Der „Deutsche Herbst“ vor 30 Jahren

Über die Aufrüstung des Staatsapparates und die falschen Methoden des individuellen Terrorismus


 

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kam es in der Bundesrepublik zur Studentenbewegung und zur APO, aber auch zu Unruhen in den Betrieben. Vor diesem Hintergrund entstanden neue Organisationen, darunter die Rote Armee Fraktion (RAF). Die Herrschenden nutzten die Jagd auf die RAF damals, um den Polizeiapparat auszubauen, demokratische Rechte einzuschränken und Linke und SozialistInnen als „Sympathisanten“ zu diffamieren und einzuschüchtern. Vor 30 Jahren, 1977, erreichte die Auseinandersetzung einen Höhepunkt, als Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt wurde.

von Wolfram Klein, Plochingen (bei Stuttgart)

Ende der sechziger Jahre gab es international eine Welle von politischer Radikalisierung und Jugendprotesten. In vielen Ländern war der Kampf gegen den Vietnam-Krieg der USA ein zentrales Thema. In Deutschland spielte auch der Widerstand gegen die Einführung der Notstandsgesetze durch die Große Koalition (1966-69) eine wichtige Rolle. Da es wegen der CDU/CSU/SPD-Regierung fast keine parlamentarische Opposition gab, begünstigte das die Entstehung der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Besonders radikalisierend wirkte der Schock des 2. Juni 1967, als der (gegen den Staatsbesuch des Shahs von Persien) friedlich demonstrierende Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Durch die Proteste politisierte sich eine ganze Generation von Studierenden, auch auf SchülerInnen und Auszubildende dehnte sich die Bewegung aus.

Die mit der mitregierenden SPD verbundenen Gewerkschaftsführer bemühten sich, die Bewegung von den Beschäftigten fern zu halten. Allerdings gärte es auch dort. 1966/67 war es in Westdeutschland zur ersten Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen. Im Ruhrgebiet wurden viele Zechen geschlossen. Daraufhin votierten über 96 Prozent im Frühsommer 1966 für einen Streik zur Durchsetzung von Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung – der dann in letzter Sekunde von oben vereitelt wurde. Im September 1969 begann im Ruhrgebiet ein „wilder Streik“ von 140.000 ArbeiterInnen, der mehr erreichte, als zu Streikbeginn gefordert worden war.

Die Studierendenproteste, denen damals der Brückenschlag zur Arbeiterklasse nicht gelang, stießen Ende der sechziger Jahre an ihre Grenzen, AktivistInnen zogen verschiedene Schlussfolgerungen: viele gingen in die Jusos, die Jugendorganisation der SPD (die damals als mögliches Instrument für gesellschaftliche Veränderungen betrachtet wurde), andere engagierten sich bei den aufkommenden Bürgerinitiativen, andere gingen in stalinistische oder maoistische Gruppen, eine winzige Minderheit versuchte, den „bewaffneten Kampf“ zu beginnen. Daraus entstand unter anderem die Rote Armee Fraktion.

Die Entstehung der RAF

Der Tod von Ohnesorg, die ständige Polizeigewalt gegen Demonstrationen, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke (nach einer Hetzkampagne der Springer-Presse) führten zu Diskussionen, auf die Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren. Verwiesen wurde auf die bewaffneten Konflikte in Teilen der „Dritten Welt“. Die allermeisten verstanden, dass sich die dortigen Kampfformen nicht auf die BRD-Verhältnisse übertragen ließen.

Aber einzelne hatten genug von langen Diskussionen und wollten etwas tun, ausprobieren, ob es ging. „Ob es richtig ist, den bewaffneten Kampf jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln“ (Ulrike Meinhof). So war der „bewaffnete Kampf“, wie der individuelle Terror beschönigend genannt wurde, ein Stück weit eine Art Menschenversuch. Dass sich Menschen auf ein solches Experiment einließen, lag auch daran, dass es zunächst leicht schien. Dass ihr Waffen- und Sprengstofflieferant Peter Urbach für den Berliner Verfassungsschutz arbeitete, konnten sie ja nicht wissen. Dazu kam der Wunsch, denjenigen, die bereits in die Mühlen der Justiz geraten waren, zu helfen: als Geburtsstunde der RAF gilt die Befreiung von Andreas Baader aus dem Gefängnis am 14. Mai 1970.

