Zur Dokumentation, zur Erklärung für das Zögern der Parteiführung bei der Solidarität mit dem Lokführerstreik und zur Diskussion darüber 10 Thesen der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der LINKEn, Ulrike Zerhau, sowie eine Antwort von Heino Berg
Der Streik der Lokomotivführer – 10 Thesen von Ulrike Zerhau
1. Es ist verständlich, dass die Lokomotivführer für eine höhere Bezahlung streiten. Ihr Arbeitsalltag ist geprägt von besonderen zeitlichen Belastungen, von der Anforderung auf betriebliche Erfordernisse flexibel reagieren zu können/müssen und dem Stress, der sich aus einem „fahrenden“ Arbeitsplatz ergibt. Obendrein wird ihre Tätigkeit schlecht bezahlt.
2. Die Situation der Lokomotivführer ist typisch für die Beschäftigten in den Verkehrsberufen. Mit Ausnahme der Piloten werden sie – Fahrer von Bussen, Strassenbahnen, LKW´s, Taxen u.a. – regelmäßig niedrig entlohnt, teilweise sogar unter dem von Gewerkschaften und der Partei DIE LINKE. geforderten Mindestlohn.
3. Aufgabe und Ziel gewerkschaftlicher Tarifpolitik ist daher, mit allen Beschäftigten der Verkehrsberufe eine höhere Bezahlung zu erkämpfen. Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, dass dies von unterschiedlichen Gewerkschaften in unterschiedlichen Branchen durchgesetzt werden muss.
4. Beschäftigte eines Unternehmens bzw. eines Konzerns sind Teil eines Gesamtsystems von Arbeitsorganisation und Arbeitsbeziehungen. Eine auf Dauer angelegte erfolgreiche Interessensvertretung setzt eine sich als Einheit verstehende Belegschaft voraus. Belegschaftsgruppen, die ihre Identität als Sonderstatus in Abgrenzung zu anderen begreifen, können durchaus (oder gerade deshalb) besondere Erfolge erringen. Beschäftigte, die zu den marktschwachen Gruppen gehören, verlieren allerdings die Chance, dass ihre Interessen im „Windschatten“ der Stärkeren mitvertreten werden. Sie gehören zu den betrieblichen Verlierern, da sie auf sich allein gestellt kein Druckpotential für ihre Forderungen aufbauen können. Sind „Spezialisten“ im Alleingang erfolgreich, motivieren sie andere in Schlüsselstellungen, die Durchsetzung ihrer jeweiligen Einzelinteressen zu organisieren.
5. Mit den alten Strategien konnten die DGB-Gewerkschaften die Umverteilung von unten nach oben nicht verhindern, ArbeitnehmerInnen müssen seit Jahren Einkommensverluste hinnehmen. Inzwischen haben die Gewerkschaften begriffen, dass sie neue Wege zur Mitgliedergewinnung und –vertretung gehen müssen. Gewerkschaften stehen heute vor der Aufgabe, Strategien zu entwickeln, mit denen sie einerseits die Interessen der stärkeren Beschäftigtengruppen berücksichtigen und die besonderen Anliegen der verschiedensten Berufsgruppen aufgreifen. Andererseits muss es ihnen gelingen, die verbindenden, gemeinsamen Interessen aller Lohnabhängigen zu formulieren. Solidarität ist unter heutigen Bedingungen neu zu konstruieren. Einen entgegengerichteten Weg gehen kleine berufständische Organisationen, in der Regel mit elitärem Anspruch für ihre Mitglieder. Die bewusste Abrenzung zu anderen Arbeitnehmergruppen gehört zu ihrem Programm. Sie wollen sich als Gewerkschaften etablieren, indem sie Partikuarlarinterressen von Spezialisten vertreten und streben z.T. erfolgreich Exklusiverfolge für ihre Mitglieder an..
6. Die GDL vertritt vom Selbstverständnis her die „Leistungsträger“ unter den Bahnbeschäftigten. Ihr Vorsitzender Schell erklärte ausdrücklich, dass Lohnerhöhungen für andere Bahnbeschäftigte nicht interessieren, frei nach mit dem neoliberalen Prinzip „Leistung soll sich lohnen, mehr Geld (nur) für die, die mehr leisten“.
7. Neben der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen GDL und Bahnvorstand findet eine juristische statt. Arbeitsgerichte werden angerufen, um über die Rechtmäßigkeit einzelner Maßnahmen zu befinden. Inzwischen hat ein Arbeitsgericht ein Urteil gesprochen, in dessen Begründung ein Streik als unzulässig angesehen wird, wenn er für den Arbeitgeber einen Schaden herbeiführt. Absurd: Gerade das ist der Sinn eines jeden Streiks! Man mag spekulieren, dass der Arbeitskampf einer kleinen Organisation die günstige Gelegenheit bietet, die Rechtssprechung zu verschärfen. Die Urteile, die im Zusammenhang mit dem Lokführerstreik fallen, werden auch (und sollen?) die DGB-Gewerkschaften treffen.
