Pro & Contra: War die DDR sozialistisch?

Foto: https://www.flickr.com/photos/benymarc/ CC BY-NC-ND 2.0
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Debatte über die DDR: Robert Steigerwald, DKP, gegenüber Lucy Redler und Sascha Stanicic, SAV

Am 27. September erschien in der jungen Welt ein Interview mit Lucy Redler, in dem sie gefragt wurde: „Den Begriff „Sozialismusversuch“ würden Sie für die DDR ablehnen?“ Darauf antwortete Lucy: „Das würde ich ablehnen, ja. In der DDR gab es Millionen Arbeiter, die aus der DDR eine sozialistische, demokratische Gesellschaft machen wollten. Das wurde jedoch von der sowjetischen Besatzung und der SED-Führung verhindert.“

Das führte zu einer lebhaften Debatte, an der sich auch Robert Steigerwald beteiligte.

Am 13. Oktober verfassten Lucy Redler und Sascha Stanicic einen Offenen Brief an Robert Steigerwald, der hier in einer gekürzten – und für das bessere Verständnis leicht bearbeiteten – Fassung wiedergegeben wird. Für SozialistInnen und alle, die den Kapitalismus überwinden wollen, bleibt der Charakter der Systeme in der DDR und in den anderen Ostblock-Staaten eine Schlüsselfrage. Welchen Charakter hatte die DDR? War sie sozialistisch, real-sozialistisch oder stalinistisch?

Pro: Robert Steigerwald

Gründungsmitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und Ehrenvorsitzender der Marx-Engels-Stiftung

Gibt es ein objektives Kriterium, woran man den Charakter einer Gesellschaftsordnung „festmachen“ kann? Es besteht in der Beantwortung der Frage, wie es um die Aneignung des gesellschaftlich erarbeiteten Mehrprodukts steht.

Darüber, wie dies im Falle vom Kapitalismus geschieht, sollte es zwischen uns keine Debatte geben. Auch darüber nicht, dass dies nur möglich ist, wenn der kapitalistischen Klasse die Produktionsmittel gehören.

Auch das dem kapitalistischen Staat gehörende Produktionsmittel-Eigentum ändert daran nichts. Erstens gibt es dieses staatskapitalistische Eigentum, weil es keinen Gewinn abwirft, aber für die Funktion des Kapitalismus notwendig ist. Zweitens will das Kapital auch diesen Teil bald privatisieren, sobald er in die Gewinnzone geraten ist.

Die Masse des in der DDR erarbeiteten Mehrprodukts war der kapitalistischen Aneignung entzogen. An die Stelle des kapitalistischen Eigentums trat gesellschaftliches in Form von Staats- oder Genossenschaftseigentum. Ob solches staatliche Eigentum auch sozialistisch ist, entscheidet sich an der Aneignungsfrage. Trotz aller Mängel und Schwächen war sie in der DDR gesellschaftlicher Art. Darum befand sich die DDR im Prozess des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Dies zeigte sich beispielsweise daran, wie mittels gesellschaftlichen Eigentums lebenswichtige Aufgaben, etwa das Gesundheits- und Bildungswesen, gestaltet, Fortschritte für die Lage der Frauen erreicht wurden.

Es war ein Merkmal der DDR, wichtige Ansätze auf dem Gebiet der direkten Demokratie nicht weiter entwickelt oder wenigstens konsequent durchgehalten, sondern sie auch missachtet zu haben. Solche positiven Ansätze direkter Demokratie gab es etwa in Gestalt vorstaatlicher, vorjuristischer Elemente: Arbeiter- oder Bürgerkomitees, die lokal und regional um Lösungen rangen (die auch dort hingehören, und nicht in die Entscheidungsbefugnisse des Bezirks, der Re-gion, oder der Regierung), in Form von Arbeiter- und Bauerninspektionen oder ähnlichen Organisationsformen (gesellschaftlicher Kontrolle), Schieds- beziehungsweise Konfliktkommissionen oder ähnliches (vorjuristische Konfliktbewältigung).

