Verwahrlosung: Kinder und Eltern brauchen Hilfe statt Heuchelei

Gesellschaft radikal verändern


 

Die grausam-tragischen Fälle von Verwahrlosung von Kindern bis zum Tod sind nur die Spitze eines Berges von Vernachlässigung und Gewalt gegen die Schwächsten in dieser Gesellschaft.

von Georg Kümmel, Köln

Die pastoralen Sprüche von Familienministerin von der Leyen (CDU) werden nicht verhindern, dass auch morgen weiter Kinder in nach Urin stinkenden, verdreckten Wohnungen vegetieren und verprügelt werden. Man weiß nicht, worüber man sich mehr empören soll: das Leid dieser Kinder oder die Heuchelei der Christ- und Sozialdemokraten. Wenn mal wieder ein Fall krasser Verwahrlosung bekannt wird, dann wird mit den Fingern auf die MitarbeiterInnen der Jugendämter gezeigt – von denselben Politikern, die die Stellen bei den zuständigen Ämtern gekürzt haben.

Natürlich muss es mehr Kontrolle geben. Aber was geschieht denn, wenn sich bei einer Kontrolle herausstellt, dass die Wohnung für drei Kinder zu klein ist, dass die alleinerziehende Mutter zu wenig Geld hat und mit Nebenjob, Kochen, Putzen, Waschen, Arztbesuchen überfordert ist? Kommt dann ein behördlicher Bescheid, in dem mitgeteilt wird, dass ab dem nächsten Monat eine größere Wohnung zum selben Preis bereitgestellt, dass das Arbeitslosengeld II für Mutter und Kinder verdoppelt wird? Und dass sofort eine öffentlich bezahlte Haushaltshilfe zweimal die Woche für drei Stunden zur Unterstützung bei der Hausarbeit kommt? Das würde helfen, aber dann müsste zur Gegenfinanzierung ja die jüngste Senkung der Unternehmenssteuern rückgängig gemacht werden.

Da wird an die Eltern appelliert, sie sollen sich mehr um ihre Kinder kümmern. Von denselben Politikern, die gleichzeitig den Ladenschluss abschaffen und so dafür sorgen, dass die Mama abends noch hinter der Kasse stehen und ihr Kind ohne Kuss und Gute-Nacht-Geschichte einschlafen muss.

Privatsache?

Nach der heute herrschenden Ideologie gilt: Kinder sind Privatsache.

Zum Fahren eines Autos muss man eine Ausbildung absolvieren und seine Qualifikation in einer Prüfung nachweisen. Selbst wer nur ein paar Forellen fangen möchte, darf das nicht, ohne sich vorher Wissen über die Spezies der Fische angeeignet und seinen Anglerschein abgelegt zu haben. Aber wenn es um kleine Menschenkinder geht, ist plötzlich alles anders: Ob die Eltern dieser Aufgabe gewachsen sind, was eine Mutter, ein Vater über Ernährung, Entwicklung, Psychologie eines Neugeborenen weiß oder nicht weiß, interessiert niemanden.

Eltern haben nun mal Macht über ihre Kinder. Wie jede Macht, muss auch diese kontrolliert werden. Kindererziehung darf keine Privatangelegenheit sein. Wenn jemand einen anderen Erwachsenen an den Haaren ziehen und lauthals beschimpfen würde, nur weil der gerade etwas ungeschickt vor ihm auf dem Bürgersteig herum hampelt, dann wäre das eine Straftat. Wenn eine Mutter das Gleiche mit ihrem fünfjährigen Jungen tut, dann ist die allgemeine Vorstellung: Das ist ja „ihr“ Kind.

Aufgabe der Gemeinschaft

Um dem Elend der Kinder ein Ende zu setzen, bedarf es radikaler, umfassender Änderungen in der Gesellschaft. Bildungsangebote schon vor der Geburt, unterstützende Betreuung durch erfahrene Fachkräfte nach der Geburt, öffentliche Kinderbetreuung in personell gut ausgestatteten Kitas ab dem ersten Lebensjahr, materielle Absicherung der Eltern, ausreichend Wohnraum. Statt Arbeitslosigkeit oder Flexibilisierung der Arbeitszeiten brauchen wir Arbeitszeitverkürzung, damit die Eltern Zeit für ihre Kinder haben. Statt Isolation in Klein- und Kleinstfamilien brauchen wir die Möglichkeit zum Zusammenleben mehrerer Generationen auf ausreichend Wohnfläche unter einem Dach. Das wären erste Schritte hin zu einer Gesellschaft, in der das Wohl der Kinder als die vornehmste Aufgabe der Gemeinschaft begriffen und danach gehandelt würde.