1971 verfasste Ulrike Meinhof „Das Konzept Stadtguerilla“. Darin behauptete sie, dass „der bewaffnete Kampf als ‚die höchste Form des Marxismus-Leninismus‘ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muss, dass es ohne das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt. “ Die RAF traute den ArbeiterInnen nicht viel zu. In „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ (Mai 1971) hieß es, dass die Arbeiterklasse „auch nicht annähernd das Erfahrungswissen und den Grad von Abstraktionsfähigkeit vermittelt bekommt, die notwendig sind, um aus dem im gesellschaftlichen Bereich gesammelten sinnlichen Erfahrungen richtige Schlussfolgerungen ziehen zu können“.

Noch bevor die RAF ihre erste Aktion durchgeführt hatte, waren eine ganze Reihe ihrer Mitglieder festgenommen worden. Zwei waren bei der Verhaftung erschossen worden. Im Mai 1972 unternahm die RAF mehrere Bombenanschläge auf US-Militäreinrichtungen, den Springer-Konzern, Polizeieinrichtungen und einen Richter. Es gab eine Reihe von Toten und Verletzten (einfache Soldaten, Springer-Beschäftigte, die Ehefrau des Richters). Die RAF verspielte sich mit solchen Aktionen Sympathien, die sie wegen der angestrebten Ziele bei Teilen der Linken hatte.

Am 1. Juni 1972 wurden Jan-Karl Raspe, Andreas Baader und Holger Meins festgenommen, am 7. Juni Gudrun Ensslin, am 9. Juni Brigitte Mohnhaupt, am 16. Juni Ulrike Meinhof. Das hätte das Ende der RAF sein können. Dass es nicht das Ende war, lag vor allem am Vorgehen des Staatsapparates: brutale Polizeiaktionen, unmenschliche Haftbedingungen, Abbau demokratischer Rechte. Bei der Terroristenjagd griff die Polizei schnell zur Waffe, was neben RAF-Mitgliedern zum Beispiel einem schottischen Handelsvertreter in Stuttgart das Leben kostete. Den Polizisten wurde regelmäßig „Notwehr“ oder „putative Notwehr“ (irrtümlich angenommene Notwehr) bescheinigt.

In den Gefängnissen wurden die RAF-Verdächtigen von einander isoliert; von anderen Gefangenen ebenfalls. KritikerInnen der Haftbedingungen wurden jahrelang als „Sympathisanten“ der RAF diffamiert. Die Gefangenen traten wiederholt in Hungerstreiks, die Behörden griffen lieber zu qualvoller Zwangsernährung, als die Haftbedingungen zu lockern.

Neue Gesetze

Schon am 28. Januar 1972 kam der Radikalenerlass. NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) sagte: „Ulrike Meinhof als Lehrerin oder Andreas Baader bei der Polizei, das geht nicht.“ Tatsächlich wurde der Radikalenerlass vor allem gegen Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) im Öffentlichen Dienst angewandt, die an ihrer Ablehnung der RAF-Methoden nie einen Zweifel gelassen hatte.

Ende 1974 wurde die Strafprozessordnung verschärft: RechtsanwältInnen konnten vom Verfahren ausgeschlossen werden, wenn sie im Verdacht standen, MittäterInnen ihrer MandantInnen zu sein. Neu war hier, dass der Verdacht reichte, denn natürlich standen Rechtsanwälte auch vorher nicht über dem Gesetz. Damit wurden Willkür und Denunziation Tür und Tor geöffnet, die Verteidigung von Terrorismus-Verdächtigen wurde hoch riskant.

Aufgrund der 1976 eingeführten, 1981 wieder abgeschafften „Gewaltparagraphen“ 88a und 130a wurden zahlreiche linke Buchläden, Druckereien, Wohngemeinschaften durchsucht, viele Verfahren eingeleitet, die meisten von ihnen jedoch wieder eingestellt.

1976 wurde der § 129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) eingeführt. Auch Beihilfe und Werbung war strafbar. Wer über die Haftbedingungen informierte, konnte als Terrorist behandelt werden. Damit hatten Polizei und Staatsanwaltschaft eine Handhabe für die Bespitzelung der gesamten linken Szene. Die meisten Verfahren wurden wieder eingestellt. Aber in der Zwischenzeit gab es Hausdurchsuchungen, Ermittlungen am Arbeitsplatz, Telefonüberwachung, Untersuchungshaft unter Isolationsbedingungen.

