Die Beschlussfassung des SPD-Parteitags zum Arbeitslosengeld I und die dieser voraus gehende Debatte in der Parteiführung sind Ausdruck einer massiven Stimmung in der Mehrheit der Bevölkerung für ein Ende der neoliberalen Politik.
[Unterschriftensammlung der SAV] | Vorschlag für eine Resolution für Gewerkschaftsversammlungen | Vorschlag Resolution für Versammlungen der Partei DIE LINKE]
Gleichzeitig ist der Beschluss eine Mogelpackung, die den massiven Sozialabbau der letzten Jahre unangetastet lässt. Rudolf Dreßler (SPD) nannte Becks Vorstoß im Deutschland-Radio eine „winzige Korrektur“.
Doch Regierung und SPD wackeln. Das ist eine Chance für die Gewerkschaften, einen Erfolg versprechenden Kampf für die komplette Rücknahme der Agenda 2010 aufzunehmen und eine Chance für die Partei DIE LINKE, eine starke sozialistische Partei mit Massenanhang zu werden.
von Sascha Stanicic, Berlin
Deutschland rückt nach links
„Beck versucht in diesen Tagen, die SPD einem Zeitgeist anzupassen, der so links ist, wie schon lange nicht.“ Das ist die Erklärung des SPIEGEL für die Debatte um die Verlängerung der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I in der SPD-Führung.
Und sie trifft den Nagel auf den Kopf: Die Stimmungen und Meinungen der breiten Mehrheit der Bevölkerung sind in relevanten gesellschaftlichen Fragen nach links gerückt.
Stimmung in der Bevölkerung
Privatisierungen werden genauso abgelehnt wie die Rente ab 67, die Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Der Streik der Lokführerinnen und Lokführer hat, trotz der Auswirkungen für BerufspendlerInnen und Bahn-NutzerInnen, auch im Oktober viel Sympathie und Verständnis genossen.
Kurt Beck und die SPD reagieren nur auf diese Veränderungen im Massenbewusstsein – in der Hoffnung, den tiefen Fall der Sozialdemokratie zu stoppen. So erklärte der SPD-Finanzminister Peer Steinbrück: „Sie können der SPD nicht abverlangen, einen Kurs weiterzuverfolgen, der sie in den Umfragen fast auf eine Marge zurückwirft, wo wir Mühe haben, in der Politik überhaupt noch vorzukommen.“
Doch während zwar laut Stern-Umfrage 84 Prozent mit Becks Vorschlägen zur Korrektur an der Agenda 2010 übereinstimmen, denken nur zehn Prozent, die SPD könne die Probleme des Landes lösen und liegt sie in Meinungsumfragen weiterhin weit unter dreißig Prozent (Vergleichswerte: 40,9 Prozent im Jahr 1998 und 38,5 Prozent 2002).
Druck der LINKEN
Eigentlich geben die Herrschenden und ihre Parteien nicht viel auf Stimmungen in der arbeitenden und erwerbslosen Bevölkerung. Sie interessieren sich nur dafür, wenn sie die Sorge haben müssen, dass diese Stimmungen in Widerstand umschlagen könnten oder auf einem anderen Weg ihre Herrschaft oder zumindest ihre herrschende Politik gefährden könnten.
Nun ist an der aktuellen Debatte bezeichnend, dass diese stattfindet, ohne dass es zu größeren Protesten der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gekommen ist oder sich solche gerade ankündigen würden. 2003 und 2004 hat die SPD sogar große Protestbewegungen ausgesessen, ohne ernsthafte Korrekturen an der Agenda 2010 vorzunehmen.
Was ist heute anders? Mit der Partei DIE LINKE existiert eine politische Kraft, die der linken Massenstimmung einen parteipolitischen Ausdruck geben kann. DIE LINKE legt in Meinungsumfragen zu, vor allem auf Kosten der SPD, und dadurch sind die klassischen Regierungskoalitionen Rot-Grün und Schwarz-Gelb schwerer umzusetzen. Die Teile der SPD-Führung, die mehr die Partei als die Regierung vertreten, wollen Oskar Lafontaine nicht das Feld überlassen, während die Regierungsminister als direktere Vertreter des Kapitals an der neoliberalen Linie lieber kompromissloser festhalten wollen.
