Zum 150. Geburtstag der Vorkämpferin der proletarischen Frauenbewegung
Am 5. Juli 1857 wurde Clara Eißner in dem sächsischen Weberdorf Wiederau am Fuße des Erzgebirges zwischen Leipzig und Chemnitz geboren. Am 20. Juni 1933 starb sie in Archangelskoje bei Moskau. Sie trug entscheidend zum Aufbau der sozialistischen und (nach dem Ersten Weltkrieg) kommunistischen Frauenbewegung in Deutschland und international bei. Der Internationale Frauentag am 8. März geht auf ihre Initiative zurück.
von Wolfram Klein, Stuttgart
Am 5. Juli 1857 wurde Clara Eißner in dem sächsischen Weberdorf Wiederau am Fuße des Erzgebirges zwischen Leipzig und Chemnitz geboren. Am 20. Juni 1933 starb sie in Archangelskoje bei Moskau. Sie trug entscheidend zum Aufbau der sozialistischen und (nach dem Ersten Weltkrieg) kommunistischen Frauenbewegung in Deutschland und international bei. Der Internationale Frauentag am 8. März geht auf ihre Initiative zurück.
Ihr Vater, Gottfried Eisner, war Sohn eines Tagelöhners und hatte es schon mit 16 zum Dorflehrer von Wiederau gebracht. Das hieß damals, hundert in einem Raum zusammengepferchten Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Er war ein gläubiger protestantischer Christ, der versuchte, durch persönliche Mildtätigkeit die Welt zu verbessern. In zweiter Ehe hatte er Josephine Vitale geheiratet, deren Vater Jean Dominique durch die Französische Revolution 1789 und seine Teilnahme an Napoleons Kriegen geprägt war. Danach hatte es ihn nach Leipzig verschlagen, wo er Französisch und Italienisch unterrichtete. Josephine hatte große Hoffnungen auf die vom Bürgertum verpfuschte Revolution 1848 gesetzt. Sie stand mit Pionierinnen der damals entstandenen (bürgerlichen) Frauenbewegung in Kontakt, insbesondere Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt, las Bücher von George Sand und gründete in Wiederau einen Verein für Frauengymnastik. Clara war die älteste Tochter dieser Ehe.
1872 siedelte die Familie nach Leipzig über, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen. Claras jüngerer Bruder Arthur wurde später wie sein Vater Lehrer. Für Mädchen waren die Ausbildungsmöglichkeiten beschränkter. Immerhin leitete Auguste Schmidt ein Lehrerinnenseminar, auf das Clara aufgenommen wurde. Dieses Seminar war nicht nur durch sein Eintreten für Frauenbildung oppositionell, es widersetzte sich auch der chauvinistischen Welle, die nach der Reichsgründung 1871 durch Deutschland ging. Das Bürgertum hatte zehn Jahre vorher im preußischen Verfassungskonflikt in heftiger Opposition zu Bismarck gestanden. Nach dessen militärischen Siegen über Dänemark, Österreich und Frankreich kroch ihm das Bürgertum immer tiefer in den Hintern; die bürgerliche Frauenbewegung folgte den Männern ihrer Klasse erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung und war zu dieser Zeit ihren Traditionen noch relativ treu.
Auf dem Lehrerinnenseminar freundete sich Clara mit einer russischen Mitschülerin namens Warwara ein, die sie in die Kreise emigrierter russischer StudentInnen einführte. Sie waren meist Kinder reicher Eltern (Bauernkinder konnten sich natürlich kein Studium leisten, ArbeiterInnen gab es damals in Russland noch kaum), von denen viele oft in ihrer Jugend auf den Putz hauten, indem sie mit revolutionären Ideen kokettierten. Es gab aber auch welche, die ernsthaft mit ihrer privilegierten Vergangenheit gebrochen hatten und gemeinsam mit dem Volk gegen die Zarenherrschaft kämpfen wollten. “Die Intelligenz, die ein Produkt des Zerfalls der alten Stände war, fand weder hinreichend Nachfrage nach ihrer Arbeit noch einen Wirkungsbereich für ihren politischen Einfluss. Sie brach mit dem Adel, der Bürokratie, der Geistlichkeit, mit ihrem müßigen Leben und ihren sklavenhalterischen Traditionen. Aber sie suchte auch keinen Anschluss an die noch allzu primitive und rohe Bourgeoisie. Sie betrachtete sich als sozial unabhängig und erstickte gleichzeitig beinahe in den Klauen des Zarismus. (…) Seit den sechziger Jahren hatte sie sich eine Theorie zu eigen gemacht, wonach die Vorwärtsbewegung der Menschheit das Ergebnis des kritischen Denkens sei; wer aber konnte denn als Träger des kritischen Denkens auftreten, wenn nicht sie, die Intelligenz? Da sie gleichzeitig ihre geringe Zahl und ihre Isolierung fürchtete, war die Intelligenz genötigt, zur großen Gebärde, der Waffen der Schwachen, Zuflucht zu nehmen: Sie sagte sich los von sich selbst, um desto mehr Recht zu haben, im Namen des Volkes zu sprechen und zu handeln (…). Aber Volk war gleichbedeutend mit der Bauernschaft. (…) Die Anbetung der Bauernschaft und der Dorfgemeinschaft durch die Volkstümler wurde zur Kehrseite des maßlosen Anspruchs des “geistigen Proletariats” auf die Rolle des wichtigsten, wenn nicht einzigen Hebels des Fortschritts. Die Geschichte der russischen Intelligenz spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab: der Selbsterniedrigung und dem Hochmut, dem kurzen und dem langen Schatten ihrer sozialen Schwäche. (…) Schon die ersten revolutionären Gruppen stellten sich die Aufgabe, einen Bauernaufstand vorzubereiten. (…) Die nach einer kurzen Atempause im Jahre 1873 wiederauflebende Bewegung nimmt den Charakter eines chaotischen massenweisen Ins-Volk-Gehen der Intelligenz an. Junge Leute, vor allem ehemalige Studenten und Studentinnen, insgesamt gegen tausend, trugen die sozialistische Propaganda in alle Teile des Landes (…). Der schicksalhafte Ablauf der Verhältnisse wollte es, dass das Dorf, das fast während der ganzen Geschichte Russlands in Aufruhr war, gerade dann still wurde, als sich die Stadt für das Dorf zu interessieren begann (…). Das Dorf empfing die Propagandisten nicht nur nicht mit offenen Armen, sondern wies sie feindselig ab. Diese Tatsache führte zum dramatischen Verlauf der revolutionären Bewegung der siebziger Jahre und zu ihrem tragischen Ende.” (Trotzki, Der junge Lenin, a.a.O., S. 35f., 38f., 40)
Einer der Teilnehmer dieser Bewegung war Ossip Zetkin gewesen, der aus der Ukraine stammte, die damals zu Russland gehörte. Er hatte vor der Verfolgung fliehen müssen und studierte jetzt in Leipzig. Halbtags arbeitete er bei dem Tischler Mosermann, der ein überzeugter Sozialdemokrat war und ihn für seine Ideen gewann. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (ab 1875 umbenannt in Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) von damals, deren Hochburg Leipzig war, hatte nichts mit der Schröder-Partei von heute gemeinsam. Sie war eine revolutionäre Partei, die die ArbeiterInnen zum Kampf gegen den Kapitalismus organisieren wollte. Sie kämpfte verbissen für Sozialreformen und hoffte gleichzeitig, dass die Wirtschaftsdepression seit 1873 zum revolutionären Sturz des Kapitalismus führen werde. Die Parteiführer August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren 1871 als Gegner des Krieges gegen Frankreich ins Gefängnis geworfen worden, 1878 nutzte Reichskanzler Bismarck Attentate auf den Kaiser, mit denen die Sozialdemokratie rein gar nichts zu tun hatte, um sie brutal zu unterdrücken (“Sozialistengesetz”). Clara, die gemeinsam mit armen Weberkindern aufgewachsen war, war für die Not der ArbeiterInnen empfänglich gewesen. Über Ossip Zetkin war sie mit der Sozialdemokratie in Kontakt geraten. Auch während Bismarcks hysterischer Hetzkampagne blieb sie der Partei treu, was zu politischen Bruch mit ihrer Familie und ihrer bisherigen Förderin Auguste Schmidt führte. Als Vorzeigeschülerin des Lehrerinnenseminars hätte sie auf eine gute Stelle hoffen können, jetzt musste sie sich mit schlecht bezahlen Jobs durchschlagen, als Hauslehrerin für die Kinder von Großgrundbesitzern und Kapitalisten. Im August 1880 fand ein sozialdemokratischer Parteitag statt — in Wyden in der Schweiz wegen der Verfolgung in Deutschland. Bebel berichtete auf einer Versammlung in Leipzig darüber, die Polizei kam und verhaftete alle. Die Leute mussten wieder freigelassen werden, weil nicht bewiesen werden konnte, dass es keine Geburtstagsfeier war — bis auf Ossip, der als Ausländer ausgewiesen wurde und nach Paris ging. Clara verließ bald ebenfalls Deutschland, nach einer Zwischenstation in Österreich ging sie nach Zürich, wo die Parteizeitung “Der Sozialdemokrat” gedruckt und illegal nach Deutschland verschickt wurde. Redakteur war Eduard Bernstein, der damals noch marxistische Ideen vertrat und einige Jahre später der Vordenker des rechten Flügels der SPD wurde. Für den Schmuggel der Zeitung war Julius Motteler zuständig. 1869 hatte er die Internationale Gewerksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter in Crimmitschau in Sachsen gegründet, die erste Gewerkschaft in Deutschland, die ernsthaft versuchte, Frauen als Mitglieder und Funktionärinnen zu gewinnen. Clara half in Zürich nicht nur beim Versand des “Sozialdemokrat”, sondern führte auch viele politische Diskussionen. Aus ihnen und dem Studium von August Bebels Buch “Die Frau und der Sozialismus” erkannte sie, dass der Kampf der ArbeiterInnen für Sozialismus und der Kampf für Frauenbefreiung nicht zwei getrennte Themen sind.
Bald zog Clara aber nach Paris weiter, um mit Ossip zusammenzuleben. Sie heiratete ihn nicht formell, weil sie dann ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren hätte, führte aber für den Rest ihres Lebens seinen Namen. Am 1. August 1883 kam ihr Sohn Maxim zur Welt, anderthalb Jahre später Kostja (Konstantin). Sie hungerten sich mit Sprachunterricht und Übersetzungen durch und waren nebenbei politisch tätig. In ihrer späteren Arbeit konnte Clara aus eigener Erfahrung darüber reden, wie es ist, Lohnarbeit, Haushalt und politische Arbeit miteinander zu verbinden, Arbeitstage von 16 oder 20 Stunden zu haben. Oft mussten sie Sachen zum Pfandleiher bringen. Einmal wurden sie wegen Mietrückstand aus ihrer Wohnung geschmissen. Dazwischen fand sie noch Zeit, die klassischen Schriften des Marxismus durchzuarbeiten.
1886 verschaffte ihr das Honorar für einen längeren Artikel die Möglichkeit, nach Leipzig zu reisen und an illegalen Versammlungen teilzunehmen. Die GenossInnen wollten etwas über die Arbeiterbewegung in Frankreich hören und Clara war gezwungen, zum ersten Mal in ihrem Leben öffentliche Reden zu halten. Das bedeutete eine ungeheure Überwindung für sie. Bei ihrer ersten Rede blieb sie prompt stecken. “Ich hatte das Gefühl, als ob der Tisch mit mir in die Luft ginge. Doch die Genossen ermunterten mich freundlich, es mache nichts. Ich fand den Faden wieder und brachte meine Rede zu Ende.” [zitiert in Luise Dornemann. Clara Zetkin. Leben und Wirken. 9. Auflage, Berlin 1989, S. 71] In den folgenden Jahren wurde sie zu einer der beliebtesten Rednerinnen und hat viele großartige und historisch bedeutsame Reden gehalten.
