Ein Interview mit Lois Austin, gesundheitspolitische Sprecherin, der Socialist Party in England und Wales – Schwesterorganisation der SAV
Seit zwei Jahren gibt überall in Großbritannien Demonstrationen, an denen sich selbst in kleinen Dörfern oft über 15.000 Menschen beteiligt haben. Es geht um den Erhalt der Krankenhäuser, gegen die Kürzungen im Pflege- und Renigungsbereich und gegen den voranschreitenden Komplettausverkauf des NHS (Nationales Gesundheitssystem).
Das Interview führte Anne Engelhardt
In seinem Film „Sicko“ vergleicht Michael Moore das amerikanische Gesundheitssystem unter anderem auch mit dem Großbritanniens. Hat er recht, mit dem wie positiv er das NHS darstellt?
In der Vergangenheit gehörte das NHS tatsächlich zu den besten Modellen weltweit. Es wird nicht über die Krankensversicherungen finanziert, sondern komplett über die Steuern und die Behandlung war komplett kostenlos. Die Indentifizierung der Leute mit ihrem Gesundheitssystem war sehr groß, denn sie waren sehr stolz darauf. Besonders RentnerInnen sind daher heute sehr aktiv bei dem Protesten gegen den Ausverkauf des NHS, denn sie können sich noch sehr gut daran erinnern, dass man vor 1948 den Arzt direkt nach der Untersuchung bezahlen musste. Derzeit wird man in den öffentlichen Krankenhäusern komplett kostenlos behandelt und bekommt auch Medikamente umsonst mit nach Hause.
Michael Moore hat aber eine rosarote Brille auf, wenn er das US-Modell mit dem Britischen vergleicht. Kürzlich hat er in einem Fernsehinterview doch eingelenkt und ist darauf eingegangen, dass die derzeitige Praxis der regierenden Labourparty – sich an der USA zu orientieren und zu privatisieren etc. – falsch sei.
Haben die Kürzungen erst unter Blair begonnen?
Nein, Margeret Thatcher hat damals damit angefangen, indem sie einen „Internen Markt“ einführte. Bei den öffentlichen Krankenhäusern wurde früher immer erst geprüft in welcher Gegend sie liegen und wie man sie ausrichtet: z.B. in dem Teil von London leben eher ältere Menschen oder dort wohnen eher Familien mit Kleinkindern. Diese Planung der Gelder wurde durch den „internen Markt“ total aufgebrochen. Ab da an mussten die Krankenhäuser über ihre Finanzierungen untereinander konkurrieren. Seitdem gibt es keine Zusammenarbeit mehr in der Forschung und Heilung. Jedes Krankenhaus ist zu einem Markt geworden und muss gucken, wo es bleibt. Diese Gesetzesänderung vor allem bewirkt, dass privaten Konzernen Tür und Tor geöffnet wurde.
1997 meinte die Labourregierung unter Blair, dass es ja egal sei, ob private oder öffentliche Krankenhäuser einen Patienten kurieren. Somit bekommen nun auch die privaten Krankenhäuser und Konzerne Milliarden von öffentlichen Geldern. Dabei führen sie nur Behandlungen durch, die wenig kosten, da sie nicht kompliziert sind, aber viel Geld einbringen. Grob gesagt: Während sich das NHS um Unfälle, Krebspatienten und Notoperationen kümmert, führen Privatkliniken Schönheitsops durch.
Das NHS kann neben den kommerziellen Unternehmen kaum bestehen und bekommt daher mittlerweile weitaus weniger Geld als die Privaten.
Der krankenhausinterne Lieferdienst des NHS wurde nun zum Teil an den Deutschen Logistikkonzern DHL verkauft. Auch die Reinigung der Krankenhäuser wurde schon komplett an Privatunternehmen veräußert. Reinigungskräfte haben nun oft weniger als 40 Minuten für eine Station zur Verfügung, die eigentlich dreimal am Tag gereinigt werden soll.
Das führte vor wenigen Monaten zu einem Skandal, da sich in einem Krankenhaus in Kent (an der Südküste Englands) in kürzester Zeit 90 Personen an einem resistenten Virus infizierten und daran starben.
Die Regierung hat nun einen Vertrag mit 14 Privatfirmen unterschrieben, die das Gesundheitssystem auf „Gewinnorientierung“ untersuchen. Dafür wurde denen 6 Mrd Pfund gegeben. Dabei sind darunter vier US-Wirtschaftsunternehmen, die im eigenen Land schon in Korruptionsfälle verwickelt sind.
Wie ist derzeit die Stimmung unter der Bevölkerung und unter den NHS Beschäftigten?
Die Beschäftigen beim NHS sind wirklich sauer. Es gab Massenproteste im ganzen Land, aber die Führung der Gewerkschaften, vor allem von UNISON – der größten britischen Gewerkschaft – ist stark mit der Labourparty verbunden.
Sie organisieren daher keine Streiks oder Demonstrationen. Schon vor zwei Jahren wurde auf der Gewerkschafterkonferenz von UNISON beschlossen eine landesweite Demo in London zu organisieren. Ohne den Druck den die SP (Socialist Party) mit ihren Gewerkschaftsmitgliedern ausgeübt hat, wäre das am 4. November gar nicht passiert. Wir haben die Kampagne „Ruft zur Demonstration auf, jetzt!“ gestartet und letztendlich fand die Demonstration nicht angemeldet als Protestdemo, sondern als „Geburtstagsfeier des NHS“ statt, zu der sogar der Gesundheitsminister, der selbst die Kürzungen verordnet in der Gewerkschaftszeitung aufrief. Die Zeitung mit dem Aufruf zur Demo erschien auch erst einen Tag vorher. Die SP konnte zumindest durchsetzen, dass man auf der „Geburtstagsfeier“ auch gegen die Kürzungen demonstrierte.
Trotzdem kamen landesweit nur etwa 8.000 Menschen zusammen, obwohl selbst in kleinen Dörfern viel mehr los war, weil sie dort zum Beispiel das einzige Krankenhaus schließen wollten. Wenn die Gewerkschaften ernsthaft mobilisiert hätten, wären bestimmt mehr als 100.000 Menschen nach London gekommen, um zu demonstrieren.
Gab es in den zwei Jahren, seitdem es die Massenproteste und Aktionen gibt, denn trotzdem Erfolge zum Beispiel gegen Krankenhausschließungen oder Ausgründung von Krankenhausbereichen?
Ja, wobei dabei die Gewerkschaftsführung an den Erfolgen keinen Anteil hatte, da sie sehr konservativ ist. Aber beispielsweise haben die Proteste vor einiger Zeit in Swansea in Wales die Schließung eines Krankenhauses verhindert. Natürlich versucht die Regierung das jetzt wieder zu kippen. In Wiltshire wollten sie sechs Krankenhäuser schließen und zu einem zusammenlegen. Das konnte durch erfolgreiche Prosteste und Streiks verhindert werden.
In Manchester sind derzeit Krankenschwestern – und Pfleger im Streik gegen die Kündigung einer Kollegin, die sich über die Bedingungen auf der psychatrischen Station aufgeregt hat, was vom Management als „konzernschädigend“ verurteilt wurde.
Um die Angriffe von Oben aber wirklich stoppen zu können, müssen Arbeitsniederlegungen auch von anderen Beschäftigten in anderen Branchen aktiv unterstützt werden.