Polen: Zeltstadt der kämpfenden Schwestern

Über die jüngsten Streiks der Krankenschwestern in Polen


 

Polen war eines der ersten Länder des stalinistischen Ostblocks, welches die kapitalistische Restauration zu spüren bekam. Nun ist es das Land in Osteuropa, in dem sich im Moment die meisten Kämpfe entwickeln. Darüber liest man in der bürgerlichen Presse allerdings recht wenig. Wir sprachen Anfang August mit Wojtek Orowiecki und Paul Newbery von der Gruppe für eine Arbeiterpartei (GPR), der polnischen Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI) über neue Entwicklungen in Polen und vor allem dem Streik der Krankenschwestern.

Paul, Polen erlebte gerade den heftigsten Massenprotest der letzten Jahre, den Streik der Krankenschwestern. Weshalb legten sie die Arbeit nieder?

Paul: Sie forderten eine 30-prozentige Lohnerhöhung. Diese war ihnen vorher schon einmal gewährt worden, aber nur für 12 Monate. Sie sollte nun nicht mehr erneuert werden. Das sahen die Krankenschwestern anders. Sie demonstrierten daher für die Beibehaltung dieser Lohnerhöhung in Warschau. Außerdem forderten sie auch, dass die Ausgaben für das Gesundheitswesen von derzeit 3 Prozent des Bruttosozialproduktes auf 6 Prozent angehoben werden. 20.000 gingen auf die Straße. Die Krankenschwestern zogen vor den Sitz des Premierministers Kaczinski und verlangten ein Treffen mit ihm. Kaczinski ließ sich jedoch verleugnen. Daraufhin beschlossen die Krankenschwestern auf ihn zu warten. Die Demonstration wurde zur Blockade.

Wojtek: Schließlich räumte die Polizei und versuchte mit aller Gewalt die Krankenschwestern auf die andere Straßenseite zu treiben. Eine Krankenschwester erlitt dabei eine Herzattacke.

Paul: Das führte dazu, das später die Krankenschwestern sich jeden Tag um 7:19 Uhr, dem Zeitpunkt der Attacke, versammelten und vor dem Sitz des Premierministers einen gewaltigen Krach machten. Sie steckten dazu Münzen in leere Plastikflaschen und machten damit immer eine halbe Stunde einen ohrenbetäubenden Lärm, was für den Premierminister natürlich alles andere als angenehm war.

Wojtek: Das wurde aber erst dadurch möglich, dass am Tag nach dem Angriff auf die Demonstration Abordnungen von Bergarbeitern und Stahlarbeitern eintrafen und die Verteidigung der Demo übernahmen. Diese Solidaritätsaktion hatte eine enorme Wirkung auf das Selbstvertrauen und das Bewusstsein der Streikenden. Die Krankenschwestern errichteten schließlich zusammen mit den anderen eine richtige Zeltstadt mitten in Warschau.

Wie entwickelte sich der Protest dann weiter? Wie reagierte die Bevölkerung Warschaus?

Paul: Wie gesagt, eine richtige Zeltstadt wurde aufgebaut. Für vier Wochen. Es gab ein großes Zelt, wo die Versammlungen abgehalten wurden. Es gab diese Massenversammlungen jeden Tag. Natürlich wurde eine riesige Küche errichtet. Und es war wirklich eine Art Stadt in der Stadt. Jedes Zelt hatte eine Adresse, man konnte sogar Briefe an die einzelnen Zelte schicken. Die Krankenschwestern gaben täglich eine Zeitung heraus. Die Warschauer zeigten ungeheuer große Solidarität. Sie brachten Essen, Schlafsäcke, alles. Die Krankenschwestern erwiderten diese Solidarität, indem sie kostenlose medizinische Hilfe zur Verfügung stellten. Man konnte sich den Blutzucker testen lassen oder ein EKG durchführen lassen. Die Leute, gerade die älteren, standen stundenlang an, um die kostenlosen Untersuchungen zu bekommen. Ein paar Leuten haben diese Untersuchungen auch das Leben gerettet. Ansonsten gab es auch eine Reihe von Konzerten in der Zeltstadt. Viele berühmte Musiker spielten ohne Gage.

Wojtek: Die Universität von Warschau organisierte Vorlesungen über alternative Ansichten, wie Kinder aufwachsen könnten.

Paul: Auch Aktivistinnen aus der Frauenbewegung sprachen über ihren Kampf. Die ganze Stimmung änderte sich in Warschau. Sie ging sehr nach links und symphatisierte mit den Arbeiterinnen und Arbeitern. Auch die Frage des Generalstreiks wurde aufgeworfen.

Wie verhielten sich die Gewerkschaften?

Wojtek: Es ist traurig: die eigene Gewerkschaft der Krankenschwestern hatte sie im Stich gelassen. Doch es gab eine Reihe von Solidaritäts-Demonstrationen, die die kämpferische Gewerkschaft "August 80" organisierte. Auf jeder dieser Demos waren 700 bis 1000 Leute dabei, vorwiegend Arbeiter und Arbeiterinnen. Zu einer gemeinsamen Gewerkschaftsdemo kamen 4000.

Paul: "August 80" hat die anderen Gewerkschaften unter Druck gesetzt. Kaczinski meinte zu den Protesten: „Das sind Gesetzesbrecher. Ich weigere mich mit Kriminellen zu reden.“ Aber in Umfragen unterstützten 72 Prozent den Streik.

