Debatte in Venezuela und international über Chávez’ Vorgehen gegen Privatsender
Die Chávez-Regierung in Venezuela hat Ende Mai die Sende-Lizenz für den privaten Fernsehsender RCTV nicht verlängert. Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Medienwelt. Das Europäische Parlament protestierte mit einer Resolution.
von Georg Kümmel, Köln
Zunächst die Fakten: Am 27. Mai 2007 lief die Lizenz des privaten Fernsehsenders RCTV aus. Sie war diesem Sender 1987 von der damaligen Regierung erteilt worden. Es geht dabei um die Möglichkeit, das Programm über Antenne auszustrahlen. Per Kabel, Satellit oder Internet kann der Sender weiter senden. Die frei gewordene Frequenz wird jetzt von einem öffentlichen Sender genutzt.
Putsch gegen Chávez 2002
Der Sender RCTV hatte im April 2002 den Putschversuch gegen den Präsidenten Hugo Chávez propagandistisch vorbereitet und unterstützt. Am Tag des Putschversuches berichtete RCTV (und andere private Sender), die Regierung Chávez hätte ihre Anhänger aufgefordert, auf friedliche, unbewaffnete DemonstrantInnen zu schießen. RCTV zeigte dazu einen Zusammenschnitt von Fernsehbildern, die diese Behauptung zu bestätigen schienen. Das war eine der wichtigsten Begründungen für den Putschversuch im Verlauf des selben Tages. Die Berichte waren aber Falschmeldungen, die Bilder eine absichtliche Täuschung. Das ist vielfältig dokumentiert und wird auch von keiner Seite bestritten.
Eine Frage der Toleranz?
Trotzdem hat das Vorgehen der Regierung Chávez auch innerhalb der Linken zu Diskussionen geführt. So schreibt jemand auf den Seiten von indymedia unter dem Namen „Liberaler Linker“, dass eine linke Regierung es dulden müsse, dass private Sender oder Zeitungen zum Sturz der Regierung auffordern. Andernfalls dürfe man als Sozialist zum Beispiel in Deutschland für sich selber nicht das Recht auf Pressefreiheit fordern, da man schließlich auch auf die Abschaffung des bestehenden Systems ziele. Nebenbei bemerkt, die sozialistische Bewegung würde keine Chance auf Erfolg haben, wenn sie ihre Ziele durch die massenhafte Verbreitung von Lügen verfolgen würde. Die Kapitalisten dagegen sind zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft auf Lügen angewiesen.
Es geht aber gar nicht darum, ob eine linke Regierung einigen Konservativen oder Reaktionären erlaubt, Lügen zu verbreiten. Es geht darum, ob man ihnen das exklusive Recht zugesteht, ihre Lügen oder auch ihre Sicht der Dinge, Millionen Menschen gleichzeitig mitzuteilen, während diese Millionen Menschen ihre jeweilige Meinung gerade mal ihrem Nachbarn erzählen können.
Rolle der bürgerlichen Medien
Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind nämlich nicht abstrakt, sondern konkret. Venezuela hat rund 27 Millionen EinwohnerInnen. Wenn jeder der 27 Millionen Menschen, egal ob Bettler oder Besitzer eines Fernsehsenders, die gleichen Möglichkeiten hätte, seine Meinung allen 27 Millionen VenezolanerInnen mitzuteilen, dann wäre es in der Tat kein Problem, dass eine handvoll Konservative mit Hilfe von Lügen zum Sturz der Regierung aufrufen. Diese Reaktionäre wären dann nur ein paar Stimmen unter 27 Millionen. Der Bettler in den Slums von Caracas hat aber keinen eigenen Fernsehsender, die Krankenschwester besitzt keine Tageszeitung. Es gibt zwar staatliche Fernsehsender, aber erstens hat jener Bettler darauf keinen direkten Zugriff, und außerdem ist es alles andere als demokratisch, wenn es für Millionen Menschen genauso viele Sender gibt, wie für eine Handvoll Medienzaren. Denn in Venezuela haben, wie in jedem anderen kapitalistischen Land, ein paar Dutzend Superreiche gleich mehrere Fernseh- und Radiostationen und fast alle Tageszeitungen in ihrem Besitz und damit unter ihrer direkten Kontrolle. Eine kleine Minderheit hat damit die technischen und finanziellen Möglichkeiten, ihre Ansichten, ihre Ideologie tagtäglich Millionen mitzuteilen.