Die Regierung ist zweifellos angeschlagen. Während Merkel sich noch im Sommer außenpolitisch zu profilieren versuchte, muss sie sich jetzt auch in der Debatte um das ALG I kompromissbereit geben. Zudem sieht sie mit der Bahn-Privatisierung eines der zentralen Projekte der Regierung ins Wanken geraten.
Kapitalistische Krise
Einige bürgerliche Politiker scheinen die Illusion zu haben, die Krise an den Weltfinanzmärkten sei ohne große Auswirkungen an der deutschen Wirtschaft vorbei gegangen. Wahrscheinlich sind auch Beck und andere SPD-Führer vom viel beschworenen wirtschaftlichen Aufschwung beeindruckt und denken, dass man kleinere Reförmchen ja auch finanzieren kann. Diese Haltung kann sich jedoch schnell ändern, wenn es ausgehend von der derzeitigen Finanzkrise zu einer internationalen Rezession kommen sollte.
Dann wird sich auch die Massenstimmung weiter entwickeln: von Ablehnung von Maßnahmen wie Privatisierungen, Sozialkürzungen und Lohndumping und der dahinter stehenden neoliberalen Logik hin zu einer wachsenden Ablehnung der hinter dem Neoliberalismus stehenden Macht der Banken und Konzerne und dem kapitalistischen System insgesamt.
Agenda 2010
Der Berg hat gekreißt und gebar eine Maus. So lässt sich das Verhalten der SPD von Becks Vorschlägen über die Diskussionen in der Parteispitze bis zum Bundesparteitag in Hamburg zusammenfassen.
Der SPD-Beschluss zum Arbeitslosengeld I steht in keinem Verhältnis zu ihrer Umverteilungspolitik als Regierungspartei in den letzten Jahren.
Schon vor Schröders Regierungserklärung 2003 wurde seit seinem Amtsantritt 1998 unter anderem die Rentenreform (darunter Anhebung des Renteneintrittsalters, Erhöhung der Beiträge und Rentenkürzungen) beschlossen, ein erstes Hartz-Paket geschnürt und das Gesetz zum Ladenschluss geändert.
Kernstück der Agenda 2010 sind natürlich die Hartz-Gesetze. Dazu gehören (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aber auch:
– die Aufweichung des Kündigungsschutzes
– die Unternehmenssteuerreform (der Spitzensteuersatz, der zwischen 1998 und 2003 schon von 53 auf 48,5 Prozent reduziert worden war, wurde bis 2005 auf 42 Prozent abgesenkt)
– die Gesundheitsreform (zum Beispiel Einführung der Praxisgebühr und die Streichung von Leistungen der Krankenversicherungen)
Die SAV schlägt vor:
Eine bundesweite gewerkschaftliche Kampagne „Die Agenda muss weg – komplett“ mit Massenflugblättern, Plakaten, Vertrauens- und Betriebsrätekonferenzen auf allen Ebenen, öffentlichen Veranstaltungen und Aktionen mit dem Ziel eines eintägigen Generalstreiks gegen die Agenda 2010
Nicht auf die Gewerkschaftsspitzen warten: Für die Durchführung einer Aktionskonferenz „von unten“ – von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten, Aktiven aus sozialen Bewegungen und der LINKEN – zur Vorbereitung einer bundesweiten Großdemonstration für die Forderungen:
– Weg mit den Hartz-Gesetzen und der ganzen Agenda 2010
– Rücknahme der Rente ab 67
– Nein zur Bahnprivatisierung
Musterresolutionen für Gewerkschaften und DIE LINKE und eine Unterschriftenliste sind unter www.archiv.sozialismus.info/agenda-muss-weg abzurufen
So kann die ganze Agenda gekippt werden
Die SPD-Führung versucht verzweifelt, ihrer Partei ein linkes und soziales Image zu geben. Doch die Vorschläge zur längeren Auszahlung des ALG I markieren keinen Politikwechsel.