Der RAF-Prozess

Angesichts der vorherigen Einschränkung der Verteidigerrechte war ein fairer Prozess gegen Baader, Ensslin, Raspe und Meinhof von vornherein ausgeschlossen. Eine Befragung zu den Motiven der Angeklagten wurde nicht zugelassen, obwohl das in einem normalen Strafprozess zumindest für die Höhe des Strafmaßes notwendig gewesen wäre. Gegen Ende des Prozesses wurde bekannt, dass Gespräche zwischen Verteidigung und Angeklagten abgehört worden waren. Das Gericht verurteilte die drei noch lebenden Angeklagten 1977 zu „lebenslänglich“ (Ulrike Meinhof hatte 1976 angeblich Selbstmord begangen).

All diese staatlichen Maßnahmen trieben der RAF neue Mitglieder zu. Die Urheber des § 129a waren die erfolgreichsten Werber für die RAF. Am 30. Juli 1977 sollte der Bankier Jürgen Ponto entführt werden, um die Gefangenen frei zu pressen, wurde dabei aber getötet.

RAF und Reaktion

Die Herrschenden fürchteten damals die Radikalisierung der Arbeiterklasse, die Berg- und Stahlarbeiter im Ruhrgebiet allen voran. „Wenn die Ruhr brennt, gibt es im Rhein nicht genug Wasser zum Löschen“, hatte schon Konrad Adenauer (CDU, Kanzler von 1949 bis 1966) gesagt. Die RAF wurde zum „Staatsfeind Nr. 1“ aufgebauscht, um zu verwischen, wo die wirkliche Kraft liegt, die die Gesellschaft grundlegend verändern kann. Zugleich sollte jeder radikale Kampf mit den Methoden der RAF gleichgesetzt werden, um die Arbeiterklasse davon abzuschrecken. Die RAF nutzte also objektiv der Reaktion.

Sie hatte keinerlei Verbindung zu den wirklichen Massenkämpfen: Im April 1972 kam es zu politischen Streiks gegen den Versuch der CDU/CSU, die SPD/FDP-Regierung unter Willy Brandt durch ein Misstrauensvotum zu stürzen, die Bevölkerung war extrem politisiert – die RAF unternahm im Mai ihre Anschlagsserie und versuchte nicht einmal, sich darauf zu beziehen.

Ein Kerngedanke des individuellen Terrorismus besteht darin, darauf hinzuarbeiten, dass die Herrschenden ihr „wahres Gesicht“ zeigen. So meinte die RAF zum Beispiel, dass sie es „mit Strauß leichter“ hätten (der CSU-Chef Franz-Josef Strauß war für die Linken seinerzeit eine Symbolfigur für alles Reaktionäre). Die RAF verstand nicht, dass es die Bedingungen für Gegenwehr erschwert, wenn der bürgerliche Staatsapparat seine Aufrüstung forcieren kann – und damit bei einem Teil der Arbeiterklasse Verständnis und Unterstützung findet, der von der Anschlagsserie der RAF entsetzt und verängstigt war.

Schleyer wird entführt

Am 5. September 1977 entführte ein Kommando der RAF Hanns-Martin Schleyer, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie und zugleich des Bundesverbands der Deutschen Arbeitgeberverbände. Sein Fahrer und drei Polizisten starben dabei.

Die Entführung bestimmte die bundesdeutschen Medien über viele Wochen. In der Öffentlichkeit behauptete die Regierung, das Leben Schleyers habe oberste Priorität. In Wirklichkeit hatte die Staatsräson Vorrang: Die BRD sollte nicht als erpressbar gelten. Die RAF war durch diese staatliche Reaktion völlig aus dem Konzept gebracht. Denn das widerlegte die Idee, die dem individuellen Terror überhaupt zugrunde liegt, dass die einzelnen Vertreter der herrschenden Klasse große Bedeutung hätten und ihre Beseitigung einen gewaltigen Unterschied machen würde. Selbst ein so wichtiger Stratege der herrschenden Klasse wie Schleyer war zur Not austauschbar. MarxistInnen haben immer betont, dass es nicht um einzelne Vertreter des kapitalistischen Systems geht, sondern darum, durch eine Massenbewegung die ganzen gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen.

Nachdem die Schleyer-Entführung nicht den von der RAF erwarteten Druck erzeugte, versuchte die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), der RAF zu helfen. Sie entführte ein Passagierflugzeug, die Landshut, das voll mit UrlauberInnen war, die von Mallorca nach Deutschland zurückflogen. Nach einer kleinen Odyssee landete die Landshut in Mogadischu in Somalia. Hier hatte die Regierung noch weniger Hemmungen. Ein Spezialkommando der GSG 9 stürmte das Flugzeug. Dass es kein Blutbad gab, sondern die Geiseln befreit wurden (wogegen fast alle EntführerInnen den Tod fanden), war vorher keineswegs sicher gewesen. Bei solchen Ereignissen spielen Zufälligkeiten zwangsläufig eine große Rolle. Das krasseste Beispiel ist übrigens die Schleyer-Entführung selbst, bei der die örtliche Polizei binnen zwei Tagen das Versteck entdeckt hatte, aber die Information im bürokratischen Fahndungsapparat versickerte. Dass der „deutsche Herbst“ nicht nach 48 oder 72 Stunden vorbei war, war purer Zufall, hatte aber gravierende Folgen.