Sie stand in Kontakt zu FührerInnen der französischen Arbeiterbewegung, zu Jules Guesde, dem Begründer des Marxismus in Frankreich, zu seinen MitkämpferInnen Paul und Laura Lafargue, letztere eine Tochter von Marx. Aber bald verschlechterte sich die materielle Lage noch mehr. Ossip erkrankte am Rückenmark, seine Beine wurden zunehmend gelähmt. Die Folge war —neben dem Leid, das das für die ganze Familie bedeutete—, dass er weniger Geld verdienen konnte, Clara also noch mehr Erwerbsarbeit machen und zugleich ihren Mann pflegen musste. Am 29. Januar 1889 starb er. Sein Tod nahm sie ungeheuer mit. Noch Jahrzehnte später konnte sie sich noch an die Details erinnern. “Ich hatte die ganze Nacht durch gewacht, gearbeitet, Ossip gepflegt, seine Medizin gegeben. Gegen 5 früh empfand ich deutlich: der Tod griff nach dem Leben. Ich war alleine mit dem Sterbenden u. den beiden kleinen Jungen. Ich weckte die Nachbarin auf dem gleichen Korridor u. bat sie, zum Arzt u. zu russischen Freunden in der Kolonie zu gehen. Der Arzt erklärte, es sei das Letzte, Ossip sei schon ohne Bewusstsein. Er könne nur eins tun: ihn ins Bewusstsein zurückrufen, aber das würde mit großen physischen und psychischen Schmerzen verbunden sein. So hielt ich es für Pflicht u. Liebesbeweis, dass ich verzichtete, den Sterbenden ins Bewusstsein zurückrufen zu lassen. Es forderte viel Selbstüberwindung von mir … Ich erlebte alles wie im Traum. Klar, bewusst war mir nur das Eine, Furchtbare, Unfassbare: Ossip stirbt. Abends nach 8 standen Herz u. Atem still. Es war mir, als müsse auch mein Leben still stehen.” (Brief an Jelena Stassowa, 20. 11. 1923, zitiert Gilbert Badia, Clara Zetkin. Eine neue Biographie. Berlin 1994, S. 30)
1889, zum hundertsten Jahrestag der Französischen Revolution, sollte in Paris ein internationaler Arbeiterkongress stattfinden. Wegen der Spaltung des französischen Sozialismus wurden zwei Kongresse daraus. Der eine wurde von den “Possibilisten” organisiert. Sie wollten “unsere Bestrebungen in kleinen Dosen verabreichen, um derart ihre Annahme einem Jeden möglich zu machen” (les rendre possible), daher der Name. Für den anderen Kongress mobilisierten die radikaleren Organisationen, die sich mehr oder weniger deutlich auf Marx beriefen. Clara trug als deutsche Vertreterin im Vorbereitungskomitee wesentlich dazu bei, dass nicht allzu viele Organisationen aus Unkenntnis der französischen Verhältnisse auf dem falschen, dem Possibilisten-Kongress landeten. Sie half wesentlich mit, dass der Kongress ein Erfolg wurde — die Gründung der Zweiten Internationale (die Erste Internationale, die Internationale Arbeiterorganisation 1864-1876, war von Marx mitbegründet und jahrelang zusammengehalten worden). Am 19. Juli hielt sie auf dem Kongress ihre erste Rede vor einem größeren Publikum über das Thema, das für Jahrzehnte ihr Hauptthema wurde: “die Befreiung der Frau”.
Proletarische Frauenbewegung und bürgerliche Frauenrechtelei
Nach dem Tod Ossips und der Aufhebung des Sozialistengesetzes in Deutschland 1890 hielt es Clara nicht mehr in Paris. Sie zog nach Stuttgart, denn in Württemberg war nicht nur das Presserecht etwas liberaler als in den meisten deutschen Bundesstaaten, die politische Betätigung von Frauen war auch erlaubter. Der sozialdemokratische Verleger Dietz plante eine zweiwöchentliche Frauenzeitschrift herauszugeben, deren Redaktion Clara übernahm: “Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”. Am 11. Januar 1892 erschien die erste Nummer. Diese Zeitung wurde in den folgenden Jahren ein Haupthebel zum Aufbau einer sozialistischen Arbeiterinnenbewegung in Deutschland. Clara Zetkin bestand auf der organisatorischen Trennung von der bürgerlichen Frauenbewegung. Nicht weil die selbst mit den Arbeiterinnen meist nichts zu tun haben wollte, sondern als Schlussfolgerung ihrer Analyse der Frauenfrage.
“Marx hat sich nie mit der Frauenfrage “an und für sich” und “als solcher” beschäftigt. Trotzdem hat er Unersetzliches, hat er das Wichtigste für den Kampf der Frau um volles Recht geleistet. Mit der materialistischen Geschichtsauffassung hat er uns zwar nicht fertige Formeln über die Frauenfrage, wohl aber Besseres gegeben: die richtige, treffsichere Methode, sie zu erforschen und zu begreifen. Erst die materialistische Geschichtsauffassung hat es uns ermöglicht, die Frauenfrage im Flusse der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, im Lichte der allgemeinen sozialen Zusammenhänge in ihrer historischen Bedingtheit und Berechtigung klar zu verstehen, ihre bewegenden und tragenden Kräfte zu erkennen, die Ziele, denen diese zutreiben, die Bedingungen, unter denen allein die aufgerollten Probleme ihre Lösung zu Enden vermögen.
Zerschmettert sank der alte Aberglaube in den Staub, dass die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft ein ewig Unwandelbares sei, das nach sittlichen Gesetzen oder göttlichen Vorschriften geschaffen. Klar enthüllte es sich, dass die Familie wie die übrigen Einrichtungen und Daseinsformen der Gesellschaft einem steten Werden und Vergehen unterworfen ist und sich wie sie mit den Wirtschaftsverhältnissen und der von ihnen getragenen Eigentumsordnung wandelt. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Produktivkräfte aber ist es, welche diese Wandlung treibt, indem sie die Produktionsweise umwälzt und sie in Gegensatz zu der Wirtschafts- und Eigentumsordnung stellt. Auf dem Untergrund der revolutionierten wirtschaftlichen Verhältnisse und Zusammenhänge vollzieht sich dann die Revolutionierung des Denkens der Menschen, ihr Streben, den gesellschaftlichen Überbau in seinen Einrichtungen den Veränderungen an der wirtschaftlichen Grundlage entsprechend umzugestalten, das in Eigentumsformen und Herrschaftsverhältnissen Erstarrte zu beseitigen. Die Kämpfe der Klassen sind es, mittels deren sich dieses Streben durchsetzt.” (“Was die Frauen Karl Marx verdanken”, Gleichheit, 25. 3. 1903)
Die für die Entstehung der Frauenfrage entscheidende Umwandlung war die Verlagerung von produktiver Tätigkeit aus der Familienwirtschaft in die Industrie seit der industriellen Revolution. Am besten zusammengefasst wurden diese Ideen vielleicht in der Resolution, die der SPD-Parteitag 1896 auf der Grundlage von Clara Zetkins Referat beschloss:
“Die moderne Frauenfrage ist das Ergebnis der durch die kapitalistische Produktionsweise gezeitigten wirtschaftlichen Umwälzungen. Sie tritt deshalb in den verschiedenen Klassen auf, die der modernen Gesellschaft eigentümlich sind, nimmt aber in jeder derselben eine andere Form an.
In der Klasse der oberen Zehntausend ist die Frau als Besitzerin eigenen Vermögens ökonomisch vom Manne unabhängig, aber als Ehefrau ist sie rechtlich ihm noch vielfach unterworfen und kann in der Regel nicht frei über ihren Besitz verfügen. Der Besitz führt in dieser Klasse zur Geldehe und zu ihrem Gegenstück, dem Ehebruch; er fördert die Auflösung des Familienlebens und enthebt die Frau ihren Pflichten als Gattin und Mutter. Im Vordergrund der Forderungen, welche die Frauen dieser Klasse stellen, steht die rechtliche Sicherung des Vermögensbesitzes und das freie Verfügungsrecht darüber für das weibliche Geschlecht. Der Emanzipationskampf dieser Frauenklasse ist ein Kampf für die Beseitigung aller sozialen Unterschiede, die nicht auf dem Vermögensbesitz beruhen. Die Verwirklichung ihrer Forderungen bedeutet die letzte Stufe der Emanzipation des Privatbesitzes.
In der kleinen und mittleren Bourgeoisie, sowie in der bürgerlichen ‚Intelligenz‘ wird die Familie durch wesentliche Begleiterscheinungen der kapitalistischen Produktion zersetzt. Es wächst die Zahl der ehelosen Frauen, die dadurch auf eigenen Verdienst angewiesen werden; es wächst die Zahl der Familien, denen der Erwerb des Mannes nicht genügt. Die weiblichen Angehörigen dieser Schichten werden zur Erwerbsarbeit auf dem Gebiet der liberalen Berufe gedrängt. Im Vordergrund ihrer Forderungen steht deshalb das Recht auf gleiche Berufstätigkeit und Berufsbildung für beide Geschlechter, für völlig freie Konkurrenz auf allen Gebieten. Der Kampf der Frauen für diese Forderungen ist ein wirtschaftlicher Interessenkampf zwischen Männern und Frauen jener Schichten. Und da jeder wirtschaftliche Interessenkampf ein politischer wird, drängt er die Frauen auch zur Forderung der politischen Gleichstellung mit dem Manne.
Im Proletariat ist es das Ausbeutungsbedürfnis des Kapitals, das die Frau zur Erwerbsarbeit zwingt und die Familie zerstört. Durch ihre Erwerbsarbeit wird die proletarische Frau dem Manne ihrer Klasse wirtschaftlich gleichgestellt. Aber diese Gleichstellung bedeutet, dass sie, wie der Proletarier, nur härter als er, vom Kapitalisten ausgebeutet wird. Der Emanzipationskampf der Proletarierinnen ist deshalb nicht ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse, sondern ein Kampf im Verein mit den Männern ihrer Klasse gegen die Kapitalistenklasse. Das nächste Ziel dieses Kampfes ist die Errichtung von Schranken gegen die kapitalistische Ausbeutung. Sein Endziel ist die politische Herrschaft des Proletariats zum Zwecke der Beseitigung der Klassenherrschaft und der Herbeiführung der sozialistischen Gesellschaft.
As Kämpferin in diesem Klassenkampf bedarf die Proletarierin ebenso der rechtlichen und politischen Gleichstellung mit dem Manne als die Klein- und Mittelbürgerin und die Frau der bürgerlichen Intelligenz. Als selbständige Arbeiterin bedarf sie ebenso der freien Verfügung über ihr Einkommen (Lohn) und über ihre Person als die Frau der großen Bourgeoisie. Aber trotz aller Berührungspunkte in rechtlichen und politischen Reformforderungen hat das Proletariat in den entscheidenden ökonomischen Interessen nichts Gemeinsames mit den Frauen der anderen Klassen. Die Emanzipation der proletarischen Frau kann deshalb nicht das Werk sein der Frauen aller Klassen, sondern ist allein das Werk des gesamten Proletariats ohne Unterschied des Geschlechts.
Die Agitation unter den proletarischen Frauen muss daher in erster Linie sozialistische Agitation sein. Ihre Hauptaufgabe ist, die proletarischen Frauen zum Klassenbewusstsein zu wecken und für den Klassenkampf zu gewinnen. Die Arbeiterin muss aus einer Schmutzkonkurrentin des Mannes zu dessen Kampfgenossin, aus einer hemmenden zu einer treibenden und tätigen Kraft im Klassenkampf werden. Die proletarische Frauenagitation muss sich also streng im Rahmen der allgemeinen Arbeiterbewegung halten und muss an alle Fragen anknüpfen, die für die Arbeiterklasse jeweilig von besonderer Wichtigkeit sind. So weit bestimmte dringende Aufgaben nicht vorliegen, ist in der Agitation für Reformen einzutreten, die im Interesse der Proletarierin als Arbeiterin und als Frau liegen. Insbesondere ist zu agitieren:
- Für die Ausdehnung des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes, namentlich für die Einführung des gesetzlichen Achtstundentages zunächst wenigstens für die weiblichen Arbeiter.
- Für die Einstellung weiblicher Fabrikinspektoren.
- Für aktiven und passiven Wahlrecht der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten zu den Gewerbegerichten.
