Junge Migranten in Köln-Kalk fordern Respekt und Gerechtigkeit

Etablierte Politiker und Polizei antworten mit Ignoranz, düsteren Prophezeiungen und Polizeistaats-Manövern


 

von Claus Ludwig, Köln

[Flugblatt der LINKEN, Presseerklärung der LINKEN]

Seit einer Woche demonstrieren jeden Abend mehrere hundert junge MigrantInnen im Kölner Stadtteil Kalk. Sie fordern „Gerechtigkeit“. Anlass der Proteste überwiegend arabischer, kurdischer und türkischer Jugendlicher ist der Tod des 17jährigen Salih. Er wurde von einem 20jährigen Russlanddeutschen auf der Hauptstraße des Viertels erstochen, laut Aussagen von Polizei und Staatsanwaltschaft in Notwehr, weil der junge Marokkaner versuchte ihn auszurauben.

Die Jugendlichen wollen das nicht akzeptieren. Sie sagen, ihr Freund sei kein Räuber. Sie werfen Polizei und Staatsanwaltschaft vor, nicht sorgfältig ermittelt zu haben und vorschnell die These „Raubüberfall – Notwehr“ aufgestellt zu haben.

Längst geht es um mehr als die um die Trauer um einen beliebten Freund und Mitschüler. Ein türkischer Jugendlicher drückt aus, was viele denken: „Salih war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“ Die Jugendlichen fühlen sich an die Wand gedrängt. Gerade in Kalk sieht es düster aus mit Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Immer wieder werden junge Migranten, vor allem Muslime, als Sündenböcke dargestellt: von der Krise des deutschen Bildungssystems bis zum Terrorismus, von Jugendkriminalität bis Arbeitslosigkeit, ihnen wird alles in die Schuhe geschoben. Viele Jugendliche beziehen sich auf die rassistische Kampagne von Roland Koch und sagen, jetzt reicht es.

Die Forderungen der Bewegung sind noch verschwommen. Die Demonstranten wollen Gerechtigkeit für ihren Freund, endlich auch Respekt von der Gesellschaft. Viele berichten am offenen Mikrofon über Diskriminierung im Alltag, oft seitens der Polizei.

Einige bezeichnen den 20jährigen, der zugestochen hat, als „Mörder“ und wollen ihn im Gefängnis sehen. Andere wollen lediglich, dass umfassend und sorgfältig ermittelt wird.

Eine Strategie, wie sie ihr Anliegen deutlich machen können, haben sie noch nicht. Der häufigste Ruf auf der Demo ist „Allahu Akbar“. Viele betonen, sie seien keine Fundamentalisten, ab und zu wird auf deutsch gerufen „Es gibt nur einen Gott“, man wolle auch „Christen, Juden, Hindus und alle“ ansprechen, sagt ein junger Mann am Megafon. Klar ist aber: wer heute mit „Allahu Akbar“ auf den Lippen durch Straßen einer deutschen Stadt läuft, wird Schwierigkeiten haben, sein inhaltliches Anliegen rüberzubringen. Auch viele Jugendliche wissen das, aber sie sind hin- und hergerissen, ihre Forderungen einem breiterem Publikum zu erklären und der Chance, sich endlich als MigrantInnen und Muslime stolz bekennen zu können.

Linke Flugblätter werden gerne genommen, viele junge Leute äußern sich erfreut und zeigen Offenheit und Sympathien für linke Positionen. Bei den Aktionen beteiligen sich nicht nur arabische Jugendliche, auch TürkInnen und eine ganze Reihe deutscher MitschülerInnen und Freunde von Salih sind dabei.

Die Reaktion der etablierten Parteien und der Stadtverwaltung auf die Proteste war nicht überraschend, ist aber dennoch ein Skandal.