8. Hellhörig machen sollten auch die Versuche, die Lokführer mit staatlicher Hilfe wieder an die Arbeit zu bringen: So erklärte vergangene Woche ein Vertreter der Grünen, die Zeit sei jetzt reif, dass Frau Merkel schlichtend eingreifen müsse. Die Rolle der Kanzlerin war in diesem Vorschlag keineswegs auf die der Moderatorin begrenzt. Da drängt sich der Gedanke an die Zwangsschlichtungen in der Weimarer Zeit auf.
9. Arbeitgeber und ihre Politiker sind seit Jahren erfolgreich bei der Schaffung mehr unternehmerischer Freiheiten. Zugleich werden die Beschäftigten verstärkt in Konkurrenz gesetzt, ihre Schutzrechte abgebaut und die Rechte ihrer Interessenvertretungen infrage gestellt. Die Voraussetzungen für solidarisches Handeln der Beschäftigten sind schwieriger geworden. Der Arbeitskampf der GDL wird, unabhängig vom Erfolg seines Ausgangs, die Umgangskultur innerhalb der Bahnbelegschaft verändern. Dies lassen Erfahrungen aus dem Streik an den Unikliniken in NRW erwarten. Der Graben zwischen Ärzten und dem übrigen Krankenhauspersonal ist dort heute grösser als vorher. Arbeitskämpfe, die einzelne Gruppen in einem Betrieb auf sich bezogen führen, hinterlassen wechselseitige Vorwürfe, Verbitterung und Wut. Offene Flanken im Arbeitnehmerlager, die die Arbeitgeber bei der nächsten Auseinandersetzung zu nutzen wissen.
10. Der Arbeitskampf der GDL wird das Kräfteverhältnis im Hinblick auf zukünftige Auseinandersetzungen nicht zugunsten des Arbeitnehmerlagers verschieben. Im Gegenteil: Erreicht die GDL ihr Ziel, werden andere Arbeitnehmergruppen darin ein positives Signal für ein eigenständiges Vorgehen sehen. Vielleicht entdecken andere schon sehr bald, dass ihre Verhandlungsposition im Alleingang besser ist und handeln danach. Im Ergebnis wird sich das Arbeitnehmerlager nach Gewinnern und Verlierern weiter ausdifferenzieren. Erreicht die GDL ihr Ziel dagegen nicht, erleben die Lokomotivführer, die unbestritten ein berechtigtes Interesse an Lohnerhöhungen haben, eine Niederlage. Beides kann nicht gewünscht sein.
Ulrike Zerhau
Stellvertretende Vorsitzende
der Partei DIE LINKE.
22.10.2007
Gewerkschafts- und Tarifeinheit sind Mittel, aber kein Selbstzweck – eine Antwort von Heino Berg
Abgesehen von dem etwas gönnerhaften „Verständnis“, das Ulrike Zerhau für die Forderungen der Lokführer aufbringt, fällt in ihren Thesen vor allem auf, daß keine von ihnen auch nur mit einem einzigen Wort auf die Tarif- und Privatisierungspolitik der zuständigen DGB-Gewerkschaft Transnet eingeht. Dabei ist es offensichtlich, daß der Aufschwung der GDL und der Streik des Fahrpersonals erst als Reaktion auf die Rolle von N. Hansen als rechte Hand von Mehdorn bei dessen Börsenplänen verstanden werden kann.
Die Einheit der Gewerkschaften und einheitliche Tarifverträge in den Unternehmen sind zweifellos wichtig und erstrebenswert – aber, wie jede Organisation von Lohnabhängigen, ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen, und keineswegs ein Selbstzweck. Auch Richtungsgewerkschaften, wie sie in Frankreich oder Italien üblich sind, können durchaus gemeinsam und erfolgreich für die Interessen der Lohnabhängigen eintreten. Entscheidend ist immer die Frage, ob Richtungs-, Sparten- oder Einheitsgewerkschaften unabhängig von den Unternehmerinteressen handeln.
Wenn Gewerkschaften durch ihre Führung (wie im Falle der transnet) als Transmissionsriemen für die Verscherbelung öffentichen Eigentums und für die Vernichtung von mehr als 200 000 Arbeitsplätzen bereits im Vorfeld des Börsengangs mißbraucht worden sind, ist die Entstehung von konkurrierenden Betriebsratslisten oder Spartengewerkschaften verständlich und Streiks, die zunächst nur in Teilbereichen eines Unternehmerns beginnen, die aktive Solidarität anderer Arbeitnehmer, Gewerkschaften und linker Organisationen wert.
