Der Büchermarkt bewundert und fürchtet China: „Der erwachte Drache – Großmacht China im 21. Jahrhundert“, „Das Ende der westlichen Weltherrschaft“ oder „Die Stunde der Rivalen“. In den Titeln dieser Neuerscheinungen drückt sich die Sichtweise der Herrschenden im Westen aus. Während sie in China einen neuen Konkurrenten ausmachen, zeigen sie sich gleichzeitig beeindruckt von seiner Entwicklung.
Den Bürgerlichen dient der Aufstieg Chinas als Beweis für die Überlegenheit des Kapitalismus. Dabei unterschlagen sie, dass dieses Wachstum auf alptraumhaften Arbeitsbedingungen basiert. Die Fabrik im „Reich der Mitte“ umfasst Produktionsstätte, Lager und von bewaffneten Wärtern bewachte Schlafunterkünfte. Die Arbeitszeit beträgt oft mehr als hundert Stunden pro Woche. Streiks werden gewaltsam niedergeschlagen. Noch. Denn es brodelt unter den unterdrückten Massen. Und zwar in einem Maße, dass sich die Wut früher oder später in Revolten und Erhebungen Bahn brechen wird.
von Aron Amm, Berlin
China ist heute die viertgrößte Wirtschaft der Welt. In rasantem Tempo wurden Frankreich, Großbritannien und Italien überholt. Bald wird China auch Deutschland überrunden und nur noch zu Japan und den USA aufschauen (allerdings ist die US-Ökonomie – nicht zuletzt auf Grund der höheren Arbeitsproduktivität – noch sechs Mal so groß wie die chinesische).
Aufstieg Chinas
In dem Riesenland werden heute 40 Prozent aller Schuhe auf dem Planeten gefertigt, während China mit 1,3 Milliarden Menschen ein Fünftel der Weltbevölkerung stellt. Aber nicht nur in den arbeitsintensiven Industrien schreitet China voran. Auch in der Elektrobranche belegt China inzwischen sowohl bei der Produktion als auch beim Export den ersten Platz. Im Schiffsbau kommt China gleich nach Japan und Südkorea. Die chinesische Autoindustrie gewinnt ebenfalls an Bedeutung.
China ist zu einem Zentrum der globalen Industrieproduktion geworden. Ein Drittel der Produkte, die in China hergestellt werden, stammt aus Fabriken, die sich in ausländischem Besitz befinden. Allerdings profitieren nicht nur Konzerne aus den USA, Japan oder Deutschland. Inzwischen haben fünf chinesische Unternehmen den Sprung in die weltweite Top Ten bei der Marktkapitalisierung geschafft.
Ein kapitalistisches Wirtschaftswunder?
Bis zur Chinesischen Revolution nach dem Zweiten Weltkrieg war China – unter halbfeudalen und kapitalistischen Verhältnissen! – eines der rückständigsten Länder der Erde. Die nationale Kapitalistenklasse erwies sich als unfähig, die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen. Sie war eng mit den Großgrundbesitzern verflochten und konnte deshalb keine umfassende Landreform verwirklichen. Sie war zu schwach, um sich aus dem Griff der übermächtigen Imperialisten zu befreien und die Industrie auf- und auszubauen. Erst auf der Basis von Staatseigentum und Planwirtschaft konnte eine atemberaubende Entwicklung der Produktivkräfte stattfinden und die Bevölkerung aus der schlimmsten Armut befreit werden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der heutige Aufschwung ohne die Chinesische Revolution vor 60 Jahren nicht möglich gewesen wäre.
Während in Russland direkt nach der Revolution von 1917 unter Lenin und Trotzki eine Rätedemokratie geschaffen wurde, existierte unter Mao Tse-Tung von Anfang an eine bürokratische Herrschaft. Im Gegensatz zu China, wo sich Mao auf die Bauern stützte, war in Russland die Arbeiterklasse, obgleich nur zehn Prozent der Bevölkerung, der Träger der Revolution. Das machte deshalb einen entscheidenden Unterschied, weil die Lohnabhängigen, die tagtäglich in großen Betrieben zusammenarbeiten, – anders als die Bauernschaft – nach kollektiver Organisation streben, was sich nicht nur in Russland 1917, sondern auch in Deutschland 1918 und in zahlreichen anderen revolutionären Situationen in der Bildung von Arbeiterräten ausdrückte. Im Fall einer erfolgreichen Revolution – wie in Russland damals – werden auf diese Weise die Grundlagen für eine Arbeiterdemokratie gelegt.