- Für gleichen Lohn für gleiche Leistung ohne Unterschied des Geschlechts.
- Für volle politische Gleichberechtigung der Frauen mit den Männern, speziell für uneingeschränktes Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsrecht.
- Für gleiche Bildung und freie Berufstätigkeit der beiden Geschlechter.
- Für die Beseitigung der Gesindeordnungen.
Hand in Hand mit der mündlichen Agitation muss die schriftliche Agitation unter den proletarischen Frauen betrieben werden. Als vorzüglichstes Mittel, Anregung und Aufklärung unter die Massen der noch indifferenten Proletarierinnen zu tragen, empfiehlt sich die periodische Verbreitung von Flugblättern, die bestimmte, praktische Fragen behandeln. Zur weiteren Belehrung und Schulung sind besondere Broschüren geeignet, die der Proletarierin den Sozialismus näher bringen und zwar als Arbeiterin, als Frau und vor allem auch als Mutter. Die sozialdemokratische Presse muss systematisch für die wirtschaftliche und politische Aufklärung der proletarischen Frauen wirken.”
Tatsächlich stellte sich die Notwendigkeit des Kampfs für politische Rechte für die Arbeiterinnen viel schärfer als für die bürgerlichen Frauen, weil die gesetzlichen Vorschriften gegen die politische Betätigung von Frauen auf sie mit aller Schärfe angewendet wurden. Wenn bürgerliche Frauenvereine für Aufrüstung oder Kolonialismus eintraten, war das “unpolitisch”. Wenn sich Arbeiterinnen auch nur mit gewerkschaftlichen Fragen beschäftigten, konnte es passieren, dass der als Aufpasser anwesende Polizist die Versammlung für geschlossen erklärte und obendrein noch Strafen verhängt wurden. Frauenagitationskommissionen, Frauen- und Mädchenbildungsvereine wurde reihenweise verboten. Die sozialistischen Frauen ließen sich dadurch nicht ins Bockshorn jagen. Die Verfolgungen vergrößerten eher ihre Entschlossenheit. Sie betrieben jahrelang ein Katz- und Maus-Spiel mit den Behörden, wie es die gesamte Arbeiterbewegung unter dem Sozialistengesetz gelernt hatte. Wenn die Vereine aufgelöst und verboten wurden, wurden Vertrauenspersonen gewählt — denn eine Person kann man nicht auflösen oder verbieten (sie umzubringen, wie es später die Nazis und viele andere Diktaturen machten, so weit gingen die kaiserlichen Behörden dann doch nicht).
So kämpften die organisierten Arbeiterinnen für die politischen Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung viel hartnäckiger als diese selbst. Denn bei den bürgerlichen Frauen stand im Zweifelsfall die Verteidigung des kapitalistischen Profitinteressen höher als der Kampf für Frauenrechte. Wenn im Wahlkampf die sozialdemokratischen Kandidaten für die Gleichberechtigung der Frauen eintraten und die bürgerlichen Liberalen (wegen der von Clara Zetkin beschriebenen Geschlechterkonkurrenz im Bürgertum) nicht, dann riefen die bürgerlichen Frauenvereine trotzdem zur Wahl der Liberalen auf. Und auch außerhalb von Wahlkämpfen kam für sie die Klassensolidarität vor dem Geschlechterkampf. So führte die kapitalistische Realität dazu, dass auch beim Kampf um die politischen Frauenrechte die Zusammenarbeit mit der bürgerlichen “Frauenrechtelei” nur punktuell, mit den männlichen Arbeitern aber intensiv war.
Auch wenn bürgerliche Frauenrechtlerinnen gelegentlich für Arbeiterinnenschutz und Sozialreformen eintraten, führte das nicht zu enger Zusammenarbeit. Wenn die einen mit den Forderungen den Kapitalismus netter machen und damit festigen wollten und die anderen die Kampffähigkeit der Arbeiterinnen zum Sturz des Kapitalismus durch bessere Arbeitsbedingungen erhöhen wollten, dann war der Vorrat an Gemeinsamkeiten nicht groß.
Denn wenn in der politischen Arbeit der Kampf für demokratische Rechte, für kürzere Arbeitszeiten, höhere Löhne etc. immer wieder im Vordergrund stand, so war es Clara Zetkin klar, dass dies nur der Ausgangspunkt für den Kampf um viel weitergehende Veränderungen sein konnte. Sie war fest davon überzeugt, dass Frauen nicht einfach nur abstrakt Menschen sind, sondern weibliche Menschen, und dass die Entfaltung der Persönlichkeit der Frauen nach der Überwindung der Frauenunterdrückung die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht verringern, sondern vergrößern werde. (Ob sie in diesem Punkt Recht hatte oder ob die Beseitigung von Frauenunterdrückung, Doppelbelastung etc. die Unterschiede verringern wird, das können wir der Zukunft überlassen.) Das bedeutete für sie, dass Mutterschaft für sie einen großen Stellenwert hatte. (Als kurz vor dem Ersten Weltkrieg in der deutschen Arbeiterbewegung die Diskussion um die Geburtenkontrolle entflammte, betonte sie, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen im Kapitalismus viele Frauen fortpflanzungsunfähig machen. Sie verteidigte zwar das Recht auf Empfängnisverhütung gegen staatliche Eingriffe, plädierte aber nicht dafür, von diesem Recht Gebrauch zu machen.) Sie betonte zwar, dass die wirtschaftliche Arbeit in der Familie durch die kapitalistische Entwicklung zurückgegangen ist, zugleich stiegen aber die Anforderungen an das, was später “Beziehungsarbeit” genannt wurde.
“Der moderne Mensch sucht in der Liebe, in dem Ehe- und Familienleben einen höheren, vielseitigeren und reicheren Inhalt als seine Voreltern. Soll die Frau den höheren Aufgaben als Gattin und Mutter genügen, so muss sie nicht nur eine starke, harmonisch entwickelte Persönlichkeit sein, ihr Ich muss vielmehr auch die Möglichkeit haben, sich in der Familie ausleben zu können. Die Frau, die heute als Erwerbende den besten Teil ihrer Kraft und Zeit der Berufsarbeit widmen muss, kann im Allgemeinen den Kindern und dem Manne nicht geben, was ihnen gebührt. In schmerzensreichen Konflikten muss sie tagtäglich eine Antwort auf die Frage suchen: Was schulde ich der Familie, was dem Berufe, der Welt?” (Der Student und das Weib, 1899)
Das hieß natürlich nicht: zurück an den Herd! Denn wie soll eine Frau, die in den Einzelhaushalt eingepfercht ist, sich zu der Persönlichkeit entwickeln, die diese Beziehungsarbeit leisten kann?
“Den Beruf der Mutter feiert man als den höchsten und schwierigsten aller Berufe. Aber reif und würdig für die Erfüllung dieses Berufs soll jedes Gänschen sein, das gestern mit der Puppe spielte und heute seine “ewig weiblichen” Reize auf dem Markte des Balles ausbietet. Reif und würdig für den Beruf, Menschen zu bilden! (…) Die Frau ist “begehrlich” geworden. Sie will nicht bloß die treue Wärterin und Hüterin des Kindes sein, sie setzt ihren Stolz darin, die Bildnerin des Menschenlebens zu werden, das sich aus ihrem Schoße ringt. Zur klaren, starken, freien, in sich gefestigten Individualität trachtet sie sich durchzukämpfen, damit sie den Keim zum Vollmenschentum, das Streben nach Vollmenschentum als köstlichstes Gut auf ihre Kinder überträgt. Als kraftvolle Persönlichkeit will sie lernend, wirkend, genießend in der Welt und im Hause stehen, um ihre Kinder zu starken Persönlichkeiten von ungebrochener Eigenart zu erziehen, aber auch zu weitblickenden, weitherzigen Gesellschaftsbürgern. Die Kultur ihrer Zeit soll in ihren Pulsen klopfen, in ihrem Blute kreisen, damit sie eine lebendige Kraft im Leben ihrer Kinder bleibe, statt zur Reminiszenz zu werden an die Tage der kindlichen Hilflosigkeit und sorgenden Muttertreue. Heraus deshalb mit der Frau aus der Beschränktheit des Nichts-als-Hauswirtschaft! Die Pfade frei, auf denen das weibliche Geschlecht zu den Bildungsquellen wandern kann!“
Dieser Widerspruch lässt sich nur überwinden durch die gesellschaftliche Arbeit von Männern und Frauen und drastische Arbeitszeitverkürzung, die beiden die Kraft für “Beziehungsarbeit” lässt. Das wird sich aber nur im Sozialismus verwirklichen lassen.
“Auch bezüglich der Frauenfrage und ihrer komplizierten Probleme liegt das Heil nicht in der sozialen Reaktion, sondern in der sozialen Revolution. Nicht die Frauenrechtelei, nur die Umwandlung der Gesellschaft aus einer kapitalistischen in eine sozialistische löst die Konflikte, welche unter der Herrschaft des Kapitalismus durch die Verwirklichung der geschichtlich bedingten Ziele der Frauenbewegung geschaffen werden. (…) Erschließt die Berufstätigkeit der Frau die Welt, so gibt sie dem Manne das Heim zurück. Denn wenn die Frau auf allen Gebieten menschlichen Schaffens als Mitarbeitende neben dem Manne steht, so gewinnt dieser Zeit und Kraft, als Mitarbeitender beim Ausbau des Helms und der Erziehung der Kinder neben der Frau zuwirken. Bereicherung und Vertiefung der Persönlichkeit der Frau und ihres Lebensinhalts; Entlastung des Mannes und die Möglichkeit vielseitigeren Auslebens für ihn; höhere, harmonischere Gestaltung des Familienlebens; Mehrung des materiellen und kulturellen Besitzes der Gesamtheit — das sind Errungenschaften, die in der sozialistischen Gesellschaft mit der Berufstätigkeit des weiblichen Geschlechts auf allen Gebieten verknüpft sind.
Herrscht das tote Kapital nicht mehr über den lebendigen Menschen, schlägt der Besitz nicht länger gleichsam die Person tot; steht das Wirtschaftsleben der Gesellschaft nicht mehr im Zeichen der Ausbeutung und Konkurrenz, so dass der Kampf ums Dasein in ungezügelter Wildheit einherbraust, der einzelne nur emporzusteigen vermag über die Leiber Tausender, die im brutalen Ringen zu Boden getreten werden: so saugt auch die Berufsarbeit nicht länger den ganzen Menschen, den besten Teil des Menschen auf. In der sozialistischen Gesellschaft kann mithin die Frau berufstätig sein, ohne ihr Ausleben als Weib, ohne die Familienpflichten opfern zu müssen. Andererseits schaltet und waltet sie im Heim, ohne dadurch der sozialen Herrschaft des Mannes unterworfen zu werden. Mit der Aufhebung des Einzelhaushalts als einer produzierenden Einheit wird die Familie zu einem rein sittlichen Ganzen, das auf der Gleichberechtigung von Frau und Mann beruht. Das häusliche Tun der Frau trägt nun nicht mehr das Gepräge unfreier Arbeit im Dienste des Mannes, es wird als freie gesellschaftliche Tätigkeit gewertet. Die Berufsarbeit und das Wirken der Frau in der Familie schließen sich zum harmonischen Ganzen zusammen, sicherlich auch in der sozialistischen Gesellschaft nicht ohne heißes Ringen und Kämpfen der Frau um Klarheit über die Grenze ihrer Betätigung in Heim und Welt. Aber ohne dass diese Kämpfe unter dem Zwange äußerer Notwendigkeiten stattfinden und durch sie entschieden werden. Sie bleiben rein sittliche Konflikte, welche die Frau in sittlicher Reife und Freiheit durchringt.”
Alle zwei Wochen brachte die Gleichheit Artikel über die Lage der Arbeiterinnen, über gewerkschaftliche Kämpfe, über die behördliche Verfolgung der proletarischen Frauenbewegung, Polemiken mit der bürgerlichen Frauenbewegung und deren Fürsprecherinnen in den eigenen Reihen. Im Laufe der Jahre stiegen Auflage und Umfang. Es kamen Beilagen dazu, die praktische Tipps für Erziehung und Hausarbeit enthielten, um den Leserinnen zu helfen, die Dreifachbelastung von Lohn-, Haus- und politischer Arbeit ein winziges bisschen besser in den Griff zu bekommen — Ersatz für Sozialreformen und schließlich für den Sozialismus konnte das natürlich nicht sein.
