Der G8-Gipfel und der Widerstand – eine Nachbetrachtung

Vor zehn Tagen ging das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der acht mächtigsten kapitalistischen Staaten in Heiligendamm zu Ende. Dieser G8-Gipfel dominierte eine Woche lang die öffentliche Debatte und markierte für die linken und antikapitalistischen Bewegungen ein wichtiges Ereignis.
von Sascha Stanicic

Alle an dem Gipfel und den Gegenprotesten Beteiligten – PolitikerInnen, Polizei und DemonstrantInnen – sprechen von einem Erfolg ihres Handelns.

Der Erfolg Angela Merkels besteht darin, dass ihr mit der Abschlusserklärung ein diplomatisches Kunsstück gelungen ist, das in der Financial Times Deutschland so beschrieben wurde: „Jeder kann aus dem Papier herauslesen, was ihm gefällt.“

Aber das war es dann auch schon mit dem Erfolg des Gipfeltreffens selber. Denn tatsächlich konnten die heftigen Konflikte zwischen den verschiedenen Staaten der G8 nicht verborgen werden und hat der Gipfel keine belastbaren Ergebnisse bei den großen Themen ergeben, die beraten wurden: insbesondere der Frage des Klimawandels und der Armut bzw. Krankheitsbekämpfung in Afrika.

Der Protest gegen den Gipfel war weitaus erfolgreicher darin, den Mächtigen die Legitimation abzusprechen, für die Völker der Welt zu sprechen. Noch während des Gipfels glaubten laut ARD-Deutschlandtrend weniger als 25 Prozent der Befragten, dass die G8-FührerInnen für mehr Gerechtigkeit sorgen werden.

Klimaziele butterweich

„G8 erwägen Rettung der Welt“ – die Financial Times Deutschland konnte einen gewissen Zynismus angesichts der butterweichen Formulierungen zum Thema CO2-Emmissionen in der G8-Abschlusserklärung nicht unterdrücken. In einem Kommentar schreibt die Zeitung: „US-Präsident George W. Bush muss sich (…) auf Basis dieses Dokuments zu konkreten Maßnahmen nicht verpflichtet sehen. Auch die anderen Regierungen können Klimaschutz weiter so energisch oder lässig betreiben, wie sie (…) es für sinnvoll halten.“ Als „Riesenerfolg“ bezeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel die Zustimmung der USA zu der Formulierung, dass die G8 „ernsthaft in Betracht ziehen“ die Emmissionen bis 2050 zu halbieren. Konkrete Schritte wurden verschoben – auf die UNO-Umweltkonferenz im Dezember in Bali und auf das Jahr 2009.

So hat der G8-Gipfel deutlich gemacht, dass trotz der erdrückenden Erkenntnisse der Wissenschaft über die Folgen des weltweiten Klimawandels – wie Hungersnöte, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen – die mächtigsten Staats- und Regierungschefs sich nicht der Weltbevölkerung und den natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet fühlen, sondern den Profitinteressen der Banken und Konzerne.

Afrika bleibt arm

60 Milliarden US-Dollar für den Kampf gegen Aids, Malaria und Tuberkulose in Afrika! Dieses Versprechen des G8-Gipfels soll den Eindruck erwecken, dass der Kampf gegen Krankheiten auf dem ärmsten Kontinent endlich entschlossen geführt werden soll. Bei genauer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass hier Versprechen gemacht werden deren Einlösung auf einem ganz anderen Blatt steht. Denn auch der Gipfel im schottischen Gleneagles hatte im vorletzten Jahr ähnliche Zahlungen angekündigt. Ingeborg Schüble von der Deutschen Welthungerhilfe ist der Ansicht, dass in Heiligendamm nur die Versprechen von Gleneagles wiederholt wurden. Ein Zeitraum wurde für die Zahlung dieser Gelder nicht beschlossen. Die USA wollen die Zahlung ihres Anteils bis 2013 strecken, Deutschland sogar bis 2015.

Gleichzeitig ging die weltweite Entwicklungshilfe im letzten Jahr sogar um fünf Prozent zurück. Die Frankfurter Rundschau kommt zu dem Schluss: „Der Geldsegen von Heiligendamm könnte sich also als bloße Umschichtung von Versprechen für Afrika erweisen.“

Raketenabwehr und neues Wettrüsten

Die Konflikte zwischen den verschiedenen Staaten der G8 konnten nicht unter den Teppich gekehrt werden. Berichten zufolge drohte der neue französische Ministerpräsident Sarkozy sogar mit frühzeitiger Abreise – und zwar nicht im Rahmen der Pressekonferenz, die er in ungewöhnlicher, weil wahrscheinlich angetrunkener, Verfassung gab.

