sich die wahre Haltung der herrschenden Elite im Zuge des „bürgerlichen Putsches“ als diese die Aussperrung etlicher ArbeiterInnen durch die Konzernchefs verhängte. Das Massaker an den BäuerInnen in Pando ist eine Warnung dafür, was „Autonomie“ in der Realität in der Media Luna bedeuten würde. Die Tatsache, dass mehr als 40 Prozent beim Referendum in Santa Cruz für Morales gestimmt haben, veranschaulicht, dass weite Teile der indigenen Bevölkerung und der Armen dies verstehen. Mit einem bestimmenderen und klareren Aufruf an die Massen in Santa Cruz könnte die Basis der Rechten weiter ausgeholt werden.
Zu diesem Zeitpunkt fordern die indigenen Bevölkerungsteile in Bolivien nicht die Abspaltung, sondern Recht auf Kultur, Sprache und Besitz. MarxistInnen verteidigen die Rechte der Guaranies, Weenhayek, Tapieté, Ayoreode und Chaquenos zur Verteidigung ihrer Kultur, Sprache und weiterer indigener Rechte, die Gewährung autonomer Rechte für diese Communities eingeschlossen, so dies gewünscht wird. Bisher bietet die herrschende Elite diesen Menschen ein solches Programm nicht an. Stattdessen will die herrschende Klasse „Autonomie“ für Santa Cruz und den Media Luna, allerdings mit einer Elite, die freie Hand zur Herrschaft und Ausbeutung dieser und anderer Menschen und – natürlich – auch die volle Kontrolle über die Gas- und weitere Energiereserven, welche sich in dieser Region konzentrieren, hat. Ausgesprochen demokratische und kulturelle Rechte der indigenen Bevölkerung in diesen Gebieten können nur von einer Arbeiter- und Bauernregierung in Bolivien und nach der Überwindung des Großgrundbesitzes und des Kapitalismus sichergestellt werden.
Verhandlungen und zukünftige Kämpfe
Die momentan stattfindenden Verhandlungen zwischen den rechten Führern der Media Luna und der Regierung mögen zu einer zeitweiligen Pattsituation führen, doch diese wird nicht lange anhalten. Neue Konflikte und Zusammenstöße sind unausweichlich, da der allem zugrunde liegende Konflikt der Interessen zwischen der Masse der Bevölkerung und der reaktionären, privilegierten Elite ungelöst bleibt.
Die überwältigende Unterstützung für Morales beim Referendum spiegelt das Verlangen nach einer radikalen Umwälzung der bolivianischen Gesellschaft wider. Um diesen Aspirationen nachzukommen und auch um die Bedrohung durch die Reaktion entscheidend zurückzuweisen, ist es dringend von Nöten, dass der Kampf durch eine sozialistische Umwälzung Boliviens vorangebracht wird.
Evo Morales genießt breite Unterstützung und es bestehen hohe Erwartungen daran, was seine Regierung im Stande ist zu tun, um Armut und Elend zu beenden, welche das Leben der Masse der Bevölkerung in Lateinamerikas ärmstem Land vernichtet. Sozialprogramme wie die finanzielle Unterstützung für alle SchülerInnen durch das Juancito Pinto-Projekt und die Renta Dignidad, mit der sichergestellt werden soll, dass jedem Kind, jedem älteren und jedem armen Menschen ein Minimum an Lebensqualität zuteil wird, sind äußerst beliebt. Sie haben weitergehende Erwartungen unter den Massen geweckt. Die teilweise Verstaatlichung von PETROBRAS und anderer multinationaler Öllobbyisten erhielt breite Unterstützung unter den Massen, die jetzt fordern, dass zu radikaleren Maßnahmen gegriffen wird.
Diese beliebten, wenn auch beschränkten, Reformen haben die erbärmliche Armut dennoch nicht beendet, von der die Masse der Bevölkerung weiterhin betroffen ist. Sie haben allerdings zu erbittertem Hass gegenüber der herrschenden Elite geführt – insbesondere die Vorschläge Morales´ zu den Ressourcen der Kohlenwasserstoffreserven, welche sich in den Provinzen der Media Luna konzentrieren. Die Empörung der herrschenden Elite über diese Reformen erreichte ein neues Ausmaß als die Vorschläge zur Begrenzung des Grundbesitzes auf 5.000 oder 10.000 Hektar angekündigt wurden.