Ulrike Zerhau spricht selbst davon, daß mit den „alten Strategien die DGB-Gewerkschaften die Umverteilung von unten nach oben nicht verhindern konnten“. Das Problem der bisherigen Gewerkschaftsstrategie bestand jedoch nur am Rande in der Frage, ob und wie sie die Differenzierung der verschiedenen Berufsgruppen berücksichtigen konnten. Viel wichtiger war ihre Unterordnung unter den SPD-Politik und die Ideologie der Sozialpartnerschaft, der zufolge man Arbeitnehmerinteressen ohne Kampf und nur auf dem (Verhandlungs)Wege des Interessenausgleichs durchsetzen könnte. Das mag in gewissen Aufschwungsphasen des Kapitalismus denkbar gewesen sein: Heute fehlt dem Kapital im Konkurrenzkampf um die zu eng gewordenen Weltmärkte der dafür nötige Spielraum. Lafontaine hat auf die Sackgasse der bisherigen Gewerkschaftsstrategie unter anderem mit der Forderung nach dem politischen Massenstreik geantwortet, während Ulrike Zerhau nicht die Tarif- und Privatisierungspolitik des Transnet-Apparates, sondern umgekehrt die mit der GDL streikenden Eisenbahner aufs Korn nimmt.
Dieselbe Rücksicht auf neoliberal agierende SPD- und Gewerkschaftsführer finden wir in den Thesen bei der Frage von juristischen Streikverboten und staatlichen Zwangsschlichtungen. Anstatt gegen diese dreisten Angriffe auf das Streikrecht die Solidarität aller Gewerkschaften (und der LINKEN) zur Unterstützung der betroffenen Lokführer zu fordern, „spekuliert“ Zerhau umgekehrt darüber, ob die Wahrnehmung des Streiksrechts durch die Lokführer eine „günstige Gelegenheit“ für dessen Einschränkung geschaffen habe. Frei nach dem Motto: Wer seine Rechte nutzt, setzt sie aufs Spiel.
In ihrer Schlussthese erklärt Zerhau, daß der Arbeitskampf der GDL – unabhängig von seinem Ausgang – das „Kräfteverhältnis nicht zugunsten des Arbeitnehmerlagers verschieben wird.“ Damit empfiehlt sie der LINKEN eine neutrale Position in diesem Großkonflikt, der wesentlich über das Schicksal der Bahnprivatisierung entscheiden wird. Diese distanzierte, abwartende Haltung will nun auch die Führung der Bremer LINKE einnehmen, wenn sie im Gegensatz zu früheren Beschlüssen des Landesvorstands erst mit 6-wöchiger Verspätung und NACH dem voraussichtlichen Ende des Arbeitskampfes zu einer (trotzdem nützlichen) Diskussionsrunde darüber einlädt. Dies steht im Widerspruch zu einem (bis heute nicht veröffentlichten) Beschluss des Landesparteitags der Bremer LINKEn vom 13.10., der ein weiteres „„Ausfransen“ der Gewerkschaften“ gerade durch die „Unterstützung der Streikenden, die Verteidigung des Streikrechts in Deutschland (und) die Zurückweisung des Diktats des Bahnvorstands“ beantworten will.
Ein erfolgreicher GDL-Streik würde die übrigen Eisenbahner zum Kampf für Nachbesserungen ermutigen und private Investoren mit der Aussicht konfrontieren, daß sie es künftig neben der willfährigen Transnet-Spitze auch mit einer streikfähigen Spartengewerkschaft zu tun hätten, die sich als „einzige Eisenbahnergewerkschaft gegen den Börsenganz der Bahn ausspricht“ (Bremer LPT-Beschluss). Für Mehdorn ist das eine Horrorvision, die ihn im Interesse der über der Bahn kreisenden Privatisierungsgeier sogar zur fristlosen Entlassung von Streikenden veranlasst hat. Für Sozialisten in der LINKEn ist das ein Grund mehr, das Streikrecht durch die Solidarität mit denen zu verteidigen, die es für ihre berechtigten Forderungen in Anspruch genommen haben und nun gemaßregelt werden sollen.
Mit einer aktiven Unterstützung für den Lokführerstreik könnte die LINKE ein politischer Ansprechpartner für konsequente Gewerkschafter werden und dazu beitragen, dass sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung von der politischen Kontrolle durch die SPD-Führung zu befreien beginnt.
Nach dem wichtigen Erfolg der GDL bei der Verteidigung des Streikrechts auch im Güter- und Fernverkehr kommt es jetzt darauf, die praktische Solidarität der LINKEN mit den kommenden Streikaktionen zum Ausdruck zu bringen. Durch die Fortsetzung der Unterschriftensammlung unter den Beschäftigten und den Bahnkunden – und durch eine Delegation zum Gewerkschaftshaus gegenüber, wo wir die übrigen Gewerkschaften zur Unterstützung auffordern sollten.
Heino Berg, 23.10.07