Insbesondere der Streit um die Stationierung von US-Raketenabwehrsystemen in Tschechien und Polen überschattete den Gipfel. Dieser drückt die wachsenden Spannungen zwischen den USA und der erstarkten Regionalmacht Russland aus. Putins überraschender Vorschlag diese Raketenabwehranlagen in Aserbaidschan zu stationieren und dort gemeinsam zu nutzen, wurde von Bush nach dem Gipfel ausgeschlagen. Entscheidend ist für den US-Imperialismus in dieser Frage nicht die militärische Zweckmäßigkeit der Radarsysteme, sondern der darüber auszuübende Einfluss in den beiden osteuropäischen Staaten. Dies richtet sich nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen die zentralen europäischen Mächte Deutschland und Frankreich. Schon in den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg schmiedete Bush das Bündnis mit dem „neuen Europa“ gegen das „alte Europa“. Auch wenn in Deutschland und Frankreich mittlerweile US-freundlichere Regierungen im Amt sind, bemühen diese sich doch trotzdem weiterhin um ihre eigenständige imperialistische Rolle auf der Weltbühne. Vor diesem Hintergrund sind auch Deutschlands Bemühungen um ein „gutes Verhältnis“ zu Russland und der Ausbau von Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen Berlin und Moskau zu bewerten. Auch der Versuch die Klimapolitik international durch die UNO koordinieren zu lassen ist der Versuch von Merkel, den Einfluss der USA einzudämmen.

Neue Qualität staatlicher Repression

Die Zufriedenheit der polizeilichen Einsatzleitung mit ihrer Arbeit in der Gipfelwoche kann angesichts der vielen offensichtlichen Pannen und Fehler eigentlich nur verwundern. Da wurde während der Demonstration am 2. Juni der Einsatzleiter ausgetauscht; Bilder veröffentlicht auf denen ein Polizist einen Kollegen von „zu“ brutaler Gewaltanwendung gegen DemonstrantInnen abhält; ein als Autonomer verkleideter Polizist wurde am 6. Juni beim Aufwiegeln von Gewalt unter BlockadeteilnehmerInnen enttarnt; die Unzufriedenheit unter Polizeibeamten aufgrund der schlechten Versorgung und langen Einsatzzeiten war genauso vernehmbar wie die allgemeine Kritik am Vorgehen der Polizei.

Doch trotzdem können Polizeileitung und der oberste Polizeichef Innenminister Schäuble zufrieden sein: sie haben eine neue Qualität staatlicher Unterdrückungsmaßnahmen gegen eine Protestbewegung durchgesetzt und werden versuchen darauf in der Zukunft aufzubauen.

Dabei wurde in unzähligen Fällen durch Polizei und Staat gegen geltende Gesetze verstoßen. Am politisch brisantesten und bedeutendsten ist zweifelsfrei der Einsatz der Bundeswehr im Inneren, der ohne einen entsprechenden Bundestagsbeschluss einfach umgesetzt wurde. Bundeswehr-Tornados überflogen in 150 Meter Höhe – 150 Meter niedriger als erlaubt – ein Protestcamp und machten Aufnahmen. Auch Panzerspähwagen waren im Einsatz. Amtshilfe heißt das auf Bürokratendeutsch. Doch in Wirklichkeit wurde damit der erste Schritt hin zum Einsatz der Bundeswehr gegen soziale Protestbewegungen getan.

Die Einrichtung von Guantanamö-ähnlichen Gitterkäfigen in einer Rostocker Industriehalle sind der zweite Skandal. Hier wurden über eintausend Gefangene zum Teil über 30 Stunden festgehalten. In ca. 25 Quadratmeter großen Zellen wurden bis zu zwanzig Gefangene eingesperrt. Die Zellen waren von jeder Seite einsehbar, es brannte rund um die Uhr Licht, die Gefangenen wurden gefilmt und durch regelmäßigen Hubschrauber-Lärm terrorisiert. Diese Form des Schlafentzugs gilt allgemein als eine Form der Folter.