Das sagt auch Kurt Beck, wenn er betont, dass es keine weiteren Änderungen an der Agenda 2010 geben soll: „Von einem Dammbruch kann nicht die Rede sein. Ich will und werde nicht rückwärts gehen.“ Hier schwingt gleichzeitig die Angst mit, dass der Druck der Arbeitenden und Erwerbslosen noch wächst und die Rregierung weiter bedrohen könnte.
SPD und Regierung wackeln
Gewerkschaften, soziale Bewegungen und DIE LINKE dürfen jetzt nicht darauf hoffen, dass sich in der SPD Schritt für Schritt eine linke Politik durchsetzt. Die SPD ist unwiderruflich für eine Politik im Interesse von Lohnabhängigen, Erwerbslosen und RentnerInnen verloren. Sie ist im Unternehmerlager fest integriert und hat jahrelang bewiesen, auf welcher Seite sie steht. Seit 1998 hat sie über 200.000 Mitglieder, darunter viele ArbeiterInnen, verloren.
Jetzt muss es darum gehen, der wackelnden SPD-Führung und der mit ihr wackelnden Regierung den entscheidenden Stoß zu versetzen, um nicht nur ein paar Monate längere Auszahlung des ALG I zu erreichen, sondern die ganze Agenda 2010 zu kippen. Die Große Koalition ist schon heute geschwächt. Immer mehr Ministern – wie Tiefensee (wegen der Bahn-Priviatisierung) oder Schäuble (wegen seinen Vorhaben zur staatlichen Aufrüstung) – schlägt offener Hass entgegen.
Französische Verhältnisse nötig
Die SPD beschließt Korrekturen an der Agenda 2010, ohne dass es in den letzten Wochen Massendemonstrationen oder Streiks für diese Forderung gegeben hätte. Das spricht nicht gegen Proteste, sondern lässt erahnen, wie sehr die Regierenden unter Druck gesetzt werden könnten – und dass auch Erfolge möglich wären –, wenn die Gewerkschaften ernsthaft zu Massendemos und Streiks für die Rücknahme der Agenda 2010, von Hartz IV, der Rente ab 67 und gegen die Bahn-Privatisierung mobilisieren würden.
Statt Unterstützung für Becks Pläne oder Abwarten auf eine weitere Linksverschiebung in der SPD muss jetzt die Forderung nach der kompletten Rücknahme der arbeiter- und erwerbslosenfeindlichen „Reformen“ der letzten Jahre erhoben und auf die Straßen, Plätze und in die Betriebe getragen werden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um mit einer entsprechenden Kampagne in die Offensive zu gehen.
Einmal mehr hat die Arbeiterklasse in Frankreich gezeigt, welche Schritte im Kampf gegen neoliberale Politik eingeschlagen werden müssen. Am 18. Oktober legten auf Aufruf aller Gewerkschaften des französischen Nah- und Fernverkehrs die dort Beschäftigten die Arbeit nieder und brachten das Land so zu einem Stillstand. Viele Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes aus anderen Bereichen schlossen sich diesem Kampf an, um gegen Verschlechterungen im Rentensystem zu protestieren (siehe Seite 9).
Damit sind Sarkozys Pläne noch nicht vom Tisch. Auch in Frankreich muss die Gewerkschaftsspitze zum Jagen getragen werden. Als dort letztes Jahr eine Demontage des Kündigungsschutzes für Jugendliche verhindert werden konnte, waren Großdemonstrationen, umfassende Streiks im Öffentlichen Dienst und die Drohung eines Generalstreiks nötig. Das zeigt, welches Ausmaß von Widerstand heute erforderlich ist, um Verschlechterungen zu verhindern beziehungsweise Verbesserungen zu erkämpfen.
Lokführer-Streik
In Deutschland hätte schon seit Monaten der erste Schritt der Gewerkschaftsführungen eine aktive Solidaritätskampagne mit den streikenden LokführerInnen sein müssen. Anstatt der GDL Spaltung vorzuwerfen, hätten die DGB-Gewerkschaften den Kampf der LokführerInnen als ein Beispiel aufgreifen müssen, um für alle Bahn-Beschäftigten und auch in anderen Branchen lohnpolitisch in die Offensive zu kommen. Von dem Tag an, als die GDL mit Gerichtsentscheiden zur Einschränkung des Streikrechts konfrontiert war, hätte die DGB-Spitze eine bundesweite Großkampagne zur Verteidigung des Streikrechts lostreten müssen.