Wie die Diktatoren im Ostblock betrieben die chinesische Bürokraten nach 1949 eine Kommandowirtschaft. Wenn das Wirtschaftsleben zu ersticken drohte, setzten sie auf kontrollierte Reformen von oben – um später wieder abrupt umzusteuern. Dieser Zickzack-Kurs war von Fehlplanung und Verschwendung geprägt. 1978 wurden unter Deng Xiaoping marktwirtschaftliche Schritte eingeleitet, die weiter gehen sollten, als alle vorherigen Liberalisierungsmaßnahmen. Das gilt vor allem für die Zeit nach dem Ende der Sowjetunion. So wurden im Jahr 1992 8.500 neue Sonderwirtschaftszonen geschaffen; bis dahin waren es nur hundert gewesen. Im gleichen Jahr verdreifachten sich die ausländischen Direktinvestitionen auf elf Milliarden Dollar, um sich bis 1994 auf 33 Milliarden erneut zu verdreifachen. Deng Xiaoping bemerkte dazu: „Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse.“
Heute ist die chinesische Wirtschaft überwiegend kapitalistisch. Zwar arbeitet eine Mehrheit der Beschäftigten noch in Staatsbetrieben, doch werden mehr als die Hälfte aller Güter und Dienstleistungen (allen voran beim Export) im Privatsektor erwirtschaftet. Der von der Kommunistischen Partei Chinas dominierte Staatsapparat – ein Relikt des alten Regimes – hat ebenfalls den Weg Richtung Kapitalismus eingeschlagen. Den gesellschaftlichen Zusammenbruch im ehemaligen Ostblock Anfang der neunziger Jahre jedoch vor Augen, setzen sie alles daran, die Prozesse von oben im Griff zu behalten. Eine Besonderheit stellt der Bankensektor dar, der weiterhin staatlich dominiert ist. Noch besteht der Apparat auch darauf, dass Bereiche wie Rüstung, Strom, Telekommunikation oder Werften in Staatshand bleiben. Außerdem gehören die landwirtschaftlichen Flächen dem Staat und werden von ihm verpachtet.
Der Kapitalismus spielt seit über hundert Jahren auf globaler Ebene keine fortschrittliche Rolle mehr. Die ihm innewohnende Konkurrenz und Krisenhaftigkeit mündete in zwei Weltkriege und in die Weltwirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre. Die Kapitaleigner versuchten auf Basis des Neoliberalismus ihre Profitabilitätsprobleme anzugehen. Das war allerdings nur möglich, weil die Führung der Arbeiterorganisationen gegenüber diesen Maßnahmen kapitulierte. Zu Gute kam dem Kapitalismus aber auch, dass ihm mit der Integration von China und den ehemaligen Ostblock-Ländern plötzlich fast doppelt so viele ArbeiterInnen zur Verfügung standen.
„Moderne Zeiten“
Unter den Bürgerlichen ist viel vom „modernen China“ die Rede. In der ersten Szene des Films „Moderne Zeiten“ lässt Charlie Chaplin eine Schafherde vor das Werkstor drängen, um dann auf Arbeitermassen überzublenden, die aus der U-Bahn in die Fabrik strömen. Die Arbeitsbedingungen für Millionen von ChinesInnen sind heute genauso unmenschlich wie in diesem Film. „Wie knochenhart es hinter den Kulissen zugeht, berichtet eine Arbeiterin von Taiway, einem Zulieferer der Sportartikelindustrie. Bis zu zehn Stunden täglich müsse sie Leim auf Schuhsohlen streichen, mit einem Gerät, das kaum größer als eine Zahnbürste ist. Der Geruch sei ätzend, oft leide sie unter Kopfschmerzen. Als Schutz habe die Firma zwar Atemmasken verteilt, aber die nützten nichts, deshalb trage sie fast niemand – außer wenn Inspekteure kämen. Abends fällt sie erschöpft ins Bett. Im firmeneigenen Wohnheim teilt sie sich mit sechs anderen Frauen ein Zimmer. Über eine Dusche verfügen die Arbeiterinnen nicht; um sich zu waschen, schleppen sie heißes Wasser in Eimern heran“ (SPIEGEL 20/2008).