Kriminalisierung von Linken

Vor allem die Unionsparteien nutzten die RAF, um Linke bis weit in die SPD hinein als „SympathisantInnen“ zu attackieren. Selbst Leute, die die RAF als „Baader-Meinhof-Gruppe“ statt als „Baader-Meinhof-Bande“ bezeichneten, waren für den späteren rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel „Sympathisanten“. Unionspolitiker forderten das Verbot linker Organisationen. Zudem sollte politisches Engagement an den Universitäten untersagt und die Verfassten Studierendenschaften verboten werden (was in Baden-Württemberg und Bayern bis heute der Fall ist).

Am 24. September fand in Kalkar eine Großdemonstration gegen das dort geplante Atomkraftwerk („Schneller Brüter“) statt. Es gab massive Polizeikontrollen, Anreisende wurden fünf bis zehn Mal gefilzt, oft mit entsicherter Maschinenpistole im Anschlag. 20.000 konnten deshalb gar nicht rechtzeitig eintreffen. Trotzdem war es mit 50.000 die bis dahin größte Anti-AKW-Demo. Trotz Verbots schafften sie es, friedlich direkt am Bauzaun zu demonstrieren. Allerdings war von vornherein darauf verzichtet worden, wie noch wenige Monate vorher in Brokdorf oder Grohnde, den Bauzaun niederzureißen.

Stammheim

Im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim war extra für die RAF-Gefangenen ein Hochsicherheitstrakt gebaut worden. Mit Beginn der Schleyer-Entführung wurde über die RAF-Gefangenen eine „Kontaktsperre“ verhängt. Sie durften weder mit einander noch mit Angehörigen noch mit Anwälten Kontakt haben. Nachdem diese Verwaltungsmaßnahme von Gerichten für unzulässig erklärt wurde, wurde ein weiteres Sondergesetz, das „Kontaktsperregesetz“, durch den Bundestag gejagt. Das Kontaktsperregesetz gilt nicht nur für Verurteilte, sondern auch für wegen Terrorverdachts Festgenommene.

Laut offizieller Lesart verabredeten Baader und Co. in der Nacht der Befreiung der Geiseln einen gemeinsamen Selbstmord. Am Morgen des 18. Oktober wurde Baader erschossen, Ensslin erhängt, Raspe mit tödlichen Schussverletzungen und Möller mit schweren Stichverletzungen gefunden. Die einzig Überlebende, Irmgard Möller, hat vehement bestritten, dass es eine gemeinsame Selbstmord-Verabredung gab und sie Selbstmord versucht habe.

Am 19. Oktober wurde Schleyers Leiche gefunden. Schleyer war schon 1931 der Hitlerjugend beigetreten. Später war er SS-Funktionär im Hochschulbereich, leitete dann die Mobilmachung der tschechischen Industrie für den Krieg und wurde nach 1945 von den Alliierten für drei Jahre gefangen gesetzt. Aber als Schleyer nach sechs Wochen Geiselhaft von der RAF getötet wurde, da war es klar, dass die Menschen in der BRD in ihm nicht den alten Nazi oder den Arbeitgeber-Scharfmacher sahen, sondern einen gequälten Menschen, der wochenlang zwischen Todesangst und Hoffnung geschwebt hatte, für den sie Mitleid empfinden mussten.

Arbeiterklasse

Das bürgerliche Establishment wird in diesem Herbst anlässlich des 30. Jahrestags der Ereignisse von 1977 erneut versuchen, gegen Linke Stimmung zu machen. Aufs Neue werden sie mit ihrer Darstellung des „deutschen Herbstes“ suggerieren wollen, dass jede Form von Widerstand letztendlich in „sinnlose Gewalt“ münden müsste.

Allerdings liefert das kapitalistische System tagtäglich neue Argumente dafür, aktiv zu werden gegen die bestehenden Verhältnisse. Der Kapitalismus erweist sich als unfähig, Armut, Arbeitslosigkeit und soziales Elend zu beseitigen. Und produziert selber Tag für Tag Gewalt.