Gleichzeitig hätte der GDL-Streik auch gegen die Bahn-Privatisierung gerichtet werden sollen und mit einer Kampagne aller DGB-Gewerkschaften und der verschiedenen Initiativen gegen die Privatisierung verbunden werden sollen. Dann hätte der Regierung schon eine erste empfindliche Niederlage beigebracht werden können. Dazu ist es aber noch nicht zu spät und die Forderung nach Solidarität mit den LokführerInnen muss in den Gewerkschaften lautstark erhoben werden.
Für Generalstreik
Die ersten großen Proteste gegen die Agenda 2010 fanden am 1. November 2003 auf Initiative der SAV, anderer linker Gruppen, basisgewerkschaftlicher Strukturen und sozialer Bewegungen statt. Wenn jetzt gewerkschaftliche Gliederungen, DIE LINKE und soziale Bewegungen zu einer Aktionskonferenz aufrufen würden, auf der gewerkschaftliche Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte, Aktive aus sozialen Bewegungen, der Partei DIE LINKE und linken Organisationen zusammen kommen könnten, um eine bundesweite Kampagne und Großdemonstration vorzubereiten, könnte das enormen Druck auf die Gewerkschaftsspitzen ausüben, ebenfalls Mobilisierungen durchzuführen.
So war es auch 2003. Nach der Demonstration von 100.000 am 1. November waren die Gewerkschaftsspitzen so sehr in Sorge, die Kontrolle über ihre eigene Basis zu verlieren, dass sie massenhafte Arbeitsniederlegungen im Dezember zur Verteidigung der Tarifautonomie und die drei regionalen Großdemonstrationen mit einer halben Million TeilnehmerInnen am 3. April 2004 durchführten.
Doch die Erfahrungen seit 2003 zeigen zweierlei: erstens darf man sich auf die Gewerkschaftsspitzen nicht verlassen. Diese mobilisieren nur, um Dampf abzulassen und nicht mit dem Ziel, die Regierung tatsächlich in die Knie zu zwingen. Zweitens reichen Demonstrationen und vereinzelte Arbeitsniederlegungen nicht aus. Eine massenhafte Streikbewegung ist nötig, um Regierung und Kapital da zu treffen, wo es ihnen weh tut – bei den Profiten. Und um die ganze Kraft der Arbeiterklasse in die Waagschale zu werfen, statt vereinzelt zu kämpfen.
In den Gewerkschaften und der LINKEN wird so viel über politischen Streik und Generalstreik geredet, wie seit Jahren nicht mehr. Lafontaine wirft korrekterweise die Forderung nach dem Recht auf Generalstreik auf. Aber dieses Recht kann sich nur dadurch erkämpft werden, dass die Gewerkschaften es sich nehmen. Deshalb ist eine innergewerkschaftliche Debatte und Kampagne zur Durchsetzung des politischen Streiks mit dem Ziel eines eintägigen Generalstreiks gegen die Agenda-Politik nötig.
Ein Test für DIE LINKE
In einem Kommentar der Financial Times Deutschland wurde Oskar Lafontaine kürzlich als einflussreichster Politiker Deutschlands bezeichnet, weil SPD und CDU – auf seine Vorgaben reagierend – versuchen, sich sozial zu präsentieren. Und tatsächlich hat DIE LINKE in den wenigen Monaten ihrer Existenz einen enormen Druck auf die Große Koalition ausgeübt und bringt sie die Stimmung von Millionen gegen Niedriglöhne und Sozialabbau zum Ausdruck.
Die Agenda-Debatte und der Streik der LokführerInnen sind wichtige Tests für die neue Partei. Nur in zugespitzten politischen Auseinandersetzungen und vor allem im Klassenkampf kann sich zeigen, ob DIE LINKE ihrem Anspruch gerecht wird und politische Interessenvertretung von ArbeitnehmerInnen und Erwerbslosen mit praktischem Nutzwert ist.