Vor allem in den Küstenregionen wurden seit 1980 Sonderwirtschaftszonen hochgezogen. Dort werden chinesische ArbeiterInnen von Adidas, Nike und anderen Multis ausgebeutet. In Unternehmen mit ausländischem Kapital passieren auch die meisten Arbeitsunfälle. „Einhundert Millionen Paar Schuhe verlassen jedes Jahr das Gebiet von Futian in der südlichen Provinz Fujian. Seit 1984 haben dort die großen Sportschuh-Markenfirmen der ganzen Welt ihre Fabriken eröffnet, oft unter der Tarnung von Unternehmen aus Taiwan oder Hongkong. Mehr als 700.000 Beschäftigte arbeiten dort unter furchtbaren Bedingungen am Band, mit einer hohen Unfallrate und Arbeitszeiten, die an sechs oder sieben Tagen oft 90 oder 100 Wochenstunden übersteigen. Es sind meistens sehr junge Frauen“ (Charles Reeve und Xi Xuanwu im 1997 veröffentlichten Buch „Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China“).
Bis zur Südostasien-Krise waren es die „Tigerstaaten“ gewesen, die den Weltmarkt mit Billigprodukten belieferten. Heute ist China die Produktionsdrehschreibe Nr. 1, weil es die „Tiger“ als Billiglohnland noch unterbieten konnte.
Der Boom und seine Folgen
Das „Wirtschaftswunder“ führte zu einer Einkommensschere, die laut Weltbank größer ist als in den USA und selbst in Russland. Während 300 Millionen heute in bitterster Armut leben, gibt es 340.000 Millionäre. „HSBC, eine der führenden internationalen Banken, sponserte in den letzten zwei Jahren ein hochkarätiges Golfturnier in Shanghai mit Preisgeldern von mehreren Millionen Dollar. Überall in China schossen Golfplätze wie Pilze aus dem Boden“ (Alan Geenspan in seiner Autobiografie „Mein Leben für die Wirtschaft“).
Bereits 1981 wurden Entlassungen legalisiert. Die marktwirtschaftlichen Reformen führten allein zwischen 1996 und 2001 45 Millionen in die Arbeitslosigkeit. Die „eiserne Reisschale“, die unter Mao eine Grundversorgung garantieren sollte, ist Vergangenheit. Selbst, wer Arbeit hat, kann sich zumeist keinen Arztbesuch leisten. In den Privatbetrieben gibt es überhaupt keine Krankenversicherung. Die Renten sind erbärmlich.
Besonders alarmierend ist die Verarmung auf dem Land, wo noch mehr als 700 Millionen ChinesInnen leben. Das Durchschnittseinkommen beläuft sich dort auf ein Drittel dessen, was in den Städten der Schnitt ist. Die Arbeitslosigkeit liegt laut IWF bei 30 Prozent. Bis zu 200 Millionen Bauern wurden seit den neunziger Jahren zu Wanderarbeitern, die in den Städten versuchen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Ein Resultat des Booms ist das Ausmaß der Umweltzerstörung. Bei einer offiziellen Sitzung gestand ein Minister, dass mittlerweile ein Drittel des Wassers verschmutzt ist. Viele Stadtbewohner leiden unter Schwindelgefühlen, Brechreiz und ständiger Müdigkeit.