Leute wie der Kölner Oberbürgermeister Schramma, die bei allen öffentlichen Anlässen mit einem Glas Kölsch in der Hand in die Kamera grinsen, halten es nicht für nötig, auch nur ein einziges Mal die trauernden und protestierenden Jugendlichen aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen. Die Stadt schickt stattdessen mehrere Hundertschaften Polizei nach Kalk, um die Protestierenden vom Rest der Bevölkerung zu trennen.

Die bürgerlichen Politiker reden zwar nicht mit den Jugendlichen, aber über sie. Der CDU-Fraktionschef im Rathaus, Ex-Polizeichef Granitzka, orakelte: „Wir sitzen auf einem Pulverfass, es drohen Verhältnisse wie in den Pariser Vorstädten.“ Er kokettierte wohl damit, das erste Streichholz über dem Pulverfass zu zünden und so Roland Koch im Wahlkampf-Endspurt zu helfen. Auch die Krawall-Medien wie „Express“, BILD und RTL versuchen, sich selbst erfüllende Prophezeiungen in die Welt zu setzen, reden von „Pariser Verhältnissen“ und vom „Brennpunkt Kalk“. Der seriöse WDR ließ sich nicht lumpen und fragte einen Jugendlichen: „Und – brennt Kalk heute Nacht?“.

Am Freitag, den 25.1.08, führte die Polizei in Kalk eine Aktion durch, die man schlicht als Polizeistaats-Übung mit rassistischer Selektion bezeichnen muss. Alle Zufahrtsstraßen in den Stadtteil wurden mit Kontrollen versehen. Alle nichtdeutsch aussehenden FußgängerInnen und AutofahrerInnen wurden angehalten und kontrolliert. Als AntifaschistInnen sich über die polizeiliche Maßnahme beschwerten, sagte ein Polizist: „Ich kann bestätigten: Blonde kontrollieren wir nicht.“ Es waren mehrere Hundertschaften aus verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens im Einsatz.

Die Kundgebung für Salih wurde durch eine vierfach gestaffelte Kette von Polizisten von der Haupstraßes des Viertels ferngehalten. Ein Demo-Zug durch die Nebenstraße wurde mit einem Wanderkessel und Video-Teams von allen Seiten begleitet. Ein Redner meinte: „Hier sind überwiegend Jugendliche und Familien mit Kindern und sie behandeln uns wie Fußball-Hooligans.“

Wie sich diese Bewegung entwickeln wird, ist vollkommen offen. Teilnehmende Jugendliche können sich politisieren und sich aktiv an Bewegungen gegen Nazis und Rassismus beteiligen. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass islamistische Ideen Anklang finden oder dass es – z.B. durch Provokationen seitens Polizei und Politik – zu einer Eskalation kommt.

Bevor aber allwissende deutsche Linke über den auf den ersten Blick nicht politischen Auslöser und die „Allah“-Rufe die Nase rümpfen, bleibt festzuhalten: in Köln-Kalk gibt es eine neue Form von Migranten-Bewegung. Die jungen Leute haben spontan und selbstorgansiert den Weg sozialer Mobilisierung und politischen Protests gewählt anstatt still zu Hause zu trauern und die Ungleichbehandlung zu beklagen. Ihre Forderungen sind zutiefst demokratisch: Gleichbehandlung und Gerechtigkeit für alle. Diese Bewegung hat – trotz aller Unklarheiten und offenem Ausgang – die Solidarität der Linken und der Arbeiterbewegung verdient.

Vor allem muss die Linke aufstehen gegen die Polizeistaats-Maßnahmen und die Hetze seitens bürgerlicher Politiker und die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes über nationale und religiöse Grenzen hinaus mit den Jugendlichen diskutieren.

Die Bewegung mag größere Kreise ziehen oder einschlafen, weil die Forderungen nicht zugespitzt werden. Aber die Kalker Jugendlichen haben Mut bewiesen und eine Marke gesetzt. Andere werden diesem Beispiel folgen und die Forderungen junger MigrantInnen nach Gleichberechtigung und Zukunfsperspektiven werden häufiger zu hören sein.