Durchgefallen: DIE LINKE und der Bahn-Streik
Am 25. Oktober zitierte der Berliner Tagesspiegel den LINKE-Abgeordneten Werner Dreibus. Dieser sagte, es sei „nicht hilfreich“, dass sich bei der Bahn eine „gespaltene Formation tarifpolitische Aktivitäten entfaltet“. Deshalb unterstütze DIE LINKE die Aktivitäten der GDL „nur mit angezogener Handbremse“. Auch Lafontaine ließ verlauten, er bedauere es, dass die GDL versuche, eigenständig Tarifforderungen durchzusetzen.
Angesichts der breiten Sympathie mit den LokführerInnen in der Bevölkerung vergessen die Führer der LINKEN zwar nie, auf ihr Verständnis für den Streik hinzuweisen und verteidigen auch das Streikrecht der GDL, sie leisten aber keinen Beitrag dazu, den Kampf der LokführerInnen zu einem Erfolg zu machen – im Gegensatz zu einer ganzen Zahl von Untergliederungen und Einzelmitgliedern der Partei, die sich vor Ort für die Streikenden einsetzen.
Der Hinweis darauf, dass alle Bahn-Beschäftigten gemeinsam an einem Strang ziehen sollten, ist zwar richtig. Er beinhaltet aber keine Handlungsperspektive in einer Situation, in der die DGB-Gewerkschaft Transnet faktisch eine Streikbrecherrolle spielt und nur die GDL bereit ist zu kämpfen. Deshalb hätte DIE LINKE eine bundesweite Solidaritätskampagne mit dem Streik der LokführerInnen starten sollen und hätte sie die Streikposten aktiv unterstützen und auf den Straßen und Plätzen für Solidarität mit dem Streik werben sollen. Eine solche Kampagne hätten die GewerkschafterInnen der LINKEN auch in den DGB-Gewerkschaften entfalten und dadurch die Gewerkschaftsspitzen unter Druck setzen können.
Aber genau das will die Führung der LINKEN nicht. Sie will die SPD als parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften beerben und scheut den offenen Konflikt mit den Führungen dieser Organisationen.
DIE LINKE und die SPD
In einer Stellungnahme vom 8. Oktober attestiert der LINKE-Vorsitzende Lothar Bisky dem SPD-Chef Beck, dieser versuche, die SPD auf neuen Kurs zu bringen. Um dann auszuführen: „Den Glaubwürdigkeitstest müssen Kurt Beck und die SPD noch bestehen. Die Frage ist, ob die SPD die Kraft zur Kursänderung hat. Ich hoffe, dass sie in die Richtung geht, die Härten der Agenda 2010 zu überwinden. Ganz offensichtlich führt die Existenz der Linken dazu, dass man versucht, einzelne Härten zu mildern. Das ist ein durchaus gewolltes Resultat der Parteigründung. Und da ist es uns egal, ob uns das möglicherweise Stimmen bei der nächsten Wahl kostet. Wenn es den Betroffenen was bringt, dann rechne ich nicht dagegen, dass es die Partei etwas kostet.“
Diese Reaktion kann man nur als butterweich bezeichnen. Aus ihr spricht die Hoffnung Biskys auf eine Re-Sozialdemokratisierung der SPD, damit diese zum Koalitionspartner der LINKEN wird. Stattdessen wäre es nötig, dass DIE LINKE die Agenda-Debatte nutzt, um politisch und praktisch in die Offensive zu gehen. Statt Beck viel Erfolg zu wünschen, sollten seine Vorschläge als das gegeißelt werden, was sie sind: ein Tropfen auf den heißen Stein. Kompromisslos sollte die komplette Rücknahme der Agenda 2010 und von Hartz IV gefordert werden, auch um den Betroffenen die Sorge zu nehmen, die sich in Erwerbslosen-Gruppen verbreitet: dass DIE LINKE sich mit einzelnen Korrekturen an der Agenda zufrieden gibt, statt konsequent für die komplette Rücknahme zu kämpfen.
Eine offensive Kampagne, wie die SAV sie vorschlägt, würde auch nicht dazu führen, dass DIE LINKE in den Meinungsumfragen sinkt, sondern sie könnte die Gewinnerin der Agenda-Debatte sein.