Clara Zetkin verwendete auch auf das Feuilleton große Mühe, um den Arbeiterinnen die besten Produkte der bürgerlichen Literatur, aber auch die Anfänge von Arbeiterliteratur zugänglich zu machen. 1896 hatten streikende Studierende der Stuttgarter Kunstschule (1901 wurde die Kunstakademie daraus) sich an Clara Zetkin um Hilfe gewandt. Einer der Streikführer, Friedrich Zundel, verliebte sich in sie. Auch wenn es viele Spießer innerhalb und außerhalb der SPD entsetzte, heiratete Clara Zetkin den 18 Jahre jüngeren Mann. (Entgegen allen Unkenrufen hielt die Beziehung bis in den Ersten Weltkrieg, der auch viele “normalere” Beziehungen über den Haufen geworfen hat.) Für sie bedeutete die Beziehung zu dem Maler, der sich auch mit Gedichten versucht hatte und im Freundeskreis “der Dichter” genannt wurde, einen verstärkten Anreiz, sich mit der Frage der Kunst und seiner Bedeutung für die Arbeiterklasse und den Sozialismus zu beschäftigen. Das Ergebnis davon waren Vorträge und Artikel über die Kunst im allgemeinen und zahlreiche einzelne Kunstwerke.
Da Zundel wegen seiner Rolle als Streikführer von der Kunstschule geflogen war und seine Arbeitsmöglichkeit verloren hatte, war ihre finanzielle Lage zunächst sehr angespannt. Allmählich bekam Zundel einen Ruf und Aufträge, die es der Familie ermöglichten, nach Sillenbuch zu ziehen, damals noch ein ziemlich abgelegener Vorort von Stuttgart. Für die auf dem Dorf aufgewachsene Clara war das Leben idyllisch. Als es mit Zundel weiter aufwärts ging, konnte er sich 1907 sogar ein Auto zulegen, durch das der Kontakt mit den GenossInnen in Stuttgart und Reisen zu politischen Versammlungen im Umland erleichtert wurden.
Das war vorteilhaft, weil Clara Zetkin nicht nur in der proletarischen Frauenbewegung in ganz Deutschland sondern auch in der Arbeiterbewegung insgesamt eine wachsende Bedeutung erlangte.
Gegen den Revisionismus
Clara Zetkin hatte zunächst ihre Hauptaufgabe darin gesehen, die marxistischen Ideen, die sich in der männlichen Arbeiterbewegung in Deutschland unter dem Sozialistengesetz 1878-90 durchgesetzt hatten, auch unter den Arbeiterinnen und Arbeiter-Ehefrauen zu verbreiten, die damals im großen und ganzen politisch rückständiger waren als die Männer: viele hatten die Ideologie noch verinnerlicht, dass die Frau in erster Linie Hausfrau sei und sich für die Gesellschaft nicht zu interessieren brauche. Auch viele Frauen, die in die Fabrik gingen, sahen das als Zwischenphase und Notbehelf an und sahen keinen Grund, sich in der Arbeiterbewegung zu engagieren.
Zunehmend musste sie aber erkennen, dass auch bei den Männern nicht alles klar war. 1895 auf dem SPD-Parteitag in Breslau trat sie zum ersten Mal als eine der SprecherInnen der Parteilinken auf: der rechte Flügel wollte ein Agrarprogramm beschließen, das den Kleinbauern die künstliche Konservierung ihres Privateigentums versprechen sollte. Statt derartiger unhaltbarer Versprechungen bot das marxistische Steuerprogramm (Besteuerung der Reichen statt der Masse der Bevölkerung) und der Kampf gegen Militarismus und Krieg den Bauern mehr als jede bürgerliche Partei mit demagogischer Bauernfängerei versprechen konnte. Da die Hochburg der Rechten Süddeutschland (Baden, Württemberg, Bayern) war und sie sich auf die kleinbäuerlich-kleinbürgerliche Wirtschaftsstruktur dieser Länder stützten, war es wichtig, dass auch die auf dem Dorf aufgewachsene und in Süddeutschland tätige Clara Zetkin gegen sie auftrat.
In den nächsten Jahren wurden diese drei Länder in allen politischen Streitfragen Hochburgen des rechten Parteiflügels. Immer wieder waren die norddeutschen Sozialdemokraten aus dem Häuschen, weil im Süden die Abgeordneten für den Landeshaushalt gestimmt hatten oder beim König oder Großherzog einen unterwürfig-einschleimenden Besuch absolviert hatten. Dass in diesem Meer des süddeutschen Opportunismus Stuttgart zu einer der wenigen roten Inseln wurde, lag sicher auch an wirtschaftlichen Ursachen: es entstanden wenigstens ein paar Großbetriebe wie Daimler und Bosch, deren Beschäftigte durch ihre Arbeitssituation radikalisiert wurden. Es lag aber auch an der jahrelangen Arbeit, die Clara Zetkin und bald auch eine Reihe von mit ihr zusammenarbeitenden örtlichen FunktionärInnen leisteten.
Neben diesem “taktischen” Opportunismus fand kurz vor der Jahrhundertwende auch ein Angriff auf die theoretischen Grundlagen der SPD-Politik statt: der “Revisionismus” Eduard Bernsteins (der meinte, ein paar Grundannahmen des Marxismus müssten revidiert werden). Bernsteins Ideen waren kalter Kaffee, alles war schon von bürgerlichen Sozialreformern vor ihm vertreten worden. Aufmerksamkeit erregte nur, dass Bernstein jetzt das selbe sagte, der unter dem Sozialistengesetz der Redakteur der illegalen Parteizeitung gewesen war und deshalb immer noch im Exil in England leben musste (nachdem er aber seine neuen Ansichten vertrat, durfte er bald nach Deutschland zurückkehren, um mehr Schaden anrichten zu können). Die Geschichte der letzten hundert Jahre hat Bernsteins Ideen völlig widerlegt. Eine seiner Hauptthesen war, dass der von Marx vorhergesagte Rückgang der Kleinunternehmer nicht stattfinde; damals waren noch mehr Erwerbstätige selbständig als lohnabhängig und Betriebe mit ein paar Hundert Beschäftigten galten als Großbetriebe. Bernsteins Prognose, dass der Kapitalismus keine Wirtschaftskrisen mehr haben werde, hielt anderthalb Jahre. Und statt langsamem stetigem Fortschritt vom Kaiserreich zum Sozialismus gab es die Revolution 1918-23, zwei Weltkriege und den Faschismus, eine stalinistische Karikatur auf den Sozialismus in der DDR und deren Zusammenbruch 1989 … und den Sozialismus haben wir immer noch nicht erreicht. Was auch immer die Zukunft an revolutionären Sprüngen vorwärts und konterrevolutionären Sprüngen rückwärts noch bringen wird, ohne Sprünge wird sie auf keinen Fall ablaufen.
Als Bernstein mit seinen Ideen auftrat zögerten der Parteichef Bebel und der Cheftheoretiker Kautsky, gegen ihren alten Mitstreiter aufzutreten. Für Clara Zetkin, die einmal zu Bernstein aufgeschaut hatte, war der Bruch nicht weniger schmerzlich, aber sie zögerte nicht, die “Gleichheit” zu einem der Sprachrohre im Kampf gegen Bernstein zu machen. Die wichtigste Folge war aber sicher, dass Clara Zetkin auf die Verfasserin der besten Streitschrift gegen Bernstein aufmerksam wurde und sich mit ihr befreundete: Rosa Luxemburg
Seite an Seite mit Rosa Luxemburg
Die Zusammenarbeit mit Rosa Luxemburg wurde für Clara Zetkins weitere Entwicklung ungeheuer wichtig. Nicht nur, weil die Beziehung beiden menschlich viel gebracht hat. Vor allem, weil das beginnende Zeitalter des Imperialismus politisch eine gewaltige Herausforderung für den Marxismus darstellte. Clara Zetkin hatte natürlich die marxistische Methode intensiv studiert und ihn eigenständig auf die Frauenfrage und andere Themengebiete angewendet. Aber das Zeitalter des Imperialismus bedeutete eine so tiefgreifende Veränderung des Kapitalismus und der Kampfbedingungen für die Arbeiterinnen, dass er weit mehr als nur ein neues Themengebiet war. Dass dabei die meisten Impulse von Rosa Luxemburg ausgingen, zeigt deren Genialität, schmälert aber nicht die Bedeutung der Mitarbeit Clara Zetkins. Dass diese so bereitwillig die intellektuelle Führung der 13 Jahre Jüngeren akzeptierte, zeigt ihre menschliche Größe.
Der Kampf gegen die mit dem Imperialismus verbundene Aufrüstung und Kriegsvorbereitung nahm schon früh einen breiten Raum in der Arbeit Clara Zetkins und den Spalten der Gleichheit ein. Der deutsche Imperialismus führte einen doppelten Rüstungswettlauf, sowohl beim Landheer (vor allem mit Frankreich) und bei der Marine (mit England). Die Kosten dafür sollte vor allem die Masse der Bevölkerung durch immer neue indirekte Steuern aufbringen. Clara erkannte, dass das ein wichtiges Thema für die Politisierung derjenigen Frauen der Arbeiterklasse war, die sich noch nicht als Arbeiterinnen betrachteten. Denn die durch Steuern (und Zölle) erhöhten Lebensmittelpreise spürten sie beim Einkaufen als erste.
Der Imperialismus brachte im wirtschaftlichen Bereich (in krassem Gegensatz zu Bernsteins Behauptungen) eine starke Konzentration mit sich. Industriebetriebe und Banken schlossen sich zu großen Konzernen (damals meist Trusts genannt) zusammen. Die Verflechtung zwischen Banken und Industriebetrieben durch Kapitalbeteiligungen, Aufsichtsratsposten nahm zu. Als Gegengewicht gegen die erstarkten Gewerkschaften schlossen sich die Kapitalisten zu Arbeitgeberverbänden zusammen. Eine Folge war, dass die politischen Kontroversen innerhalb der kapitalistischen Parteien zurückgingen und die SPD bei ihren Reformvorschlägen im Reichstag immer seltener Bündnispartner fand. Die Zahl der SPD-Abgeordneten nahm zwar (bis auf einen Rückschlag 1907) fast immer zu, sie konnten aber immer weniger an praktischen Verbesserungen erreichen. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet bissen die Gewerkschaften bei den besser organisierten Unternehmern immer mehr auf Granit. Auf Streiks reagierten sie mit Massenaussperrungen. Obwohl die kapitalistische Wirtschaft 1896-1913 einen nur von kurzen Krisen unterbrochenen Boom erlebte, erreichte die Masse der ArbeiterInnen weniger Verbesserungen als in der Depressionsperiode 1873-96.
Die rechten Sozialdemokraten leugneten einerseits diese Tatsachen und liefen andererseits dem nach rechts abdriftenden Bürgertum hinterher. Rosa Luxemburg und Clara Zetkin dagegen traten für radikalere Kampfmethoden ein. Die Wirtschaftskonzentration hatte ohnehin dazu geführt, dass an Streiks viel mehr ArbeiterInnen beteiligt waren als früher. Als Anfang 1905 200.000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet in den Streik traten, war das für Deutschland eine neue Dimension an Massenkämpfen. Die erste russische Revolution im gleichen Jahr machte den politischen Massenstreik zu einem der wichtigsten Kampfmittel. Rosa Luxemburgs Broschüre “Massenstreik, Partei und Gewerkschaften”, in der sie die Lehren daraus zog, wurde in der SPD diskutiert. Clara Zetkin kämpfte in der “Gleichheit” für den Massenstreik. Auf dem Jenaer Parteitag 1905 und Mannheimer Parteitag 1906 beschloss die SPD, dass sie unter Umständen nicht ganz ausschließen könnte, möglicherweise auch zu dieser Waffe zu greifen, besonders wenn das allgemeine Reichstagswahlrecht bedroht wäre.