Jedoch fand die Aneignung der Masse des gesellschaftlichen Mehrprodukts – vom genossenschaftlichen Bereich abgesehen – vermittels des Staatsapparates statt. Dies führte zu einer Entfremdung der Arbeitenden vom gesellschaftlichen Eigentum mit der Folge, dass es in der Krisenphase 1989/90 von der Arbeiterklasse der DDR nicht als Volkseigentum verstanden und verteidigt wurde.

Trotz solcher inneren Probleme sich entwickelnder sozialistischer Gesellschaften sahen (und sehen – Beispiel Kuba heute) die Imperialisten darin eine Bedrohung ihrer existenziellen Grundlagen, weil sie die kapitalistische Aneignung zunichte machen. Ebenso wie sich, wenn es gegen die Arbeiterklasse geht, alle Fraktionen des Kapitals zusammenschließen, so haben auch – vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – die imperialistischen Staaten ihr gesamtes Potenzial politischer, militärischer, ökonomischer und ideologischer Art zur Niederringung des sozialistischen Systems zusammengeballt.

Vielleicht hilft auch die Einschätzung der Konterrevolution der achtziger und neunziger Jahre in Mittel- und Osteuropa durch deren ideologische Bänkelsänger. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31. Dezember 1997 gibt es ein Interview Krisztina Koenens mit Janos Kornai, einem aus Ungarn stammenden Harvard-Professor, dessen Hauptbeschäftigung der Kritik des sozialistischen Systems galt und gilt. Nach seiner Einschätzung hatte „absolute Priorität […] der Abbau der politischen Institutionen“, war ein „fundamentales Kriterium […] die […] Zerstörung des antikapitalistischen ideologischen Monopols und seine Ablösung durch eine prokapitalistische Ideologie“. „Die Frage nach den Eigentumsverhältnissen ist das zweite grundsätzliche Kriterium des Wechsels […]. Was also die Eigentumsverhältnisse betrifft, ist das Ziel fast erreicht. Die dritte fundamentale Frage ist, durch welchen Mechanismus die gesellschaftlichen Tätigkeiten koordiniert werden.“ Er kommt auf die Frage des Markts zu sprechen, der zwar nicht der einzige Mechanismus, aber gegenüber anderen übergewichtig sei. Lobend sagt er, es sei innerhalb einer sehr kurzen Zeit gelungen, die Gesellschaft in eine solche umzuwandeln, „die auf dem Privateigentum basiert“. Dies eben sei entscheidend, „dass sich die politischen Institutionen, die Eigentumsverhältnisse und die Mechanismen der Koordination geändert haben“.

Contra: Lucy Redler und Sascha Stanicic

beide Mitglieder der SAV-Bundesleitung

Das System, welches in der Sowjetunion in den zwanziger und dreißiger Jahren etabliert wurde und welches in der DDR kopiert wurde, hatte eine nicht-kapitalistische Ökonomie zur Grundlage. An Stelle der kapitalistischen Marktwirtschaft basierend auf Privateigentum und Konkurrenz waren bürokratische Planwirtschaften getreten. Aber das machte eine Gesellschaft wie die DDR noch nicht zu einer sozialistischen Gesellschaft. Es war eine Übergangsgesellschaft. Aber war es die von Marx, Engels und Lenin erwartete „Diktatur des Proletariats“? Unter Stalin, Breschnew und Honecker konnte die Arbeiterklasse keine Macht ausüben.

Die Geschichte ist im 20. Jahrhundert nicht so verlaufen, wie MarxistInnen es erwartet hatten. Lenin erwartete den Sieg der Konterrevolution, sollte die junge, isolierte Sowjetunion mit ihren bürokratischen Auswüchsen nicht durch eine internationale Ausdehnung der Revolution Unterstützung finden. Er behielt Recht, aber mit 70-jähriger Verspätung. Und in diesem Zeitraum wuchsen die bürokratischen Auswüchse zu einer über der Gesellschaft und über der Arbeiterklasse stehenden, ihre Privilegien und politische Macht mit Polizei und Armee verteidigenden bürokratischen Kaste aus. Während zu Lenins Lebzeiten die Partei noch gegen den Bürokratismus versuchte zu kämpfen, wurde nach seinem Tod die Partei und ihre Führung zu einer treibenden Kraft der Bürokratisierung.