Die Schattenseite des Booms zeigte sich auch beim Erdbeben Mitte Mai, das über 60.000 Menschen das Leben kostete und fünf Millionen obdachlos machte.Während Regierungsgebäude und Firmensitze in der Provinz Sichuan kaum betroffen waren, fielen Schulen wie Kartenhäuser zusammen, zerbröselten Wohnblöcke zu Staub – weil schlampig gebaut wurde und nötige Reparaturen ausblieben. Wie marode die Infrastruktur ist, offenbarte sich schon während des Neujahrfestes im Februar, als Millionen auf Grund von Schneefällen, die anderswo nur ein Achselzucken hervorgerufen hätten, Tage lang vor Bahnhöfen ausharren mussten, weil kein Zug mehr fuhr.
Weltmacht im Wartestand?
Ende des 19. Jahrhunderts tobte zwischen den Großmächten ein Streit um die Rohstoffvorkommen von Zentralasien. Dieser ging als das „Große Spiel“ in die Geschichte ein. Längst hat ein neues „Großes Spiel“ begonnen. Spielfeld ist neben dem Nahen Osten wieder Zentralasien, aber auch Afrika und andere Gegenden der Welt. China – reich an Fertigungsstätten und Arbeitskräften, arm an Ressourcen – gehört zu den Mitspielern. Gerade in Afrika, dem Kontinent, auf dem einige Regionen von den Großmächten noch nicht abgesteckt sind, streckt China seine Fühler aus. Aber auch in Lateinamerika meldet es Ansprüche an.
Premier Wen Jiabao sieht sich in einer Reihe von Fragen auf einer Wellenlänge mit Indien und dem Iran und fördert diese Verbindung als Gegenwicht zu den USA und der EU. Aktuell erwägt die chinesische Regierung, sich am Bau einer Erdgasleitung vom Iran über Pakistan nach Indien zu beteiligen.
Um sich im internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten, steigert Peking den Wehretat in diesem Jahr um 17,6 Prozent auf umgerechnet rund 60 Milliarden Dollar. Das entspricht zwar nur einem Zehntel dessen, was Washington ausgibt. Trotzdem ist das Wachstum bei der Aufrüstung Chinas gewaltig. Im Zentrum steht das Raketenprogramm. Zudem macht sich China daran, eine maritime Großmacht zu werden: 2012 soll die Marine über doppelt so viele U-Boote wie die USA verfügen. Ferner ist der Bau von Flugzeugträgern geplant. Alles, um den Pazifik zu beherrschen – im Konflikt mit den USA um Taiwan, mit Japan um Öl- und Gasfelder im Ostchinesischen Meer und mit Malaysia, Vietnam und den Philippinen um die Spratly-Inseln, wo ebenfalls Öl und Gas vermutet wird.
Mit der Aufrüstung haben die chinesischen Machthaber natürlich auch den Anstieg von Protesten im eigenen Land im Blick. Um von der Verantwortung für die soziale Krise abzulenken, schlüpft Staats- und Parteichef Hu Jintao als Oberbefehlshaber der Armee bei Truppenbesuchen regelmäßig in einen Mao-Anzug und schürt Nationalismus. Dieser richtet sich vorrangig gegen Japan. Im Zweiten Weltkrieg, in dem Japan China besetzen wollte, kamen nach unterschiedlichen Angaben zehn bis 25 Millionen ChinesInnen ums Leben. Direkt im Anschluss griff der US-Imperialismus Japan als Bollwerk gegen den „Kommunismus“ unter die Arme. Da es heute keine starken Arbeiterorganisationen in China gibt, die für einen gemeinsamen Kampf der arbeitenden Menschen unabhängig von ihrer Nationalität eintreten, kann die anti-japanische Hetze bei vielen verfangen. Das gilt auch für die Stimmungsmache gegen ethnische und religiöse Minderheiten. 92 Prozent in China sind Han-Chinesen, damit gehören über hundert Millionen Menschen den Tibetern, Uiguren, Kasachen und anderen ethnischen Gruppen an.