Um wirksam dagegen vorzugehen, sind kollektive Formen der Gegenwehr, sind Massenproteste statt individuelle Handlungen nötig. Um die Masse von Jugendlichen, ArbeiterInnen, Erwerbslosen anzusprechen sind politische Argumente, ein Programm und die Darstellung von Alternativen statt terroristische Aktionen – die im Fall der RAF nicht selten das Leben der arbeitenden Menschen selber gefährdet haben – erforderlich.

Schließlich ist es die Arbeiterklasse, die den ganzen gesellschaftlichen Reichtum schafft und bei der durch ihre Stellung im Produktionsprozess kollektives Bewusstsein und gemeinsame Protestformen gefördert werden. Sie ist es, die dieses System aus den Angeln heben und eine neue, sozialistische Gesellschaft aufbauen kann.

Marxismus heute: Die Sackgasse von Stadtguerilla und individuellem Terror

In der Russischen Revolution 1917 war die Arbeiterklasse unter Führung der Bolschewiki in der Lage gewesen, den Kapitalismus zu stürzen und eine Rätedemokratie zu errichten. Die große Mehrheit der Bevölkerung waren damals BäuerInnen, die – in ihrem Kampf gegen die Großgrundbesitzer – die Revolution unterstützten. Da die Revolution sich nicht international ausdehnte, entwickelte sich daraus die stalinistische Diktatur.

Nach dem Zweiten Weltkrieg siegten eine Reihe von Revolutionen, bei denen nicht die ArbeiterInnen der Städte, sondern der ländliche Guerillakampf im Mittelpunkt stand. Bei dem damaligen internationalen Kräfteverhältnis führte das in einigen Ländern zum Sturz des Kapitalismus (China, Vietnam, Kuba). Aber da die arbeitende Bevölkerung in den Städten nicht wie in Russland 1917 die Führung hatte, gab es nicht mal vorübergehend eine Rätedemokratie. Vielmehr gingen die militärischen Kommandostrukturen der Guerilla nahtlos in die stalinistische Kommandowirtschaft über. Der ländliche Guerillakampf kann dort, wo eine große bäuerliche Bevölkerung existiert, zwar unter bestimmten Verhältnissen eine legitime Kampfmethode sein – aber nur als Ergänzung, nicht als Ersatz zum Kampf der Arbeiterklasse.

Die Tupamaros in Uruguay (ein Vorbild für die RAF) versuchten in den sechziger Jahren, die Guerilla-Methode in die Städte zu verpflanzen. Die Folgen waren verheerend. Die „Stadtguerilla“ wurde brutal unterdrückt und lieferte dem Militär einen Vorwand, eine Diktatur zu errichten.

Seitdem gab es Bewegungen wie die Iranische Revolution 1978/79, die Massenkämpfe in den südafrikanischen Townships gegen die Apartheid Mitte der achtziger Jahre und ab Ende 1987 die mehrjährige Intifada in Palästina. Alle drei Bewegungen hatten politische Schwächen, die hier nicht diskutiert werden können. Aber alle drei haben gezeigt, dass unter bestimmten Bedingungen auch brutale Militärdiktaturen oder Besatzungsregime Massenkämpfe in den Städten nicht verhindern können. Diese Bedingungen können nicht künstlich geschaffen werden. Aber wenn sie fehlen, können sie weder durch Heroismus von Einzelnen noch durch das Basteln von Bomben ersetzt werden.

Die RAF knüpfte an die Ideen der Stadtguerilla an, in der Praxis waren ihre Aktionen aber einfach individueller Terror. Im günstigsten Fall (wenn er sich gegen ein verhasstes Regime richtet) nährt er in den Massen die falsche Vorstellung, die Terroristen würden stellvertretend für sie kämpfen und sie bräuchten nichts zu tun. Viel häufiger aber stößt er die Massen ab, treibt sie in die Arme des kapitalistischen Staates und verwischt die Klassengegensätze. Ein Paradebeispiel dafür konnte man 1991 sehen: In Ostdeutschland gab es Massenproteste gegen die Arbeitsplatzvernichtung durch die Treuhand. Da wurde der Treuhand-Chef Detlef Karsten Rohwedder ermordet (angeblich durch die RAF) – und mit der Bewegung war es erstmal vorbei.


Debatte im Rahmen der Sozialismustage:

28.-30. Sept., Berlin

30 Jahre „Deutscher Herbst“ – Marxisten und Terrorismus

mit Bommi Baumann (ehemals Bewegung 2. Juni) und Gaetan Kayitaré (SAV-Bundesvorstand)