Dass diese bürokratische Kaste trotzdem in einem gewissen Widerspruch zum Imperialismus stand, bedeutet nicht automatisch, dass diese nicht auch in einem Widerspruch zu ihrer eigenen Arbeiterklasse stehen konnten. Und nicht nur zu ihrer eigenen, denn zum Beispiel im Spanischen Bürgerkrieg hat die aus Moskau geleitete Kommunistische Partei ihren Beitrag zur Verhinderung einer sozialen Revolution geleistet und war sich mit den bürgerlichen Liberalen gegen die spanische Arbeiterklasse einig.

Die Logik „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ ist undialektisch, erfasst die Komplexität des Geschichtsverlaufs nicht und steht vor allem im Widerspruch zu dem wichtigsten marxistischen Prinzip: immer einen Klassenstandpunkt einzunehmen. Diejenigen, die diese Logik anwenden, landen bei unkritischen Positionen gegenüber Stalin und dem durch seine Herrschaft entwickelten System, das seinen grundlegenden Charakter (wenn auch gewisse Methoden) auch nach dem Tod des Tyrannen nicht änderte.

TrotzkistInnen haben die progressiven ökonomischen Grundlagen – Staatseigentum, Planung, staatliches Außenhandelsmonopol – in der Sowjetunion und der DDR verteidigt und waren gleichzeitig in diesen Staaten für eine Arbeiterdemokratie eingetreten – für die Bildung von Räten mit freier Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionären, gegen die Privilegien der Partei- und Staatsbürokraten. Diesen Weg schlugen instinktiv die ungarischen ArbeiterInnen 1956 und die polnischen 1980 ein. TrotzkistInnen standen in diesen und anderen Kämpfen auf der Seite der ArbeiterInnen – ohne einer Wiedereinführung des Kapitalismus das Wort zu reden. Und TrotzkistInnen haben 1990 keiner Treuhand-Bildung und keinen Privatisierungen zugestimmt, das waren die „GenossInnen“ aus der früheren SED.

Hätten Moskau und die SED einen Versuch des Sozialismus – also der Macht der Arbeiterklasse – unternommen, so wären sie für MarxistInnen Bündnispartner gewesen, um diesen Versuch so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Da sie aber die Macht der Arbeiterklasse bewusst verhinderten, waren sie keine Bündnispartner, sondern Gegner, hätte Arbeiterdemokratie nur gegen sie und nicht mit ihnen erreicht werden können, war politische Revolution (im Sinne des bewussten Sturzes der Bürokratenherrschaft und Ersetzung durch demokratische Herrschaftsstrukturen der Arbeiterklasse) und nicht Reform der Bürokratie nötig.

Dass dies nicht geschah, führte in die kapitalistische Restauration. Die Bürokratien waren unfähig, Wirtschaft und Gesellschaft weiter zu entwickeln. In ihrer Gier nach Macht und Privilegien waren sie bereit, lieber den Kapitalismus wieder einzuführen als die Gesellschaften zu demokratisieren.

Diese Kontroverse wird uns nicht davon abhalten, den Kapitalismus gemeinsam zu bekämpfen – aber bitte mit der Perspektive einer sozialistischen Demokratie, einer auf der demokratischen Kontrolle und Verwaltung der Arbeiterklasse basierenden Gesellschaft und nicht mit der Perspektive eines Neuaufgusses des „realen Sozialismus“, in dem die Partei immer Recht hat. Dafür wird man keinen Arbeiter und keinen Jugendlichen mobilisieren können.