Die jüngsten Unruhen in Tibet erhellten schlaglichtartig die Bedingungen in der ärmsten Provinz der „Volksrepublik“. Trotz zahlreicher Bodenschätze beträgt das Einkommen der Tibeter nur 30 Prozent von dem im Rest des Landes. 50 Prozent sind Analphabeten. Dementsprechend richteten sich die Proteste nicht nur gegen die Unterdrückung, sie hatten auch einen sozialen Inhalt. Der Dalai Lama tritt lediglich für größere Autonomie nach dem Vorbild von Hongkong ein. SozialistInnen hingegen verteidigen das Recht der Tibeter auf Selbstbestimmung, einschließlich dem Recht auf Unabhängigkeit – bei garantierten demokratischen Rechten für die Han-Chinesen und alle anderen ethnischen Minderheiten in Tibet.
Für westliche Regierungen und Konzerne ist China nicht nur ein bedeutender Wirtschafts- und Handelspartner, sondern ein aufstrebender Rivale. Deshalb wird die „gelbe Gefahr“ beschworen und von der Einhaltung der Menschenrechte gefaselt. Es wird suggeriert, dass China als Diktatur in der kapitalistischen Welt eine Ausnahme darstellen würde. Dabei tritt der kapitalistische Westen selber demokratische Rechte mit Füßen, rüstet auf und arbeitet eng mit Diktaturen wie Saudi-Arabien oder Ägypten zusammen.
Die China-Blasen
Während das Säbelrasseln zwischen den USA und China lauter wird, ist die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit größer denn je. China profitierte jahrelang von der US-Nachfrage. Gleichzeitig waren die Vereinigten Staaten darauf angewiesen, dass China ihr gigantisches Handels- und Haushaltsdefizit mitfinanziert. China erwarb inzwischen US-Staatsanleihen von über einer Billion Dollar. Dieses Abhängigkeitsverhältnis und die voranschreitende Integration Chinas in den kapitalistischen Weltmarkt werden dazu führen, dass China von der in den USA beginnenden Rezession voll erfasst wird (seit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 verfünffachten sich die Ausfuhren).
Es kommt aber noch dicker. Mit dem schnellen Geld wurden immer neue Produktionsanlagen hochgezogen, die einfach erlangte Kredite ermöglichten. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise droht eine Kettenreaktion, die Überkapazitäten offen legt, faule Kredite anwachsen lässt und den Banken die Bilanzen verhagelt. Am Ende der Kette stehen Arbeiterfamilien und Kleinbauern, die ihre Ersparnisse mangels Altersvorsorge an der Börse verspekuliert haben werden. Durch die galoppierende Inflation, allen voran bei den Lebensmittelpreisen (so verteuerte sich Gemüse letztes Jahr um 30, Fleisch um 48 Prozent) ist die Masse der ChinesInnen bereits stark gebeutelt.
Die Hauspreise haben sich in den Großstädten seit Anfang des Jahrzehnts verdoppelt (übrigens besitzen 90 Prozent der Stadtbevölkerung eine Eigentumswohnung). Die Aktienkurse haben sich zwischen 2005 und 2007 mehr als vervierfacht. Sowohl im Immobiliensektor als auch an den Börsen sind spekulative Blasen entstanden.
Die Wirtschaft Chinas ist nun – angesichts der Spekulationspolitik und des globalen Abwärtsstrudels – dabei, in eine Zange zu geraten, die von innen wie außen zupackt.
Vor einer sozialen Explosion
2009 jährt sich zum 20. Mal der Aufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Dieses Ereignis ist nach wie vor allgegenwärtig. Die Herrschenden fürchten eine Neuauflage. Den unterdrückten Massen schwebt die Niederschlagung wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. Im Frühsommer 1989 waren nicht nur Studierende auf der Straße. Zehntausende ArbeiterInnen beteiligten sich, nicht nur in Peking, ebenfalls. In der Hauptstadt bildete sich sogar ein Unabhängiger Arbeiterverband, der erst 150, auf dem Höhepunkt dann 20.000 Mitglieder zählte.