Wie ist der nun der Stand? Gibt die Regierung nach?

Paul: Ende August soll ein Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht werden, dass die 30 Prozent Lohnerhöhung dauerhaft sind. Das wäre ein Teilsieg. Es wird auf jeden Fall eine Streikpostenkette vor dem Parlament geben. Und am 19. September gibt es eine zentrale Gewerkschaftsdemo. Am letzten Tag der Zeltstadt wurde gesagt, dass die Regierung uns noch an Orten treffen wird, die sie sich noch nicht einmal vorstellen kann.

Wojtek: Es kann auch gut sein, dass dieser Arbeitskampf Auswirkungen auf den Energie- und Stahlsektor haben wird.

Paul: Ich denke, alle, die in der Zeltstadt waren, wurden vom Enthusiasmus angesteckt. Einen Engländer, der nun Musik macht und in Polen eine bekannte Band hat, erinnerte dieser Kampf an den Bergarbeiterstreik in Großbritannien in den 80ern. Er erzählte davon in der Zeltstadt. Ich hatte mit ihm zusammen eine Jam-Session. Er meinte danach, er wäre vor zwei Monaten auf dem größten Musikfestival des Landes in Gdynia gewesen, doch seinen Auftritt in der Zeltstadt fand er viel besser. Dieses Erlebnis hat ihm viel Kraft und Inspiration gegeben, dass er nun wohl ein neues Album in Angriff nimmt.

Ihr hattet die Gewerkschaft "August 80" erwähnt. Könnt ihr etwas mehr über diese Gewerkschaft sagen?

Wojtek: Sie wurde 1993 gegründet und war eine Abspaltung von "Solidarnocz 80", die sich wiederum von "Solidarnocz" abgespalten hatten. Mit ihrem Namen bezieht sie sich auf Traditionen des August 1980 (dem Streik auf der Gdansker Leninwerft, Anmerkung d. A.). "Solidarnocz 80" wollte damals einen Streik von Autoarbeitern nicht unterstützen. Das war der Anlass für die Trennung. "August 80" wurde dann die Speerspitze der Bergarbeiter-Demonstrationen. In Katorwicze gab es 1994 einen der längsten Streiks in Europa. Vor zwei Jahren begann "August 80" dann sehr schnell auch andere Branchen zu organisieren, wie zum Beispiel den Transportbereich. Sie engagierten sich erfolgreich gegen Privatisierung und kämpften auch als einzige Gewerkschaft für die Vertragsarbeiter. Es gab auch eine Menge lokaler Streiks, die "August 80" organisierte.

Sie sind auch die Hauptkraft in den Arbeiter-Verteidigungs-Komitees. Ein Führer der Bergarbeiter wurde nach einem Streik entlassen und mit ihm eine Reihe anderer. "August 80", unsere Gruppe und weitere linke Aktivisten gründeten darauf die Arbeiter-Verteidigungs-Komitees. Wir waren erfolgreich und konnten die Wiedereinstellung erreichen. Nun gibt es diese Komitees in mehreren Gebieten.

In vielen Ländern Europas steht die Neugründung einer wirklichen neuen Arbeiterpartei auf der Tagesordnung. Wie steht es in Polen damit?

Wojtek: 2001 wurde aus "August 80" heraus eine eigene Partei gegründet, die Polnische Arbeiterpartei. Sie waren am Anfang sehr klein. Sie engagierte sich dann für Menschenrechte und soziale Fragen. In den Wahlen 2005 forderten sich zum Beispiel auch schwule und lesbische Partnerschaften zu legalisieren. Das Zusammenführen der sozialen Frage mit den Menschenrechten hatte auch praktische Auswirkungen. Die Bergarbeiter schützten Demonstrationen für Frauenrechte und unterstützten auch die Schwulen- und Lesbenbewegung. Konkret hatte sich zum Beispiel der Bergarbeiter-Führer, der entlassen werden sollte, für die Frauenbewegung engagiert.

Wie sind die Perspektiven für die nächste Zeit?

Paul:Im Moment gibt es jeden Tag eine neue Meldung darüber, ob es zu Neuwahlen kommt oder nicht (mittlerweile sind Neuwahlen gewiss, d.A.). Die Kaczinski-Regierung ist schwach und wird von einer Krise nach der anderen geschüttelt.

Wojtek:Die Regierung trat mit dem Versprechen an, die Korruption zu bekämpfen. Nun ist Lepper (einer der führenden Köpfe der Regierung) selber in einen Korruptionsskandal verwickelt.

Paul:Es könnte im Herbst auch zu einem Bergarbeiterstreik kommen.

Wie schätzt ihr die Arbeit eurer Gruppe, der Gruppe für eine Arbeiterpartei (GPR) ein? Was konntet ihr als kleine Kraft erreichen?

Wojtek:Wir haben durch unsere beharrliche Arbeit und unsere Vorschläge eine große Autorität gewonnen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen sehen uns als Verbündete und manchmal sogar als Führung. Vor kurzem baten uns Busfahrer, dass wir für sie auf einer Demonstration sprechen. Das ist ein gutes Zeichen. Wir hoffen daher, auch in anderen Regionen des Landes unsere Kräfte aufbauen zu können.

Vielen Dank für dieses Interview und viel Erfolg in den anstehenden Kämpfen!

Das Interview führte Ingmar Meinecke (Leipzig).