1908 und 1910 stellte sich die Frage konkret im Zusammenhang mit dem preußischen Landtagswahlrecht. Dort galt (wie in den meisten Ländern und Kommunen) immer noch kein allgemeines Männerwahlrecht. In beiden Jahren gab es Kampagnen für das allgemeine Wahlrecht mit Massenversammlungen und -demonstrationen. Rosa Luxemburg und Clara Zetkin setzten sich dafür ein, den Kampf bis zu Massenstreiks zu steigern, aber die SPD-Führung blockte das ab. Immer mehr zeigte sich, dass zwar in der Theorie die Mehrheit der SPD gegen Bernsteins Revisionismus stand, in der Praxis aber Rechte und Zentrum immer häufiger gegen die Linken zusammenstanden.
Das war für Clara Zetkin schmerzhaft. Zusätzlich belastet war sie durch ihre gesundheitlichen Probleme. 1900 hatte sie ihre erste Augenoperation gehabt. Mitte November 1905 war eine zweite Operation nötig, bis Ostern 1906 musste sie im Krankenhaus bleiben
Frauenwahlrecht, Fraueninternationale, Frauentag
Mit der Zunahme von Wahlrechtskämpfen hatte die Frage des Frauenwahlrechts eine größere Bedeutung bekommen. Die deutsche Sozialdemokratie hatte sie schon längst im Programm gehabt, Bebel hatte sie im Reichstag vertreten, in Wahlkämpfen war die Forderung erhoben worden. Aber eine Kampagne zu diesem Thema hatte bisher niemand geführt. Jetzt stellte sich die Frage, ob in Kampagnen für eine Demokratisierung des Wahlrechts das Frauenwahlrecht auch gefordert werden sollte. Die österreichische Sozialdemokratie hatte 1905 eine erfolgreiche Kampagne für das allgemeine Männerwahlrecht geführt, das Frauenwahlrecht dabei aber nicht gefordert. Clara Zetkin stimmte zu, dass das Frauenwahlrecht in dieser Kampagne nicht zu erreichen gewesen wäre, bestand aber darauf, dass die Forderung trotzdem hätte aufgestellt werden müssen.
“Was den jeweiligen erreichbaren Siegespreis der sozialdemokratischen Wahlrechtskämpfe anbelangt, so wird er meiner Meinung nach um so vollständiger sein, je breiter die Grundlage ist, auf der das ringende Proletariat steht, je mächtiger es in der Folge zum Schlage auszuholen vermag. Die Breite und Festigkeit der Grundlage des Wahlrechtskampfes und seine Stoßkraft wachsen aber in dem Maße, als die Sozialdemokratie für ihr volles Wahlrechtsprogramm ankämpft (…) Diese Voraussetzung lässt die Zahl der sozial Unterdrückten und Rechtlosen anschwellen, deren Interessen und Rechte die Sozialdemokratie verteidigt; sie vermehrt daher den sozialdemokratischen Heerbann und steigert dessen Ausdauer und Begeisterung.” (Frauenstimmrecht und Wahlrechtskampf in Österreich, Die Gleichheit, 31. Oktober 1906)
Diese Gedanken gelten nicht nur für das Frauenwahlrecht, sondern für jeden Kampf um Verbesserungen. Entscheidend ist nicht, ob Forderungen für die Herrschenden annehmbar sind, sondern ob sie bei den arbeitenden Massen Begeisterung und Kampfbereitschaft wecken.
1907 war wieder ein Kongress der Zweiten Internationale. Diesmal hatte Clara Zetkin keine ihre Gesundheit belastenden weiten Reisen zu unternehmen, denn er fand in Stuttgart statt. Einen Tag vor dem Kongress, am 17. August 1907, fand die erste Internationale Sozialistische Frauenkonferenz statt, mit 58 Teilnehmerinnen aus 15 Ländern. Nach Berichten über den Stand der proletarischen Frauenbewegung in den verschiedenen Ländern gab es eine Diskussion über die bevorstehenden Aufgaben. Es wurde die Bildung eines internationalen Frauensekretariats mit Clara Zetkin als Sekretärin beschlossen. Die “Gleichheit” sollte das internationale Organ der Bewegung sein.
Diese Beschlüsse waren eine gute Ausgangsbasis, um die internationale sozialistische Frauenbewegung aufzubauen. Vor dem nächsten Sozialistenkongress, 1910 in Kopenhagen, fand wieder eine Frauenkonferenz statt. Auf ihr wurde deutlich, wie sich die internationale Zusammenarbeit in den letzten drei Jahren vertieft hatte. Auf Clara Zetkins Antrag wurde beschlossen, jedes Jahr einen internationalen Frauentag zu organisieren, mit dem Frauenwahlrecht als Hauptforderung. Er fand zum ersten Mal am 19. März 1911 statt (das Datum schwankte zunächst von Jahr zu Jahr, am 8. März fand er erstmals 1914 statt). Über eine Million Frauen demonstrierten in Deutschland, Österreich, Dänemark und der Schweiz. In den folgenden Jahren wurde die Idee in weiteren Ländern umgesetzt.
Während es auf internationaler Ebene solche Fortschritte gab, nahmen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie die Konflikte zu. Ein Hauptkonflikt begann mit einem großen Erfolg: als 1908 das Vereinsgesetz geändert wurde, wurde Frauen die Mitgliedschaft in politischen Organisationen erlaubt. Damit konnten Frauen in der SPD gleichberechtigt Mitglieder werden. Bisher hatten alle zwei Jahre eigene Frauenkonferenzen vor den SPD-Parteitagen stattgefunden, um die Mitwirkung der Frauen zu sichern, die politisch zur Sozialdemokratie gehörten, formell aber nicht Mitglied sein durften. Turnusmäßig hätte die nächste Frauenkonferenz 1910 stattgefunden. Der SPD-Vorstand meinte, das sei nicht mehr notwendig. Luise Zietz, die als Frauenvertreterin in den Parteivorstand gewählt worden war (Clara Zetkin war vielen Funktionären zu radikal gewesen), stimmte dem zu, ohne das mit den organisierten Frauen zu diskutieren.
Clara Zetkin fand die Entscheidung inhaltlich falsch: sie war die entschiedenste Vorkämpferin eines einheitlichen Kampfes von Männern und Frauen der Arbeiterklasse für ihre gemeinsamen Interessen, aber gerade um das zu erreichen, musste man die besonderen Lebensverhältnisse der Frauen der Arbeiterklasse und die bestehenden Unterschiede im Bewusstsein berücksichtigen. Dazu waren auch eigene Strukturen der proletarischen Frauenbewegung notwendig, die genügend Bewegungsfreiheit innerhalb der Gesamtpartei haben mussten, um ihre Aufgabe erfüllen zu können.
Noch mehr lehnte sie aber das undemokratische Verfahren ab, das für sie Ausdruck der Bürokratisierung der SPD und der Übertragung dieser Bürokratie auf die Frauenbewegung war.
“Wenn dieser Geist bürokratischer Selbstherrlichkeit beginnt, in Führerinnen unserer Bewegung derart zu spuken, wie es das Um und Auf der umstrittenen Frage erwiesen hat: müssen die Genossinnen zur Abwehr gerufen werden, müssen sie ihm die stärkste Bekundung ihres demokratischen Mitbestimmungsrechts entgegenstellen. Die Dinge haben ihre eigene Logik, die sich unabhängig von dem Willen der Menschen durchsetzt. Ein Umsichgreifen des gekennzeichneten Geistes würde zur gefährlichen Unterbindung des frischen geistigen Lebens unserer Frauenbewegung führen.” (Clara Zetkin in der “Gleichheit” Nr. 16 vom 9. 5. 1910)
Aus diesem Grund eröffnete sie mit einem Artikel “Notwendige Erörterung” in der Gleichheit vom 17. Januar die Debatte, an der sich in den folgenden Monaten (bis zum 6. Juni) zahlreiche Genossinnen aus verschiedenen Orten beteiligten. In der Frauenkonferenz-Frage erreichte die Diskussion zumindest die Zusicherung, dass 1911 eine Frauenkonferenz stattfinden werde.
Der Erste Weltkrieg
Der Streit um die Frauenkonferenz war symptomatisch dafür, dass der Kampf zwischen der Parteiführung und den Linken in der SPD härter wurde. Das wurde offensichtlich, als 1911 die zweite Marokkokrise die Menschheit an den Rand eines Weltkriegs brachte. Damals hatte die SPD-Führung Protestaktionen abgelehnt. Erst als die Frauen und linke Ortsverbände Proteste organisierten, zog die Gesamtpartei nach. Die 200.000 DemonstrantInnen im Treptower Park in Berlin zeigten den Friedenswillen der organisierten Arbeiterbewegung. Rosa Luxemburg, die als Vertreterin der polnischen Sozialdemokratie im Büro der Zweiten Internationale saß, enthüllte, dass SPD-Vorstandsmitglied Molkenbuhr sich gegen Antikriegsproteste ausgesprochen hatte, weil das der SPD bei den Wahlen Stimmen kosten könne. Darauf organisierte die SPD-Führung eine Hetze gegen … Rosa Luxemburg wegen ihrer “Indiskretion”. Sie wurde ebenso wie weitere Linke immer mehr aus den Redaktionen sozialdemokratischer Zeitungen und Zeitschriften gedrängt. Damit wuchs die Bedeutung der “Gleichheit” als auflagenstärkstem Sprachrohr der Linken (die Zahl der AbonnentInnen war 1905 bis 1914 von 28.700 auf 125.000 gestiegen).
Trotz allem war es für die Linken ein Schock, dass bei Kriegsbeginn 1914 die überwältigende Mehrheit der SPD-Reichstagsfraktion dafür war, Kriegskrediten zuzustimmen. Die wenigen Linken beugten sich am 4. August 1914 der Fraktionsdisziplin, selbst Karl Liebknecht.
Liebknecht, der Sohn von Wilhelm Liebknecht, dem 1900 gestorbenen, neben Bebel bedeutendsten Führer der deutschen Sozialdemokratie, hatte sich als Anwalt (z.B. von revolutionären russischen Flüchtlingen) einen Namen gemacht. Er hatte sich für den Aufbau einer sozialistischen Jugendbewegung engagiert. 1907 war auf seine Initiative neben einer sozialistischen Frauen- auch eine sozialistische Jugendinternationale gegründet worden. Im gleichen Jahr war sein Buch “Militarismus und Antimilitarismus” erschienen, für das er für anderthalb Jahre in den Knast wanderte. 1908 kam er ins preußische Abgeordnetenhaus und 1912 in den Reichstag, wo er auf dem linken Flügel der SPD stand. Da Clara Zetkin die sozialistische Jugendbewegung sehr am Herzen lag, hatte sie Liebknecht in dieser Arbeit unterstützt. Im Kampf gegen Militarismus und für Massenstreiks waren sie auch einig.
Dass die SPD-Fraktion geschlossen für die Kriegskredite gestimmt hatte, hatte auf die Linken in der Sozialdemokratie in Deutschland und international demoralisierend gewirkt. Jetzt versuchten sie, den Eindruck zu korrigieren, indem sie bekannt zu machen versuchten, dass bei der fraktionsinternen Abstimmung 14 mit Nein gestimmt hatten. Zusammen mit Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring schrieb sie eine Erklärung an die internationale Presse, indem sie über ihre Ablehnung der neuen “Parteilinie” informierten. Liebknecht kam nach Stuttgart und beriet sich mit Clara Zetkin und örtlichen Funktionären. Sie verlangten von ihm, den nächsten Kriegskredit unbedingt auch im Reichstagsplenum abzulehnen.