Auch heute gärt es unter Studierenden wie Beschäftigten gleichermaßen. 1989 war es die Wut über die undemokratischen Verhältnisse, über Korruption und Inflation, die zunächst Jugendliche auf die Straße brachte. All das ist heute genauso aktuell wie damals. Im letzten Herbst kam es in Peking, Shenzen und einer ganzen Reihe weiterer Städte zu Belagerungen von Uni-Cafeterias aus Protest gegen die jüngsten Preiserhöhungen. Dazu kommt, dass heute von den über vier Millionen Hochschulabsolventen jährlich mehr als eine Million keine Stelle finden. Bis Ende der neunziger Jahre noch undenkbar.
Aber auch die Zahl der Arbeitskämpfe hat, trotz eines allgemeinen Streikverbots, enorm zugenommen. Ein Beispiel von vielen: „Alle paar Tage legen bei Clever Metal & Electroplating in Shenzen die Beschäftigten die Arbeit nieder. […] Seit zwei Wochen warten sie auf ihr Gehalt, sagen die Arbeiter. Den Bossen gehe das Geld aus, vermuten sie – und ihnen die Geduld: „Bis zu zwölf Stunden täglich bespritze ich Metallrahmen mit Farbe“, klagt einer, „gegen den Gestank hilft auch der dünne Mundschutz nicht“ (SPIEGEL 20/2008).
Gegenüber 1994, als 10.000 Protestaktionen gezählt wurden, kam es 2003 zu 58.000 und seitdem zu 70.000 bis 80.000 jährlich – an denen sich pro Jahr drei bis vier Millionen beteiligten. Eine wachsende Zahl von Protesten findet mittlerweile auf dem Land statt. Proteste, die sich gegen hohe Steuern, Korruption und Zwangsumsiedlungen richten. Das markiert eine einschneidende Veränderung gegenüber 1989, als das Regime unter vielen Bauern noch Rückhalt hatte.
Als in Osteuropa und Russland die Marktwirtschaft eingeführt wurde, gab es größere Illusionen in den Kapitalismus, als das heute in China der Fall ist. Immer wieder wird gegen Privatisierungen Widerstand geleistet. Bei einzelnen Streikposten wurde sogar die Internationale gesungen. Vermehrt gibt es Versuche, unabhängige Gewerkschaften aufzubauen.
Bei Teilen der Bevölkerung hat das Regime allerdings noch Unterstützung. Zum einen machen viele einen Unterschied zwischen den besonders verhassten KP-Funktionären vor Ort und der Zentralregierung. Zum anderen kann Peking derzeit noch auf eine Schicht von Facharbeitern, Angestellten und Selbstständigen bauen, deren materielle Lage sich in den letzten Jahren verbessert hat.
Es ist nicht auszuschließen, dass die KP-Oberen in nächster Zeit einzelne Zugeständnisse machen, mit dem Ziel, Dampf aus dem Kessel zu nehmen. Allerdings könnte das in der jetzigen Lage den Widerstand sogar beflügeln. In jedem Fall hat sich heute so viel Druck angestaut, dass die Eskalation eines Konflikts jederzeit zu einem Flächenbrand führen kann.
Sozialistischer Ausweg
China hat die größte Arbeiterklasse der Welt. In den kommenden Kämpfen wird es für sie darum gehen, weitere Privatisierungen und Entlassungen zu verhindern, demokratische und gewerkschaftliche Rechte durchzusetzen und Schritte in Richtung Aufbau eigener unabhängiger Organisationen zu unternehmen.
Um Armut und Repression aber auf Dauer zu überwinden, muss die chinesische Arbeiterklasse – im Bündnis mit den Bauern – den Weg einer grundlegenden Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft einschlagen und eine Rätedemokratie erkämpfen. Dafür ist die Rücküberführung der privatisierten Betriebe in öffentliches Eigentum – bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung – und die Schaffung einer demokratischen Planwirtschaft nötig.
Während China unter kapitalistischen Vorzeichen die Hölle auf Erden ist, werden die chinesischen ArbeiterInnen beim Kampf für eine sozialistische Veränderung zu „Himmelsstürmern“ werden – so wurden die Pariser Kommunarden von 1871 genannt, die damals den ersten großen Versuch starteten, eine Arbeiterdemokratie zu errichten.