Private Sender und Zeitungen wollen „objektiv“ und „unabhängig“ erscheinen. Tatsächlich haben sie knallharte wirtschaftliche und politische Interessen. Dabei geht es nicht nur um die Interessen der unmittelbaren Eigentümer, sondern auch um die der privaten Wirtschaft. Das sieht man auch daran, dass private Sender und Zeitungen ihr Geld mit Werbung für wiederum private Unternehmen verdienen, also finanziell abhängig sind. RCTV und Venevision, ein anderer Privatsender, kontrollieren nahezu drei Viertel des Marktes für Fernsehwerbung in Venezuela.
Lenin contra Stalin
Wenn eine linke Regierung gegen bürgerliche Medien vorgeht, werden sofort Vergleiche zur Sowjetunion und anderen stalinistischen Ländern gezogen. Das Problem war aber nicht, dass in diesen Ländern die Macht der Medienzaren gebrochen war. Das Problem war, dass eine andere Form von Diktatur an ihre Stelle getreten war. Ein mit Privilegien ausgestatteter Machtapparat nutzte die Kontrolle über die Medien zur Absicherung ihrer Herrschaft. Das stand im direkten Gegensatz zu den Vorstellungen der SozialistInnen um Lenin. Deren Ziel war es, die Meinungsfreiheit dadurch zu verwirklichen, dass man die technischen Mittel zur Herstellung und Verbreitung von Zeitungen der „Arbeiterklasse und der Dorfarmut“ zugänglich machte, wie es in der Verfassung der Sowjetunion von 1918 hieß.
Chávez’ Fehler
Der Fehler von Chávez war, dass er dem Sender nicht schon direkt nach dem Putschversuch die Lizenz entzogen hat und zwar vollständig. (Die Putschisten hatten übrigens den staatlichen Sender VTV während des Putschversuches sofort abgeschaltet). Damals war genau diese Forderung, dem Privatsender RCTV die Lizenz zu entziehen, von vielen DemonstrantInnen erhoben worden. Sie hatten verstanden, welche Rolle dieser Sender im politischen Geschehen einnimmt und welche Gefahr von ihm ausgeht. Ein Lizenzentzug wäre 2002 für die große Mehrheit der Bevölkerung nachvollziehbar gewesen und als eine Maßnahme zum Schutz ihrer Interessen verstanden worden. Heute fragen sich nun viele: „Wenn der Sender seine Macht so missbraucht hat, warum durfte er jahrelang weitermachen? Warum darf er jetzt weiter über Kabel und Satellit senden?“
Sozialistische Perspektive
Der neue, öffentliche Sender Tves hat den Anspruch, ein Sprachrohr für die breite Masse der Bevölkerung zu sein. Um das zu gewährleisten, sollte er demokratisch organisiert und kontrolliert werden. Wichtig ist, dass alle Leitungsfunktionen einschließlich der Redaktionsleitung demokratisch gewählt werden. Außerdem darf es natürlich keine Privilegien für die Sendeleitung geben.
Die Einrichtung eines öffentlichen Senders ist ein wichtiger Schritt in Richtung Meinungsfreiheit. Doch solange in Venezuela, wie in anderen Ländern, die Banken, Konzerne und die Medien ausschließlich oder vornehmlich im Besitz einer kleinen reichen Oberschicht sind, kann von echter Meinungsfreiheit keine Rede sein.
Und die privaten Eigentümer werden ihre Medienmacht auch in Zukunft benutzen, um jeden Schritt in Richtung sozialer Gerechtigkeit zu torpedieren und eine Beschneidung ihrer Macht wieder rückgängig zu machen.
Um eine demokratische, sozialistische Gesellschaft zu erreichen, müssen die kapitalistischen Banken und Konzerne und auch die kapitalistischen Medien in Gemeineigentum überführt und demokratisch organisiert werden. Auf allen Ebenen könnten gewählte und jederzeit abwählbare Vertretungen auf Basis der Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt Entscheidungen treffen. Im Medienbereich könnten dann zum Beispiel Sendezeiten demokratisch vergeben werden. Dann und erst dann hat jede und jeder das gleiche Recht und die gleichen Möglichkeiten, seine Meinung anderen mitzuteilen. Das ist Meinungsfreiheit.