In ihrer Eigenschaft als Internationale Frauensekretärin bereitete Clara Zetkin eine internationale Frauenkonferenz vor, die am 26. März in Bern begann. Es war das erste Treffen nach Kriegsausbruch, an dem TeilnehmerInnen aus den einander bekriegenden und neutralen Ländern anwesend waren. In einem von Clara Zetkin verfassten Aufruf wurde erklärt, dass der Krieg nicht der “Vaterlandsverteidigung”, sondern kapitalistischen Profitinteressen dient. Er endete “Nieder mit dem Kapitalismus, der dem Reichtum und der Macht der Besitzenden Hekatomben von Menschen opfert! Nieder mit dem Kriege! Durch zum Sozialismus!” Dieser Aufruf wurde in der Folgezeit in Hunderttausenden Exemplaren (allein in Deutschland 200.000) illegal verbreitet. Im Juli machte die Polizei eine Haussuchung bei ihr. Während sie die Beamten hilfsbereit durch Haus führte, reichte ihre Sekretärin die illegalen Flugblätter aus dem Bürofenster dem Gärtner zu, der sie im Garten vergrub. Kurz danach wurde sie trotzdem festgenommen und kam ins Untersuchungsgefängnis nach Karlsruhe. Dieser Schuss ging nach hinten los. Die Festnahme löste Proteste in ganz Deutschland und international aus. Für viele SozialdemokratInnen, die bisher den Kriegskurs zähneknirschend mitgetragen hatten, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Am 12. Oktober wurde sie “aus Gesundheitsgründen” aus der Untersuchungshaft freigelassen.
Die folgenden Kriegsjahre waren für sie eine schwere Zeit. Die beiden Söhne waren eingezogen, ebenso viele Freunde. Einige von ihnen fielen, wie ihr Arzt und Freund Hans Diefenbach. Ihr Mann hatte keine Aufträge. Sie musste mit ihrem Redakteurinnengehalt bei steigenden Preisen ihre Familie durchfüttern und GenossInnen unterstützen, denen es noch schlechter ging. Immer wieder kamen GenossInnen wegen ihrer politischen Arbeit ins Gefängnis. Sie wurde beschattet. Genossen, die sie besuchten, wurden an die Front geschickt. Da sie mit ihrer angeschlagenen Gesundheit schlecht mit Spitzeln Katz und Maus spielen konnte, konnte sie nicht an den illegalen Treffen teilnehmen. Sie wirkte zwar an der illegalen Organisation mit, die Liebknecht, Luxemburg und andere aufbauten (erst “Gruppe Internationale”, dann “Spartakusgruppe”, schließlich “Spartakusbund” genannt), aber nicht so intensiv, wie sie das gewünscht hätte.
Revolution in Russland und Deutschland
Am 8. März (nach dem damaligen russischen Kalender: 23. Februar) 1917 war eine Demonstration zu dem von ihr “erfundenen” Frauentag der Beginn der russischen Revolution. Die Demonstrationen steigerten sich zum Generalstreik, die Truppen liefen auf die Seite der DemonstrantInnen über. Nach wenigen Tagen war der russische Zar gestürzt. Aber an die Regierung kam zunächst das imperialistische Bürgertum und ihre “sozialistischen” Anhängsel (Menschewiki und Sozialrevolutionäre), die für die Fortsetzung des Krieges waren. Diese “provisorische Regierung” war nicht in der Lage, die Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung zu befriedigen. Deshalb wurden die Bolschewiki innerhalb der in der Revolution entstandenen ArbeiterInnen- und Soldatenräte (Sowjets) von einer kleinen Minderheit zur Mehrheit. Am 6./7. November (nach dem damaligen russischen Kalender im Oktober, daher “Oktoberrevolution” genannt) stürzten die ArbeiterInnen- und Soldatenräte die “provisorische Regierung”. Ein Rat der Volkskommissare mit Lenin und Trotzki an der Spitze wurde gebildet. Das Land der Großgrundbesitzer wurde verstaatlicht und den BäuerInnen zur Nutzung übergeben, in den Fabriken Arbeiterkontrolle über die Produktion eingeführt und allen kriegführenden Ländern ein Frieden angeboten.
Die Revolution breitete sich schnell in Russland aus, aber der deutsche Imperialismus versuchte, die Schwächung seines Kriegsgegners zu nutzen. In Brest-Litowsk musste Russland einen Friedensvertrag unterschreiben, der einen großen Teil des Landes dem deutschen Imperialismus auslieferte. Nachdem die alte zaristische Armee in alle Winde zerstreut war (die Bauern-Soldaten waren heimgelaufen, weil sie genug vom Morden hatten und ihren Anteil am ehemaligen Großgrundbesitzer-Land haben wollten), musste eine neue Armee aufgebaut werden, um sich gegen imperialistische Intervention und die konterrevolutionären Bestrebungen der gestürzten Großgrundbesitzer und Kapitalisten zu verteidigen.
Clara Zetkin unterstützte die Oktoberrevolution ebenso begeistert wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Franz Mehring. Aber neben dem Spartakusbund hatte sich eine zweite große Oppositionsgruppe herausgebildet und Ostern 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands gebildet. Ihre Führer wollten zwar den imperialistischen Krieg beenden, aber im Grunde nur zum Zustand vor dem Krieg zurück — also zu dem Zustand, der zum Krieg geführt hatte! Sie bremsten immer wieder die Massenproteste, die sich in Deutschland gegen den Krieg entwickelten. Die Maßnahmen der russischen Revolution waren ihnen viel zu radikal. Aus der Binsenwahrheit, dass sich in einem rückständigen Land wie Russland allein kein Sozialismus aufbauen ließ, zogen sie nicht die Schlussfolgerung, dass die Revolution auf Westeuropa ausgedehnt werden musste (wie das die Bolschewiki selber und der Spartakusbund sagten), sondern dass man sie auch in Russland hätte bleiben lassen sollen.
Im Herbst 1918 setzte die verzweifelte militärische Lage in Deutschland die Revolution auf die Tagesordnung. Anfang Oktober wurde eine Regierung unter Einbeziehung der SPD gebildet. Der Spartakusbund zog die Schlussfolgerung, dass jetzt die Machteroberung durch die Arbeiterklasse auf der Tagesordnung stehe. Aber die USPD wollte eine neue Welle von Massenstreiks so gründlich vorbereiten, dass inzwischen die Matrosen in Kiel meuterten und die spontane Soldatenrevolte dem organisierten Arbeiteraufstand zuvor kam.
Kommunistische Partei und Kommunistische Internationale
Bei der Gründung der USPD hatte sich ihr der Spartakusbund mit eigenen Strukturen angeschlossen. (Das hatte die SPD-Führung zum Vorwand genommen, Clara Zetkin von einem Tag auf den anderen aus der Redaktion der Gleichheit rauszuschmeißen.) Die Spartakus-Führung war bei Revolutionsbeginn uneinig, ob es schon Zeit sei, sich von der USPD zu trennen und eine eigene Partei zu gründen. Tatsächlich war der beste Zeitpunkt schon vorbei. Das Argument war zwar richtig, dass es in der USPD viele ehrliche revolutionäre ArbeiterInnen gab, die Spartakus erreichen musste. Aber wie konnte Spartakus ihnen klar machen, dass die rechten USPD-Führer auf der anderen Seite der Barrikade standen, wenn sie selbst mit ihnen in einer Partei waren? Richtig gewesen wäre eine Politik, die eine klare organisatorische Trennung zieht und zugleich an die USPD die Aufforderung zum gemeinsamen Kampf richtet. Durch so eine Politik hätten sich die ArbeiterInnen mit eigenen Augen überzeugen können, was die “revolutionären” Sprüche der USPD-Führer Wert waren und die besten von ihnen wären für eine wirklich revolutionäre Politik gewonnen worden. So eine Arbeitsweise wurde später Einheitsfronttaktik genannt.
Als schließlich Ende 1918 die Spartakus-Führung zu dem Schluss kam, dass es Zeit für eine eigene Partei war, war vielen RevolutionärInnen in der USPD der Unterschied zwischen den Organisationen nicht klar. Sie blieben in ihrer großen Organisation, während in der neu gegründeten Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) viele junge, unerfahrene, sektiererische Kräfte waren. So kam es, dass die KPD die Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung und die Mitarbeit in den Gewerkschaften ablehnte.
Clara Zetkin hatte wegen ihrer angegriffenen Gesundheit nicht in das gefährliche Berlin kommen können, wo immer wieder bewaffnete Kämpfe zwischen Revolution und Konterrevolution stattfanden. Sie arbeitete an der neuen “Spartakus”-Zeitung “Rote Fahne” mit und war glücklich, dass sie nach Jahren der Trennung wenigstens telefonisch Rosa Luxemburgs Stimme hören konnte. Aber ein echter Meinungsaustausch war durch schlechte Telefonverbindungen und unter Zeitdruck geschriebene Briefe nicht möglich. Rosa Luxemburg wurde im Januar 1919 ermordet, ohne dass Clara Zetkin die heiß geliebte Freundin noch einmal gesehen hätte.
Nachdem sie an der KPD-Gründung nicht hatte teilnehmen können, blieb sie in Absprache mit Rosa Luxemburg noch bis zum März 1919 in der USPD. Diese hatte da ihren ersten Parteitag nach ihrer Gründung und Clara Zetkin hielt eine Rede, um die Mitglieder zum Bruch mit der rechten Führung und zum Zusammenschluss mit der KPD auffordern. Zu diesem Zeitpunkt fand diese Idee keine große Unterstützung.
Nach der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg und dem Tod von Franz Mehring in Januar, nach der Ermordung von Leo Jogiches und vielen weiteren im März, nach einer ganzen Reihe von brutalen Militär- und Polizeieinsätzen gegen die revolutionären ArbeiterInnen war die KPD personell ungeheuer geschwächt. Clara Zetkin mit ihrer langen politischen Erfahrung bekam dadurch eine besondere Bedeutung.
Ebenfalls große Bedeutung hatte die im März 1919 in Moskau gegründete Kommunistische Internationale (Komintern). Die russischen Revolutionäre in der Leitung der Komintern, Lenin, Trotzki und andere stellten ihre Erfahrungen den jungen westeuropäischen und anderen Parteien zur Verfügung, ohne die russischen Erfahrungen mechanisch auf die westlichen Verhältnisse zu übertragen.
Die Revolution war noch längst nicht zu Ende. Ständig wechselten Streiks und Erhebungen der Massen mit brutaler Unterdrückung. Die ArbeiterInnen radikalisierten sich. Aber dies führte nicht zu einer Stärkung der KPD, sondern zu einer Zunahme der USPD und des linken Flügels innerhalb der USPD. Die Führung der KPD führte einen Kampf gegen die ultralinken Kinderkrankheiten, die auf dem Gründungsparteitag die Mehrheit hatten. Dieser Kampf war dringend notwendig. Schlecht war aber, dass die Führung zu wenig auf Argumente und Überzeugung und zu sehr auf Ausschlüsse setzte. Sie schuf damit einen gefährlichen Präzedenzfall und konnte die Partei nicht vor wiederholten Rückfällen in die ultralinken Kinderkrankheiten schützen.
Als im Sommer 1920 die Nationalversammlung aufgelöst wurde und Reichstagswahlen stattfinden, trat auch die KPD an. Auf den Plakaten stand:
“Wählt Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund)
Liste Zetkin”
Sie und Paul Levi wurden in den Reichstag gewählt. Am 6. Juni hielt sie ihre erste Rede, das “erste Wort der Kommunisten im Reichstag” (nachdem sie 1919 schon auf der Liste der USPD in die Verfassunggebende Landesversammlung von Württemberg gewählt worden war).
Im September 1920 reiste sie nach Sowjetrussland. Trotz des ungeheuren Elends nach sechs Jahren, Krieg und Bürgerkrieg, Wirtschaftsblockade und Hungersnot war sie begeistert über die vielen Ansätze einer neuen Gesellschaft, die sie fand — und vor allem über das Selbstbewusstsein der Massen, die die Macht erobert und ihr Schicksal in die eigene Hand genommen hatten. Unter den ArbeiterInnen und anderen Ausgebeuteten der kapitalistischen Länder Sympathie und Unterstützung für Sowjetrussland zu gewinnen, wurde für den Rest ihres Lebens eines ihrer Hauptziele. Da die russische Revolution tatsächlich der größte Fortschritt in der bisherigen Menschheitsgeschichte war, war das an sich auch eine wichtige Arbeit. Sie bemühte sich immer, offen über die Widersprüche und Probleme zu reden. Aber je mehr sich in Russland die Herrschaft einer neuen Bürokratenkaste herausbildete, desto problematischer wurden ihre Quellen. Hinzu kam, dass ihre Russischkenntnisse begrenzt waren und sie auf die Hilfe von DolmetscherInnen angewiesen war. Ihre Augenkrankheit verschlimmerte sich so, dass sie nicht einmal mehr Texte lesen konnte, sondern aufs Vorlesen angewiesen war. Dass sich unter diesen Umständen in ihre Schilderungen über die russischen Verhältnisse auch eine ganze Portion Propaganda einschleichen musste, war unvermeidlich.