Alle diese Minimalforderungen der Massen sind auf die Interessen der herrschenden Klasse geprallt; vor allem jene Teile davon, die die Media Luna kontrollieren. Der Zusammenprall der sozialen und der Klasseninteressen sind – wie die jüngsten Ereignisse gezeigt haben – unvermeidbar. Das Fortbestehen des Kapitalismus und des Großgrundbesitzes wird es nicht erlauben, dass die Reformen, die umgesetzt wurden, Bestand haben und sie werden unter fortwährendem Beschuss stehen. Die Armut und die mangelnde Entwicklung der bolivianischen Wirtschaft können bei weiterem Bestehen von Kapitalismus und Großgrundbesitz nicht angegangen werden; vor dem Hintergrund der ernsten Rezession der Weltwirtschaft, die sich gerade abzeichnet, ist dies noch viel weniger möglich. Die Korruption der herrschenden Klasse, deren Dominanz durch den Imperialismus und die Weltwirtschaft bedeuten, dass nicht möglich sein wird, den Kapitalismus weiterzuentwickeln. Um die Programme der Sozialreformen, die Entwicklung der bolivianischen Gesellschaft und eine Verbesserung der Lebensstandards sowie Lebensqualität der Massen sicherzustellen, ist ein endgültiger Bruch mit dem Kapitalismus und dem Großgrundbesitz von Nöten. Die Bedrohung seitens der Reaktion bedeutet, dass dies jetzt eine dringende und notwendige Aufgabe für die Arbeiterklasse, die armen BäuerInnen und die anderen, vom Kapitalismus Ausgebeuteten, ist.
“Humaner Kapitalismus” oder wirklich sozialistisches Programm
Leider ist dies nicht das Programm von Evo Morales oder der MAS. Sie versuchen vor der sozialistischen Revolution eine „humanere“ Form des Kapitalismus aufzubauen. Das, was der Vizepräsident Alvaro García Linera den „Anden-Kapitalismus“ nennt – es kann eine „notwendige Etappe“ vor der sozialistischen Revolution eingeführt werden. Noch immer sind zentrale Aspekte in Bolivien die Entwicklung der Industrie, ein radikales Programm für landwirtschaftliche Reformen, die Erlangung demokratischer und nationaler Rechte und eine Unabhängigkeit vom Imperialismus.
Die Regierung versucht, eine Reihe schrittweiser Veränderungen und Reformen, die die meisten dieser Aspekte berühren. Diese Maßnahmen lassen die wirtschaftliche Macht jedoch weiterhin konzentriert in den Händen der herrschenden Klasse. Diese Reformen sind frontal auf die Interessen der herrschenden Elite geprallt, die verbittert gegen sie kämpft, weil sie spüren, dass ihre Interessen bedroht sind.
Das von der Regierung durchgeführte beschränkte Programm zur Landreform zeigt die bestehenden Widersprüche auf. Seit Morales an die Macht gekommen ist, wurden den Großgrundbesitzern 500.000 Hektar Land weggenommen und den armen BäuerInnen bzw. Bauernkooperativen übereignet. Der Großteil davon ist ungenutztes Brachland minderer Qualität. Fünf Millionen Hektar Land ist im Besitz von zwei Millionen armen BäuerInnen. Immer noch besitzen 100 Familien atemberaubende 25 Millionen Hektar! Diese 100 Familien werden die vorgeschlagenen Reformen in der neuen Verfassung zur Begrenzung des Landbesitzes auf 5.000 bis 10.000 Hektar niemals hinnehmen.
Indem die MAS sich selbst innerhalb der Grenzen des Kapitalismus verhaftet, ist sie bereits in Konflikt mit den Forderungen der Massenbewegung geraten. Forderungen der Gewerkschaften nach einer garantierten staatlich finanzierten Rente und einem Rentenalter von 55 Jahren (die Lebenserwartung in Bolivien liegt bei 62 Jahren) sind von der Regierung als „nicht durchführbar“ kritisiert worden. Im Zuge des Referendums, als einige ArbeiterInnen zu Streiks und Massenprotesten aufriefen, um diese Reformen einzufordern, wurden sie von der Regierung als „Agenten der Rechten“ angegriffen.
Unglücklicherweise übernehmen Evo Morales und die MAS eine Politik, die vorhat, Appelle an die herrschende Elite herauszugeben und einen „Kompromiss“ zu erreichen anstelle einer Politik und einem Programm zur Überwindung der Eliten. Sie wiederholen dieselben Fehler Salvador Allendes in Chile in den frühen 1970er Jahren. In seinem Eingreifen in die Interessen des Kapitalismus war Allende wesentlich weiter gegangen als Morales es bisher getan hat. Obwohl eine Reihe von nationalen und multinationalen Konzernen in Chile verstaatlicht wurden, wurde der Kapitalismus in Chile nicht beseitigt. Allende versuchte Vereinbarungen mit der herrschenden Elite und dem Militär sicherzustellen. Er bezog sogar Augusto Pinochet in seine Regierung mit ein – denselben Pinochet, der danach die Militärputsch am 11. September 1973 anführte. Diese Politik gab den Kapitalisten und dem Militär nur Zeit, um den Boden für den Umsturz Allendes zu bereiten und um die Arbeiterklasse unter der eisernen Knute der Militärdiktatur zu zerquetschen.