Doch der Blick nach Berlin genügt, um die Glaubwürdigkeit der LINKEN in Frage zu stellen. Hier verweigert der SPD/LINKE-Senat den Landesbeschäftigten im aktuellen Tarifstreit selbst minimale Lohnerhöhungen. In anderen Ost-Ländern bereitet sich DIE LINKE auf Koalitionen mit der SPD vor, die zweifelsfrei in die Fußstapfen des Berliner Senats treten würden.
Die Partei muss mit dieser Politik der Beteiligung an Sozialabbau und Lohnkürzungen konsequent brechen, wenn sie tatsächlich die Interessen von Beschäftigten und Erwerbslosen vertreten will. Ein Austritt aus dem Berliner Senat wäre das Signal, das bei vielen Tausend AktivistInnen aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen den Eintritt in die Partei und aktive Mitarbeit auslösen könnte.
Wie weiter für DIE LINKE?
Im Westen wird DIE LINKE weniger mit ihrer Regierungspolitik im Land Berlin als mit den radikalen Reden Lafontaines identifiziert. Sie ist zu einem Bezugspunkt für alle diejenigen geworden, die ein Ende des Neoliberalismus herbei sehnen und den Kapitalismus in Frage stellen.
Deshalb ist davon auszugehen, dass sich die wichtigen Debatten und Differenzierungsprozesse auf der Linken in den nächsten Jahren in der und um die Partei DIE LINKE herum entwickeln werden. Außerhalb der Partei gibt es auf absehbaren Zeitraum keinen Platz für politische Neuformierungsprozesse der Arbeiterklasse, die eine gewisse Massenverankerung erreichen könnten. Dieser Platz wird sich wahrscheinlich erst durch einen Eintritt in eine pro-kapitalistische Bundesregierung entwickeln, was allerdings sicher zu heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen führen wird.
Es kommt heute darauf an, den Kampf für eine klare sozialistische Politik aufzunehmen. Nötig ist es, Bastionen für Gegenwehr aufzubauen, die im Kleinen Beispiele geben, wie eine Massenpartei der arbeitenden Bevölkerung im Großen handeln müsste. In den ostdeutschen Landesverbänden gibt es aufgrund ihrer Zusammensetzung und bürokratischen Struktur dazu keine Ansatzpunkte. Hier gilt es, zum einen Kräfte wie die Berliner Alternative für Solidarität und Gegenwehr (BASG) zu stärken, und zum anderen an die Partei DIE LINKE in konkreten Fragen heranzutreten und sie aufzufordern, sich am Protest – ob gegen Rotstiftpolitik, gegen Arbeitsplatzabbau oder gegen die Bedrohung durch Nazis – zu beteiligen. Im Westen sieht das anders aus. Hier will die Mehrheit der Basis keine Beteiligung an Sozialabbau und Privatisierungen. Hier kann eine sozialistische Opposition in der Partei entwickelt werden, die verhindert, dass die Perspektive Gerhard Schröders wahr wird. DER SPIEGEL berichtete von einem Treffen zwischen Stoiber und Schröder: „Sie aßen Leberkäs und Tafelspitz, und während sie aßen, kamen sie auch auf das linke Lager zu sprechen. Ob er glaube, dass die SPD mit der LINKEN auch im Bund die Regierung bilden werde, wollte Stoiber wissen. Ja, antwortete Schröder, ohne zu zögern. Nach 2009 werde es so weit sein.“
Sascha Stanicic ist Bundessprecher der SAV. Er war Mitglied des bundesweiten Länderrats der WASG und ist heute aktiv in der Berliner Alternative für Solidarität und Gegenwehr (BASG)
38: 1 – 38 Milliarden Euro Umverteilungsmaßnahmen der Großen Koalition gegenüber 1 Milliarde Euro Volumen des Beck-Vorschlages zum ALG I
Die von der SPD mitbeschlossene Unternehmenssteuerreform entlastet die Konzerne um 8 Milliarden Euro jährlich. Mehrwertsteuerhöhung, Kürzung der Pendlerpauschale, Abschaffung der Eigenheimzulage und die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge belasten die Beschäftigten mit 30 Milliarden pro Jahr.
Beck gab an, dass seine Vorschläge – längere Zahlung von ALG I und Fördermaßnahmen – jährlich 1 Milliarde Euro kosten würden.