Im Dezember 1920 war sie an zwei wichtigen Erfolgen der Kommunistischen Internationale beteiligt. Anfang Dezember fand der Vereinigungsparteitag von KPD und USPD statt. Clara Zetkin hielt ein Grundsatzreferat über die Frauenfrage (kurz zuvor hatte sie schon für die Kommunistische Internationale Richtlinien für die Kommunistische Frauenbewegung ausgearbeitet) und wurde in die Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei gewählt. (Die rechte Minderheit in der USPD machte die Vereinigung nicht mit und kehrte 1922 zur SPD zurück.) Ende Dezember reiste sie illegal nach Frankreich, um auf dem Kongress der Sozialistischen Partei in Tours für den Beitritt zur Kommunistischen Internationale zu werben. Auch hier stimmte die Mehrheit für den Kommunismus, so dass die Kommunistische Internationale jetzt in den beiden wichtigsten westeuropäischen Ländern Massenparteien mit Hunderttausenden von Mitgliedern hatte.
Schlechter lief es in Italien. Dort meinte die Führung der Sozialistischen Partei in der turbulenten Nachkriegszeit eine Partei im Stile der Vorkriegs-SPD fortsetzen zu können, in der RevolutionärInnen und Opportunisten einträchtig um den richtigen Weg streiten und die Mehrheit revolutionäre Sprüche klopft und Reformpolitik betreibt. Aber in der politischen Gluthitze nach dem Krieg nahmen die ArbeiterInnen die revolutionären Sprüche der Parteiführung wörtlich und fingen an, die Betriebe zu besetzen. Die Führung um Serrati ließ diese Bewegung im Stich, die deshalb in einer Niederlage endete. Die Konterrevolution ging in die Offensive, die Banden der Faschisten begannen eine systematische Terrorkampagne gegen die Arbeiterbewegung, bis sie schließlich 1922 die Regierung übernahmen. Vor diesem Hintergrund forcierte die Komintern Anfang 1921 eine Spaltung zwischen dem revolutionären Flügel der Sozialistischen Partei und dem Zentrum um Serrati. Wie in Deutschland nach dem Dezember 1918 gab es eine kleine Kommunistische Partei mit ultralinker Mehrheit und eine große Sozialistische Partei voller revolutionärer ArbeiterInnen mit Illusionen in die nichtrevolutionäre Parteiführung. Wie in Deutschland war diese Übergangsphase unvermeidlich, aber Clara Zetkin verstand das nicht und trat aus Protest gegen die Spaltungspolitik der Komintern aus der Zentrale der KPD aus (zusammen mit Levi und mehreren aus der USPD gekommenen Mitgliedern).
Die Folge war eine ultralinke KPD-Führung, die glücklich war, endlich eine revolutionäre Massenpartei zu haben und sich in den Kampf stürzen wollte — ohne zu schauen, ob die ArbeiterInnen nach zwei Jahren opferreicher revolutionärer Kämpfe gerade kampfbereit waren. Die Regierung ließ die KPD ins offene Messer laufen. Sie begann eine militärische Offensive gegen die KPD-Hochburg in Mitteldeutschland. Statt zur Verteidigung der ArbeiterInnen rief die KPD-Führung zum Sturz der Regierung und zur revolutionären Offensive auf (“Märzaktion”). Als sich nur eine Minderheit der ArbeiterInnen am Kampf beteiligen wollte, versuchten übereifrige KommunistInnen, ArbeiterInnen mit Gewalt in den Kampf zu zwingen. Der Kampf endete trotz dem Heroismus Tausender ArbeiterInnen in einer verheerenden Niederlage — und die KPD-Führung sah ihren Fehler immer noch nicht ein. Levi schrieb eine Broschüre, in der er inhaltlich richtige Kritik in einer denunziatorischen Form übte, die es der KPD-Führung leicht machte, Levi für sein Vorgehen auszuschließen und seine Inhalte zu ignorieren. Levi hatte so Clara Zetkin und anderen, die inhaltlich mit ihm übereinstimmten, einen Bärendienst erwiesen. Verschärft wurde das Problem noch dadurch, dass Teile der Führung der Komintern und Bolschewiki (v.a. Sinowjew und Radek) die KPD-Führung unterstützten.
Es ist nicht überraschend, dass Clara Zetkin im Juni 1921 mit einem mulmigen Gefühl zu ihrem ersten (und insgesamt dem dritten) Kominternkongress fuhr. Auf dem Kongress überzeugten aber insbesondere Lenin und Trotzki die Mehrheit der Delegierten, dass die Eroberung der Massen die Voraussetzung der Eroberung der Macht ist. Lenin wusch Clara Zetkin zwar im kleinen Kreis gehörig den Kopf wegen ihrem Austritt aus der KPD-Zentrale im Februar, stimmte ihrer Einschätzung der “Märzaktion” aber weitgehend zu. Im August fand ein neuer KPD-Parteitag statt, auf dem Clara Zetkin wieder in die Zentrale gewählt wurde.
Es folgte eine etwas ruhigere Zeit, in der die KPD durch ihre Gewerkschaftsarbeit und Einheitsfrontpolitik ihren Einfluss ausbauen konnte. Die Revolution war aber noch nicht zu Ende, sondern nahm einen neuen Anlauf. Als im Januar 1923 französische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, folgte eine Radikalisierung der ArbeiterInnen, die alles Bisherige in den Schatten stellte. Zu Beginn sorgte Clara mit dafür, dass der Kampf gegen die Ruhrbesetzung im internationalistischen Geist geführt wurde. “Schlagt [Reichskanzler] Cuno an der Spree und [den französischen Ministerpräsident] Poincare an der Ruhr!” war eine Hauptparole. Eine Reichstagsrede von ihr im März, die auch als Broschüre verbreitet wurde, machte deutlich, dass die Verbündeten der deutschen ArbeiterInnen die französischen ArbeiterInnen und nicht die deutschen Kapitalisten sind. Kurz danach reiste sie nach Russland und musste aus Gesundheitsgründen dort bleiben. So hat sie eines der entscheidendsten Jahre der deutschen Geschichte nur von Ferne erlebt.
“Seit Mai gewann die durch die Ruhrbesetzung verschärfte objektiv revolutionäre Lage Leben in dem Empfinden, dem Bewusstsein großer wachsender Massen ausgebeuteter Proletarier und expropriierter Klein- und Mittelbürger. Lohnbewegungen, Streiks, Erwerbslosen- und Hungerdemonstrationen, Läden- und Fabrikplünderungen kündeten revolutionäre Massenstimmung, wie die auf vulkanischem Boden plötzlich emporschießenden Geiser anzeigen, dass die Feuerkräfte der Tiefe sich regen. Die revolutionäre Massenstimmung hatte jedoch keinen politischen Inhalt, kein politisches Ziel. Sie blieb elementar, instinktiv und wurde nicht klare revolutionäre Erkenntnis, entschlossener Kampfwille, kühne Kampfestat. Aufgabe der Kommunistischen Partei wäre gewesen, ihr zu geben, was ihr fehlte.
Der Partei eignete nicht die politische Fähigkeit, die Gunst der geschichtlichen Stunde zu nutzen. Sie war unvermögend, eine Politik zu treiben, die sie als Führerin in planmäßig durchgeführter Kampagne mit den revolutionären Massen fest und innig verbunden und in ihrem Bewusstsein, ihrem Willen den Kampf für die Eroberung der Macht vorbereitet hätte. Sie verstand es nicht, jeden Schrei der Plage ausklingen zu lassen in das “Carthago delenda est” — die Klassenherrschaft der Bourgeoisie muss durch die Diktatur des Proletariats niedergeworfen werden. Sie war von der Einstellung beherrscht, dass der “Endkampf” sofort mit einem gewaltigen, entscheidenden Schlag einsetzen müsse. Anfang war ihr, was Höhepunkt einer Kette von Teilkämpfen ist, und für diesen glänzenden Anfang wollte sie, klug rechnend, alle ihre Kräfte, alle revolutionären Massenkräfte aufsparen. Sie versäumte es des Weiteren, außerhalb ihrer Reihen starke organisatorische Stützpunkte für revolutionäre Massenaktionen unter ihrer Führung zu schaffen. Sie ließ die Betriebsrätebewegung “fortwursteln”, statt sie auszubreiten, zu konzentrieren, ihr die politische Zielsetzung des Kampfes um die Staatsgewalt zu geben, anders gesagt: der Situation entsprechend den Betriebsräten die Funktionen politischer Arbeiterräte zu übertragen bzw. revolutionäre Arbeiter- und Bauernräte ins Leben zu rufen. In einem Satz zusammengefasst: die Betätigung der Partei war zur Zeit der revolutionären Massenstimmung Literatur, nicht Politik.” (Brief an den KPD-Parteitag in Frankfurt, März 1924, Bericht über die Verhandlungen des IX. Parteitages der Kommunistischen Partei Deutschlands (Sektion der Kommunistischen Internationale), abgehalten im Frankfurt am Main vom 7. bis 10. April 1924, Berlin 1924, S. 85-96, hier S. 86f.)
Als die KPD die Massenstimmung schließlich erkannte, bereitete sie sich fieberhaft technisch auf die Machtübernahme vor (trat z.B. in Sachsen in eine Koalitionsregierung mit linken Sozialdemokraten ein, in der Hoffnung, so an Waffen zu kommen), vernachlässigte aber weiter die politische Vorbereitung, die revolutionäre Aufklärung der Massen. Clara Zetkin hatte völlig Recht, dass die subjektiven Voraussetzungen zum revolutionären Aufstand schlechter waren, als sie angesichts der objektiven Lage hätten sein müssen. Trotzdem irrte sie mit der Einschätzung, deshalb hätte der Kampf nicht gewagt werden können. Ihr Argument, dass die Massen nicht ohne Partei in den Kampf traten, überzeugt nicht. Genau das haben die ArbeiterInnen 1918/20 in Ansturm nach Ansturm versucht — und schließlich in blutigen Niederlage die Lektion verinnerlicht, dass sie den Kapitalismus nur mit einer revolutionären Partei stürzen können. Dass sie 1923 nicht ohne Partei kämpfen wollten beweist deshalb überhaupt nicht, dass sie mit der KPD auch nicht gekämpft hätten. In Hamburg fand zwar “aus Versehen” ein Aufstand statt, an dem sich nicht einmal die gesamte KPD-Mitgliedschaft beteiligte — aber die Parteiführung schickte nur die Leute in den Kampf, für die sie Waffen hatte, statt die Massen aufzufordern, sich Waffen zu organisieren, wo immer sie sie kriegen können.
Fraktionskämpfe in Deutschland und Russland
Die kampflose Niederlage führte zu einer ungeheuren Demoralisierung, die die 1918 begonnene Revolution beendete. Die Parteimitgliedschaft wandte sich in ihrer Empörung über das Versagen der Führung der ultralinken Flügel um Ruth Fischer, Arkadi Maslow und andere zu — der allerdings 1923 genauso “Literatur, nicht Politik” gemacht hatte … nur schlechtere Literatur.
Clara Zetkin war entsetzt darüber, dass zum dritten Mal nach 1919 und 1921 die KPD eine Führung hatte, die die Mitarbeit in den Gewerkschaften und andere Selbstverständlichkeiten in Frage stellte. Die Führung der Komintern unter Sinowjew stützte diese ultralinke Politik aber ebenso wie 1921. Nur damals war sie nach ein paar Wochen von Lenin und Trotzki korrigiert worden, jetzt war Lenin im Januar 1924 gestorben und Trotzki von Sinowjew, Kamenjew und Stalin an den Rand gedrängt worden. Sie verbanden diese ultralinke Politik in Deutschland mit immer weiteren Zugeständnissen an die Kapitalisten in Russland.