In Szenen, die auf tragische Art und Weise an Santiago 1973 erinnerten (als 500.000 ArbeiterInnen zu Allende marschierten, um Waffen für den Kampf gegen die Putschisten zu verlangen), marschierten Hunderttausende nach Morales´ Sieg im Referendum durch La Paz. Sie skandierten: „Evo – mano duro, mano duro“ (wörtlich: „Evo – harte Hand, harte Hand“). Evo Morales antwortete ihnen und erklärte: „Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um euch zu begrüßen und den gewählten Präfekten (in der Media Luna) meinen Respekt zollen. Wir respektieren die Rechtmäßigkeit, die sie haben und ich rufe sie auf, in einigender Art und Weise zu arbeiten.“
Der Respekt, den sie umgekehrt Morales und den Massen der ArbeiterInnen und BäuerInnen nur einige Wochen später zollten, zeigte sich im Massaker an den BäuerInnen in Pando und im „bürgerlichen Putsch“ in Santa Cruz.
Statt diese reaktionäre Bewegung zu konfrontieren, indem man alle nötigen Schritte unternimmt, um die Revolution mittels Massenmobilisierung voranzutreiben, kündigte die Regierung an, dass sie die Reaktion mit „allen notwendigen legalen Mitteln“ herausfordern wolle.
Es ist nichts falsches daran, jede legale oder parlamentarische Möglichkeit für sich auszunutzen, die vorhanden ist. Dennoch muss dies von den notwendigen Schritten zur Mobilisierung und Organisierung der Masse der Bevölkerung gegen die Bedrohung durch die Reaktion begleitet werden. Wer in einer solch konfrontativen Situation bloß auf das parlamentarische und juristische Prozedere vertraut, liefert das Rezept für eine Wiederholung der chilenischen Tragödie von 1973.
Ein Kampfprogramm
Das Einberufen von Massendemonstrationen in ganz Bolivien gegen den Putsch in Santa Cruz hätte sicher geholfen, um sich zu wappnen und das Selbstvertrauen der ArbeiterInnen, armen BäuerInnen und der sozialen Bewegungen zu steigern. Besonders in Santa Cruz hätte dies die Moral der Massen gestärkt, um die Rechte von Angesicht zu Angesicht zu konfrontieren. Massenmobilisierungen hätten die Ausgangsbasis für einen Aufruf an die Massen sein können, um sämtliche soziale Bewegungen und die Arbeiter- und Bauernorganisationen in Verteidigungs- und Kampfkomitees in allen Orten miteinander zu verknüpfen. Solche Kampfkomitees sollten auf der Basis gewählter und von ihrer Wählerschaft jederzeit wieder abwählbarer Delegierter bestimmt werden. Ebenso könnten Ortkomitees VertreterInnen für Stadt-, Provinz-, Regional- und Landesorgane wählen, um den Kampf zu koordinieren.
In Santa Cruz und auf Landesebene sind demokratische Verteidigungsmilizen zum Schutz der Communities gegen Angriffe rechter paramilitärische Truppen – wie etwa der UJC – jetzt ein dringender Schritt für die Bewegung.
Für die Bewegung ist es gleichfalls ebenso dringend nötig, die untere Ebene des Militärs zu erreichen, die sich zum weitaus größten Teil aus der Arbeiterklasse und den auf dem Land lebenden Armen rekrutiert und die mit den sozialen Kämpfen der Bevölkerung sympathisiert. Die Wahl von Soldaten-Komitees und das Herausdrängen von potenziellen Putschisten und Unterstützern der Rechten ist essential, um einen Sieg der Konterrevolution zu verhindern.
Diese Aufgaben müssen auch mit der Notwendigkeit der Gründung einer Arbeiter- und Bauern-Regierung mit einem revolutionär-sozialistischen Programm verbunden werden, das die Beschlagnahmung von Land beinhaltet, welches von den einhundert reichsten Familien besessen wird und dessen Neuverteilung an arme BäuerInnen und Bauernkooperativen; die Verstaatlichung der multinationalen Banken und Konzerne und der großen Unternehmen, die die Wirtschaft dominieren. Diese Schritte, zusammen mit der Einführung eines demokratischen Systems aus Arbeiterkontrolle und Arbeitermanagement über die Wirtschaft, sind der Weg, um sicherzustellen, dass die Reaktion entscheidend zurückgeschlagen wird und der Weg frei ist zur Einführung eines demokratischen sozialistischen Planes der Wirtschaft.
Wichtige Elemente dieses Programms wurden in der Vergangenheit von den größten Gewerkschaften wie z.B. der COB und den Bauern-Gewerkschaften formal übernommen. Nach der jüngsten rechten Offensive haben COB und die Bauerngewerkschaft zur Gründung von Verteidigungsmilizen und zur Besetzung des, von am „bürgerlichen Putsch“ beteiligten Großgrundbesitzern gehörendem, Grundbesitz aufgerufen. Diese Erklärung muss neben weiteren Schritten zur Überwindung von Kapitalismus und Großgrundbesitz dringend umgesetzt werden.
Verbunden mit einem Appell an die ArbeiterInnen in Venezuela, Kuba und des restlichen Lateinamerikas, um zusammenzukommen und die jeweiligen eigenen herrschenden Klassen zu Fall zu bringen und eine demokratische, sozialistische Föderation der lateinamerikanischen Staaten zu gründen, sind dies die nötigen Schritte, um die Reaktion zurückzuschlagen und die sozialistische Revolution in Bolivien voranzubringen.