In den Parlamenten wird ein Gesetz nach dem anderen verabschiedet, das die Bevölkerung mehrheitlich ablehnt. Die Gewerkschaftsspitze protestiert in der Regel, nimmt aber in den meisten Fällen nicht den Kampf dagegen auf. Unter diesen Bedingungen wird der Ruf nach „Volksentscheidungen“ immer lauter.
Das kann aber höchstens eine Ergänzung, kein Ersatz für Massenproteste und Streiks sein.
von Heino Berg, Bremen
Die Große Koalition regiert gegen die Mehrheit der Bevölkerung. So sind zwei Drittel gegen die Rente mit 67 – und im Bundestag stimmen trotzdem zwei Drittel der Abgeordneten dafür.
Das selbe gilt für die Gesundheitsreform.
Die große Mehrheit der Abgeordneten vertritt nicht die Forderungen ihrer WählerInnen, sondern die Interessen der Konzerne.
Abkehr vom Parlamentarismus
Da in den Parlamenten die Meinung der Bevölkerung missachtet wird, sinkt die Wahlbeteiligung dramatisch. In Sachsen-Anhalt sind zwei Drittel der Wahlberechtigten zu Hause geblieben, in Bremen fast die Hälfte. Den arbeitenden Menschen fehlt eine politische Interessenvertretung, die sich dem Sozialabbau als konsequente Opposition entgegenstellt.
Mit der WASG gab es einen Ansatz für diese glaubwürdige Linke, der aber durch die Fusion mit der L.PDS schon wieder in Frage gestellt ist. Gleichzeitig organisiert die Führung der Gewerkschaften keinen entschiedenen Widerstand.
Deshalb kommt es immer häufiger zu Initiativen für Volksbegehren. In den letzten sieben Jahren wurden in Deutschland mehr als 2.000 kommunale Bürgerbegehren eingeleitet (seit 1975 insgesamt 4.365). Ein erfolgreiches Beispiel dafür war der Bürgerentscheid gegen die Wohnungsprivatisierung in Freiburg, der im November letzten Jahres von 41.000 Menschen unterstützt wurde und zumindest vorläufig den Verkauf der Wohnungen an private Investoren verhindern konnte.
Auch in Hamburg sprachen sich 2004 in einem Volksentscheid 76,8 Prozent der Bevölkerung gegen eine Privatisierung des Landeskrankenhauses aus. Trotzdem veräußerte es der CDU-Senat anschließend an das Privatunternehmen Asklepios – was durch das Verfassungsgericht bestätigt wurde.
Hürden und Begrenztheit
Viele Vorschriften behindern bereits die Einleitung von Volksbegehren. Zum Beispiel durch die notwendige Sammlung von Tausenden von Unterstützerunterschriften – mit Nachweis von Wohnsitz und Wahlberechtigung. Selbst wenn die zweite Stufe, also der eigentliche Volksentscheid, erreicht wird, können Regierungen das Ergebnis unterlaufen, in dem sie einen neuen Gesetzesentwurf starten.
Hinzu kommt, dass die Ergebnisse nicht immer verbindlich sind, wie das Beispiel Hamburg zeigt. In Bremen kann ein Volksentscheid, der „von einem Zehntel der Stimmberechtigten“ unterstützt wird, lediglich „das Begehren auf Beschlussfassung über einen Gesetzentwurf“ auf die Tagesordnung der Bürgerschaft setzen (Artikel 70).
In den entscheidenden Fragen des Haushalts oder der Steuerpolitik werden selbst diese Einmischungen vom Gesetz als „unzulässig“ eingestuft.
Wenn sich die Menschen schon mal direkt zu politischen Fragen äußern können, dann möglichst nur als Bittsteller, anstatt sich (zum Beispiel als MieterInnen oder als Beschäftigte) ihrer eigenen Kraft bewusst werden und so Gegenmacht bilden zu können.
Im Unterschied zu solchen Initiativen von unten gingen die Volksentscheide über die EU-Verfassung von den Regierungen aus. Sie wollten dieser antidemokratischen Verfassung eine plebiszitäre Legitimation verleihen. Plebiszite sind von den Herrschenden in der Vergangenheit gern benutzt worden, um ihren Interessen ein scheindemokratisches Mäntelchen umzuhängen.
Das ging diesmal nach hinten los. In Frankreich wurde der Widerstand durch Basiskomitees mobilisiert, in dem ArbeiterInnen und Jugendliche mit ihren Organisationen aktiv waren. Dadurch wurde eine Gegenmacht zur Regierung erkennbar.
Die Mehrheit der Franzosen und Niederländer sagte Nein zu einem Europa der Banken und Konzerne. Seitdem steckt dieses neoliberale Großprojekt in einer Sackgasse. Angela Merkel will als EU-Präsidentin diese Verfassung nun durch die Hintertür einführen, ohne die Bevölkerung der EU nach einer Zustimmung zu fragen.
Die Antwort der LINKEN.
Die Führung der L.PDS plädiert – übrigens ähnlich wie FDP und Grüne – für eine Gesetzesinitiative für Volksentscheide, während Oskar Lafontaine darüber hinaus für den politischen Streik wirbt.
Letzteres ist entscheidend, setzt aber die Bereitschaft der LINKEN. zum Konflikt mit denjenigen Gewerkschaftsführern voraus, die Streikaktionen gegen solche Gesetze bisher ablehnen.
An dieser Konsequenz fehlt es. So wurde der an die Gewerkschaften gerichtete Appell von Lucy Redler und Thies Gleiss im WASG-Bundesvorstand abgelehnt, beim Kampf gegen das Rentengesetz über Warnstreiks hinaus zu gehen. Gleiches galt für den Antrag, ein Volksbegehren gegen die Privatisierung der Berliner Sparkasse zu unterstützen – einem Verkauf, der unter der SPD/L.PDS-Regierung abläuft.
Passiver Widerstand ist nicht genug
Volksbegehren spiegeln die allgemeine Ablehnung der etablierten Parteien und das Bedürfnis der Betroffenen, sich selbst in die Politik einzumischen, gleichzeitig aber auch die aktuelle Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung.
In bestimmten Situationen können Volksbegehren dazu beitragen, die Forderungen der Betroffenen zum Thema einer öffentlichen Debatte zu machen und Regierungen unter Druck zu setzen.
Es reicht aber nicht aus, die Frage von Hartz IV oder von Privatisierungen noch einmal auf die Tagesordnung der Parlamente zu setzen, sondern diese Gesetze müssen gekippt werden. Dafür sind Mobilisierungen bis hin zum Streik notwendig. Und eine politische Kraft, die als glaubwürdige Partei der ArbeitnehmerInnen und Arbeitslosen dem Mehrheitswillen der Bevölkerung Geltung verschafft.
Entscheidend sind Widerstandsformen, die die selbständige Organisierung der Betroffenen fördern und damit das bestehende politische System grundlegend in Frage stellen.