In Russland waren 1918 nach der Revolution die Kapitalisten weitgehend enteignet worden. Die Bolschewiki hatten eigentlich zunächst den Sachverstand der Kapitalisten nutzen und sie nur einer umfassenden Kontrolle durch die ArbeiterInnen unterstellen wollen. Aber die Kapitalisten glaubten nicht, dass das neue Regime länger als ein paar Wochen bleiben würde und sabotierten die Wirtschaft; die ArbeiterInnen hatten von ihren Ausbeutern die Nase voll. So wurde es politisch notwendig, weit schneller zu vergesellschaften als das wirtschaftlich sinnvoll gewesen wäre. In den drei Bürgerkriegsjahren war die gesamte Wirtschaftspolitik darauf ausgerichtet, den Krieg zu gewinnen (“Kriegskommunismus”). Um die Städte mit Lebensmitteln zu versorgen, wurden ArbeiterInnen aufs Land geschickt, um Getreide zu beschlagnahmen. Diese Unsicherheit und Willkür führten dazu, dass die BäuerInnen weniger anbauten. 1921 musste diese Politik gelockert werden, die Neue Ökonomische Politik (NEP) wurde eingeführt. Die willkürlichen Beschlagnahmungen wurden durch eine festgelegte Abgabe ersetzt. Die Kapitalisten bekamen mehr Spielraum, auch ausländische Firmen wurden zu Investitionen eingeladen. Das Land und die wichtigsten Produktionsmittel blieben aber Staatseigentum, auch der Außenhandel blieb staatlich.
1923 hatte sich in der bolschewistischen Partei eine Oppositionsgruppe um Trotzki herausgebildet, die die wachsende Bürokratisierung bekämpfte. Zugleich war sie der Ansicht, dass die Zugeständnisse an die Kapitalisten eine gefährliche Eigendynamik bekommen könnten. Die russischen Kapitalisten waren zwar jämmerlich schwach, aber sie hatten den Weltkapitalismus hinter sich und begannen Beziehungen zur bäuerlichen Warenwirtschaft aufzubauen. Deshalb war eine schnelle Entwicklung der staatlichen Industrie notwendig. Die Mittel dafür sollten durch eine stärkere Besteuerung der reichen Bauern und Dorfkapitalisten (Kulaken) kommen. Das war auch im Interesse der Bauernschaft selbst. Sie konnten zwar ihre Agrarprodukte auf dem Markt verkaufen, mussten aber wegen dem Außenhandelsmonopol russische Industriewaren kaufen, die wegen der niedrigen Arbeitsproduktivität viel teurer als die Waren auf dem Weltmarkt waren.
1925 begannen Sinowjew und Kamenjew die Richtigkeit der Kritik teilweise einzusehen. Sie gingen ebenfalls in Opposition zu Stalin, der zusammen mit Bucharin die Politik der Zugeständnisse an die Kapitalisten fortsetzte.
Clara Zetkin war mit Bucharin befreundet, während sie mit Sinowjew schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Aber entscheidend war natürlich nicht das Persönliche. Sinowjews Politik in Deutschland 1924/25 war katastrophal gewesen, auch was die Missachtung der innerparteilichen Demokratie betraf. Daher fand sie seine Kritik an der neuen Stalin-Bucharin-Führung in Russland nicht überzeugend. Für Trotzkis Opposition hatte sie gewisse Sympathien gehabt, weil er jahrelang Lenins engster Mitstreiter gewesen war (in ihren Schriften Anfang der 20er Jahre wurden oft „Lenin und Trotzki“ in einem Atemzug genannt, was dann bei ihrer Wiederveröffentlichung in der DDR herauszensiert wurde) und weil er die KPD-Führer von 1923, Brandler und Thalheimer, nicht zum Sündenbock für Fehler machen wollte, die die Kommunistische Internationale insgesamt zu verantworten hatte.
Vor allem war sie über die Wirtschaftserfolge während der NEP begeistert und hoffte, dass das immer so weitergehen werde. Sie sah nicht die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die sich unter der Oberfläche entwickelten. Deshalb hielt sie die Kritik der Opposition inhaltlich für unbegründet und für gefährlich, weil der innere Kampf die Sowjetunion angesichts kapitalistischer Kriegsdrohungen schwäche. Sie stellte ihr gesamtes internationales Prestige und ihre persönliche Glaubwürdigkeit für den Kampf gegen die Opposition zur Verfügung.
Sie sagte einmal: “Gewiss, wir alle können Fehler begehen — ich habe auch mein gutes Teil Fehler auf dem Buckel. Das verhehle ich nicht. Aber einen Fehler gegen mein besseres Wissen und Gewissen habe ich mir nie vorzuwerfen gehabt: wenn das so wäre, dann würde ich mich lieber aufhängen als hier vor euch stehen.” (Protokoll Erweiterte Exekutive der Kommunistischen Internationale. Moskau 17. Februar bis 15. März 1926, S. 249) Diese Einstellung trug zu ihrem großen Ansehen auch über die eigenen Reihen hinaus bei. Aber wenn man eine falsche Politik vertritt, richtet man nur noch mehr Schaden an, wenn man dabei glaubwürdig ist.
Clara Zetkins Kampf gegen die linke Opposition in der Kommunistischen Internationale war ihr politischer Tiefpunkt. Wie sehr sie sich dabei verrannt hatte, zeigt die weitere Entwicklung. Kaum war die Opposition zerschlagen, ihre AnhängerInnen nach Zentralasien und anderswohin verbannt, da gingen deren Warnungen in Erfüllung. Die gehätschelten reichen Bauern begannen, ihr Getreide vom Markt zurückzuhalten, um noch mehr Zugeständnisse zu erpressen. Stattdessen trat Stalin auf die Notbremse. In wenigen Jahren wurden die BäuerInnen in Genossenschaften gezwungen, viele schlachteten ihr Vieh, die landwirtschaftliche Produktion ging zurück, es kam zu schweren Hungersnöten, Millionen kamen dabei ums Leben. Zugleich wurde die Industrialisierung in einem wahnwitzigen Tempo vorangetrieben. Die Restauration des Kapitalismus, die bei einer weiteren Verfolgung des von Clara Zetkin unterstützten Kurses gedroht hätte, war zwar für Jahrzehnte verhindert, aber um einen ungeheuren Preis an Menschenleben. Das hätte vermieden werden können, wenn die Warnungen der Opposition beachtet worden wären.
Die ultralinke Wendung in der Sowjetunion wurde von einer ultralinken Wendung der gesamten Kommunistischen Internationale begleitet. Nach der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg und der relativen Stabilisierung Mitte der Zwanziger Jahre sei jetzt die “Dritte Periode”, die Endkrise des Kapitalismus eingetreten. Tatsächlich kam 1929 eine schwere Weltwirtschaftskrise, aber keine Krise führt automatisch zum Sturz des Kapitalismus, ohne eine richtige Politik der revolutionären Partei. Tatsächlich war die Politik der Komintern die größte Hilfe für den Kapitalismus. Die Sozialdemokratie wurde zu Sozialfaschisten erklärt. Eine Einheitsfront sei nur “von unten” zulässig — dabei waren die sozialdemokratischen ArbeiterInnen gerade deshalb SozialdemokratInnen, weil sie noch Illusionen in ihre Führungen hatten und zu keiner Einheitsfront bereit waren, aus der ihre Führungen ausgeschlossen waren. Einheitsfront “nur von unten” war gar keine Einheitsfront. Die KPD baute “revolutionäre Gewerkschaften” auf. In Wirklichkeit verlor sie einen Großteil ihrer Mitglieder in den Betrieben und hatte vor allem bei den immer mehr zunehmenden Arbeitslosen eine Basis.
Die Sozialdemokraten wurden nicht nur zu Faschisten, sondern zum Hauptfeind erklärt, gegen den sogar Zusammenarbeit mit den Nazis zulässig war. Diese Politik trug ebenso wie die spiegelbildliche Politik der SPD (die die KPD auch zu „Faschisten“ erklärte) entscheidend dazu bei, dass Hitler 1933 an die Macht kommen konnte.
Clara Zetkin lehnte diese Politik entschieden ab. Als im Sommer 1932 der Reichstag neu gewählt wurde, reiste sie nach Deutschland, um als Alterspräsidentin die Eröffnungsrede zu halten. Ihre Rede war ein beeindruckender Appell für eine Einheitsfront gegen den Faschismus. Sie sagte nicht, dass die Sozialdemokraten Faschisten seien, sondern kritisierten sie für die arbeiterfeindliche Politik, die sie wirklich gemacht hatten. Sie sagte auch nicht, dass eine Einheitsfrontpolitik nur von unten zulässig sei.
Sie arbeitete auch an einer Zeitschrift mit, die sozialdemokratische ArbeiterInnen ansprechen sollte. Aber wie überzeugend konnten solche Anstrengungen auf diese ArbeiterInnen wirken, wenn auf der anderen Seite die übrige KPD-Presse aus allen Rohren zur Gewaltanwendung gegen sie aufrief und das auch oft genug praktiziert wurde (von beiden Seiten — und die Nazis waren die lachenden Dritten)? Wie glaubwürdig, wenn sich Clara Zetkin nicht öffentlich von dieser fatalen Politik distanzierte? Selbst wer Clara Zetkins persönliche Aufrichtigkeit nicht bezweifelte, musste von der Verlogenheit der Parteiführung angewidert sein.
Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit war damals die Internationale Rote Hilfe (IRH), deren Vorsitzende sie seit 1925 war. Sie machte Solidaritätskampagnen für politische Gefangene oder für andere Opfer von Klassenjustiz und Rassismus, ohne ein kommunistisches Parteibuch der Opfer oder der MitkämpferInnen zu verlangen. Als in den USA die Anarchisten Sacco und Vanzetti zum Tode verurteilt wurden für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten, kämpfte die IRH ebenso für sie wie für 9 junge Schwarze in Scottsboro (ebenfalls USA), denen ebenso zu Unrecht die Vergewaltigung von weißen Prostituierten vorgeworfen wurde.
So verdienstvoll diese Arbeit war — was brachte die Zusammenarbeit mit einzelnen Sozialdemokraten (oder auch Antikriegskongresse zusammen mit frei schwebenden bürgerlichen Intellektuellen), wenn den sozialdemokratischen Massen der Rücken zugekehrt oder gar die Faust gezeigt wurde?
Clara Zetkin versuchte die verbliebenen Nischen in einer falschen Politik zu nutzen — aber indem sie diese Politik nur in Privatbriefen oder zwischen den Zeilen kritisierte, ließ sie sich von dieser falschen Politik als Aushängeschild missbrauchen. Sie hoffte, dass die Parteibasis und die Arbeitermassen schließlich gegen die katastrophale Politik aufstehen würden. Mit der gleichen Hoffnung hatten Rosa Luxemburg und sie vor dem Ersten Weltkrieg den Aufbau einer organisierten Opposition gegen die SPD-Führung vernachlässigt. Jetzt wiederholte sie den gleichen Fehler in der Komintern. Diesmal waren die Folgen mit der Machtübernahme durch die Nazis noch viel entsetzlicher.
Die revolutionären Kämpfe nach dem Ersten Weltkrieg waren ungeheuer kräftezehrend und haben viele der besten KämpferInnen ausgelaugt. Bei Clara Zetkin kam noch die verwüstete Gesundheit dazu. Die letzten Jahre ihres Lebens war sie fast blind. Auf der Reise zum Kominternkongress 1922 hatte sie sich Erfrierungen am Fuß zugezogen. Ihr Kreislauf war extrem schwach. Wenn sie Reden hielt, erblühte sie auf — um dann nach der Rede zusammenzubrechen.
Es ist kaum fassbar, dass diese Schwerkranke noch so viele Artikel und Broschüren diktieren konnte. Dass davon obendrein noch so viel richtig war und heute noch aktuell ist, ist noch bewundernswürdiger. Deshalb können auch ihre politischen Fehlentscheidungen der letzten Jahre ihre Lebensleistung nicht herabsetzen.