Beschäftigte entwickeln Alternativen
Im Januar 1976 stellten Beschäftigte des britischen Luftfahrt- und Rüstungskonzerns Lucas Aerospace einen Plan für eine alternative Produktion vor. Statt Blindflug-Systeme für Militärflugzeuge wollten sie lieber Sichthilfen für Blinde bauen. Das war nur ein Vorschlag von 150 Ideen, die aus den Reihen der Belegschaft innerhalb nur eines Jahres entwickelt worden waren.
von Georg Kümmel, Köln
Auslöser für die Entwicklung eigener Produktionspläne waren mehrere Entlassungswellen im Konzern. Die Beschäftigten wollten beweisen, dass ihre Arbeitskraft nicht überflüssig ist. Bei Lucas Aerospace arbeiteten damals noch etwa 15.000 Menschen in verschiedenen Werken. Über die Hälfte der Produktion waren Rüstungsprojekte. Ein Gremium von Vertrauensleuten erarbeitete einen Fragebogen an die Beschäftigten in allen Werken: Wie viele Leute mit welcher Qualifikation gibt es? Welche Maschinen stehen zur Verfügung? An welchen Produkten mangelt es im Leben jedes Einzelnen und in der Gesellschaft? Könnte die Belegschaft das Werk auch selbst betreiben?
Die Resonanz war riesig. Belegschaftsversammlungen wurden durchgeführt. Ingenieure, Techniker, Facharbeiter setzten sich zusammen und entwickelten Ideen. Pläne und selbst Prototypen wurden heimlich während der Arbeitszeit und nach Feierabend gezeichnet und gebaut.
Ihrer Zeit voraus
Mit ihren Vorschlägen war die Belegschaft in jeder Hinsicht ihrer Zeit weit voraus. Dazu zählten tragbare Dialysegeräte (damals musste man noch zum Anschluss an die künstliche Niere ins Krankenhaus), der Einsatz von Solarzellentechnik oder Wärmepumpen zur energiesparenden Beheizung von Häusern. Dabei nutzten die Beschäftigten konsequent ihr Wissen und ihre Erfahrung mit modernen Werkstoffen und Maschinen, was sie aber bisher notgedrungen vornehmlich für militärische Produkte eingesetzt hatten. Die Erfahrungen aus dem Bereich Aerodynamik wurden eingesetzt, um Windkraftwerke zu entwerfen.
Die Vorschläge wurden damals weit über die Grenzen des Werkes und selbst über die Grenzen Großbritanniens bekannt. Dazu zählte auch – um ein damals berühmtes Beispiel für den Erfindungsgeist der Belegschaft zu nennen – ein Schiene-Straßen-Fahrzeug. Das war eine Art Zwitter aus Bus und Bahn. Weil die Gummireifen besser auf der Schiene haften als Stahlräder, konnte der Schienenbus größere Steigungen überwinden als die klassische Eisenbahn. Das sollte unterentwickelten Ländern einen schnellen und preiswerten Ausbau der Bahn erlauben, weil in Bergregionen in der Regel auf teure Brücken und Tunnel hätte verzichtet werden können.
Wer hat die Macht?
Die Geschäftsleitung des Konzerns zeigte sich wenig begeistert von den Plänen. Die Tatsache, dass hier aus den Reihen der Beschäftigten vollkommen selbstständig ein konkreter, realistischer Vorschlag für eine alternative Produktion auf den Tisch gelegt worden war, stellte unweigerlich die bestehenden Verhältnisse in Frage und zwar in jeder Hinsicht: Wozu brauchen wir noch eine innerbetriebliche Hierarchie? Wozu hohe Gehälter für die Chefetage, wenn die Ideen von den Beschäftigten in den Konstruktionsbüros und Werkshallen stammen? Was soll der Zweck der Produktion sein – die Bedürfnisse der Menschen oder Profitinteressen? Warum sollen die Beschäftigten nicht auch über die Gestaltung der Arbeitsabläufe bestimmen?
Die Forderung nach Verstaatlichung war damals sehr populär. Auch die Labour Party trat deshalb in ihrem Wahlprogramm von 1974 für die Verstaatlichung der Luftfahrtindustrie ein. Nach der Wahl „vergaß“ sie das aber schnell wieder. Auch den Spitzen der Gewerkschaften gingen die Pläne zu weit.
Um die Pläne der Lucas-Aerospace-Arbeiter umzusetzen, wäre eine grundlegende Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse erforderlich gewesen – nicht nur im Konzern, sondern in der Gesellschaft. Es lohnt sich dennoch, dieses Beispiel zu studieren, weil es eine Ahnung davon gibt, was möglich wäre, wenn eben diese kapitalistischen Verhältnisse durch sozialistische ersetzt würden und zwar nicht nur in einem Betrieb, nicht nur in einem Land, sondern weltweit.