Gewerkschaftsapparate wollen Tarifverträge durch Anpassung an Verwertungslogik des Kapitals retten
Mit dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) in der Metallindustrie und dem neuen Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVÖD) werden die wichtigsten Flächentarifverträge zum Nachteil der Beschäftigten umgekrempelt.
Das Fatale daran ist, dass dies mit aktiver Unterstützung der Spitzen von IG Metall und ver.di passiert. Beteiligt sind daran nicht nur die sogenannten Modernisierer, sondern letztlich auch die „Traditionalisten“.
von Ursel Beck, Stuttgart und Daniel Behruzi, Berlin
Die Ausschaltung des Konkurrenzkampfes unter den Beschäftigten war in der Vergangenheit das Ziel von Flächentarifverträgen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit war eines der Leitmotive. Diese Zeiten sind vorbei. Die Übernahme der Wettbewerbs- und Standortpolitik durch die Gewerkschaftsführung hat dazu geführt, dass den Arbeitgebern in den Flächentarifverträgen immer mehr Schlupflöcher für Lohnsenkungen gegeben wurden. Mit betrieblichen Abweichungen und Öffnungsklauseln wurde der Spaltung Vorschub geleistet. Tarifverträge verlieren mehr und mehr ihre allgemeine Schutzfunktion.
Begonnen hat diese Entwicklung bereits in den achtziger Jahren, als die Gewerkschaftsspitzen im Zuge der Einführung der 35-Stunden-Woche in der Metall- und Druckindustrie eine weitgehende Flexibilisierung der Arbeitszeiten zuließen beziehungsweise akzeptierten, dass bis zu 18 Prozent der Metallbelegschaften auf eine 40-Stunden-Woche hochgesetzt werden können.
Wettbewerb wird Tarifpolitik
In den vergangenen Jahren hat die Gewerkschaftsbürokratie im vorauseilenden Gehorsam eine „Modernisierung“ der Tarifverträge betrieben, die sich an den Interessen der Kapitalseite orientiert. Mit dem Spartentarifvertrag für den Öffentlichen Nahverkehr hat die ÖTV (Vorgängerin von ver.di) ab 2001 für den kampfstärksten Bereich im Öffentlichen Dienst eine Lohnabsenkung und eine Verlängerung der Jahresarbeitszeit vereinbart. Damit wurde nebenbei die Zerschlagung der Tarifeinheit des Öffentlichen Dienstes eingeleitet.
2004 betrieb die IG Metall (IGM) mit dem Pforzheimer Tarifabschluss einen folgenschweren Tabubruch. Der „Erhalt und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ wurde als erklärtes Ziel in den Tarifvertrag aufgenommen. Zum ersten Mal akzeptierte die IG Metall die Möglichkeit betrieblicher Abweichungen nicht nur für den Fall wirtschaftlicher Notlagen, sondern auch, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ des jeweiligen Standortes zu sichern. In rund tausend Unternehmen sind die Bedingungen des Flächentarifs seither unterlaufen worden. Mit dem Pforzheimer Vertrag hat die Gewerkschaftsspitze das Prinzip der Standortkonkurrenz vollends akzeptiert.
Kapitulation der Gewerkschaftsführung
Mit ERA und dem TVÖD werden die in den letzten Jahrzehnten erkämpften tariflichen Standards auf dem Altar des Neoliberalismus geopfert. Die heutigen Gewerkschaftsoberen schrecken – konfrontiert mit der härteren Gangart der Arbeitgeberseite – davor zurück, den nötigen Konflikt einzugehen. Teile der Bürokratie geben sich der Illusion hin, alle Fragen weiterhin auf dem Weg der „Sozialpartnerschaft“ regeln zu können und bilden sich ein, dass die Gegenseite auch ein Interesse an ihren „Modernisierungskonzepten“ hätte. Mit Schlagwörtern wie „Jahrhundertreform“, „Abschaffung des Unterschieds zwischen Arbeitern und Angestellten“ und „Geschlechtergleichstellung“ möchten sie aber auch ihr Versagen schön reden. Im Wissen, dass eine offene Kapitulation den Widerstand in den eigenen Reihen provoziert hätte, wendet die Gewerkschaftsführung eine Verschleierungstaktik gegenüber der Basis an. Für die Beschäftigten der Metallindustrie und des Öffentlichen Dienstes sind diese „Tarifreformen“ die größten Niederlagen in der Nachkriegsgeschichte.
TVÖD und ERA
Durch die Absenkung der Löhne für Neueingestellte werden die Belegschaften gespalten und der Druck für die Absenkung der Löhne aller organisiert. Die Einführung von leistungsabhängigen Entgeltbestandteilen sind Nasenprämien, die den Konkurrenzkampf in den Betrieben verschärfen. Der Besitzstand für die Altbeschäftigten ist nichts wert, wenn er, wie geplant, mit künftigen Tariferhöhungen verrechnet wird. Diese Verrechnungen sind das Rezept für dauerhafte weitere Reallohnverluste. ERA und TVÖD führen dazu, dass die Mehrheit der Beschäftigten, vor allem die Arbeiterbereiche und bisherigen Kampftruppen der Gewerkschaften, hunderte Euro und im Extremfall über 1.000 Euro im Monat verlieren.
Letztlich ist ERA Teil des Versuchs, die Tätigkeit gut ausgebildeter und einigermaßen ordentlich entlohnter FacharbeiterInnen zu entwerten und entsprechend schlechter zu bezahlen. Dem dient auch die von den Unternehmern angestrebte „Modularisierung“ der Ausbildung, die das Ende der klassischen Facharbeiterlehre bedeuten würde.
Im Öffentlichen Dienst wurde mit der Einführung der Niedriglohngruppe EG 1 der niedrigste Lohn des alten Bundes-Angestelltentarifvertrages (BAT) um 300 Euro auf 1.286 Euro West/ 1.189,55 Euro Ost abgesenkt. Viele Zuschläge wurden mit der Unterschrift unter die neuen Tarifverträge einfach abgeschafft. Im Öffentlichen Dienst steht die Vereinbarung über neue Eingruppierungen noch aus. Die ersten ver.di-internen Veröffentlichungen zeigen, dass die ver.di-Spitze noch einen Schritt weiter gehen will bei der Verbetrieblichung der Tarifpolitik und damit bei der Spaltung und Schlechterstellung der Beschäftigten.
Widerstand
Die Gewerkschaftsspitze verteidigt ihre „moderne“ Tarifpolitik mit dem Argument, dass dadurch der Flächentarifvertrag gerettet würde. Das ist zum Scheitern verurteilt. Allein die Erfahrungen mit TVÖD und ERA haben gezeigt, dass die Arbeitgeber hierdurch nicht besänftigt, sondern zu weiteren Angriffen ermutigt werden.
Diese „Reformen“ haben zudem die Ausgangsbedingungen für gewerkschaftliche Gegenwehr verschlechtert, indem sie Errungenschaften kampflos preisgegeben und neue Spaltungslinien zwischen den und innerhalb der Belegschaften etabliert haben. Eine Kehrtwende hin zu entschlossenem und möglichst einheitlichem Widerstand ist bitter nötig.