Verhaftungen wurden aufgrund der verschiedensten Vorwürfe durchgeführt. Der Berliner Arzt Michael Kronawitter, der deutlich sichtbar als Arzt auf den Blockaden im Einsatz war, wurde festgenommen, weil sein Handy angeblich zur Koordinierung der Blockaden diente. Den Patienten mit Asthmaanfall, den Kronawitter zum Zeitpunkt seiner Verhaftung aufsuchen wollte, erreichte er nicht mehr. Andere wurden verhaftet, weil sie schwarze Kapuzenpullover oder Halstücher in ihren Rucksäcken trugen. Nach Schätzungen des Republikanischen Anwaltsvereins wurden 95 Prozent der Verhafteten unbegründet festgehalten und die meisten von ihnen auch nach Vorführung vor dem Haftrichter wieder frei gelassen.

Demonstrationsrecht eingeschränkt

Die verschiedenen Demonstrationen, die im Laufe der Woche stattfanden oder angemeldet waren, wurden von Seiten der Polizei massiv be- oder sogar verhindert. Die große Demonstration am 2. Juni wurde am Ende von Auseinandersetzungen zwischen Polizei und einzelnen DemonstrantInnen überschattet, die von der Polizei zum Anlass genommen wurden, die gesamte Abschlusskundgebung zu attackieren. Eine Demonstration für die Rechte von MigrantInnen am 4. Juni wurde von der Polizei eingekesselt und verboten, weil angeblich vermummte Autonome sich mit Äxten bewaffnet hätten. Selbst der Einsatzleiter vor Ort musste diese Meldung bestreiten und erklären, dass es keinerlei Straftaten innerhalb der Demo gegeben habe. Selbst Vermummungen gab es nicht, da die DemonstrationsteilnehmerInnen alle darauf verzichteten, um der Polizei keinen Vorwand zu Verhaftungen zu geben. Denn an der Demonstration nahmen auch viel MigrantInnen teil, die keine Aufenthaltserlaubnis hatten und nicht gefährdet werden sollten.

Der Gipfel der Einschränkung des Demonstrationsrechts war dann aber das Verbot des Monate zuvor für den 7. Juni angemeldeten Sternmarschs. Das Bundesverfassungsgericht kritisierte zwar in seiner Urteilsbegründung die Tatsache, dass das Sicherheitskonzept der Polizei dem Demonstrationsrecht keine Beachtung geschenkt habe. Es begründete das Verbot aber unter anderem mit der angeblich hohen Zahl verletzter Polizisten.

Propagandakrieg und Polizeibrutalität

Die Polizeieinsatzleitung mit den Namen „Kavala“ (nach einer nordgriechischen Küstenstadt) verbreitete in der ganzen Woche der G8-Proteste eine Falschmeldung nach der anderen. So wurde nach der Demonstration am 2. Juni verbreitet, dass 30 Polizeibeamte schwer verletzt worden seien. Doch nur zwei Polizisten mussten in Rostocker Krankenhäusern stationär behandelt werden, was normalerweise als Definition einer „schweren“ Verletzung gilt. Auch wurde behauptet, dass die an den Demonstrationen teilnehmenden Clowns eine unbekannte chemische Säure auf Polizisten gespritzt hätten. Diese entpuppte sich als Seifenwasser.

Nachdem auf einer der Blockaden ein Bremer Polizist in Autonomen-Outfit enttarnt wurde, als er tschechische DemonstrantInnen aufforderte, Steine zu werfen, wurde dies von der Kavala zuerst bestritten. Erst als DemonstrantInnen ankündigten das Foto des enttarnten V-Mannes zu veröffentlichen, gab die Polizei zu, dass dieser als verdeckter Ermittler tätig gewesen sei. Auf diese sich widersprechenden Äußerungen hingewiesen sagte der Kavala-Sprecher Ulf Claassen: „Das ist ein neuer Sachstand. Was ich gestern gesagt habe, war gestern zutreffend. Was ich heute sage, ist heute zutreffend.“

Die Medien griffen die Kavala-Falschmeldungen in der Regel begierig auf und schürten Hysterie und Hetze gegen DemonstrantInnen. Über den massiven Einsatz brutaler Gewalt gegen DemonstrantInnen wurde wenig berichtet. Die Tatsache, dass eine Demonstrantin durch einen Wasserwerfereinsatz ein Auge verlor, war keine große Schlagzeile wert.

Die Gewalt-Debatte

Nach den Auseinandersetzungen auf der Demonstration am 2. Juni stand für einige Tage die Debatte über die Anwendung von Gewalt durch DemonstrantInnen im Mittelpunkt der öffentlichen und inner-linken Debatte.

Der detaillierte Ablauf der Ereignisse lässt sich bisher nicht genau rekonstruieren. Sicher ist, dass aus dem ca. 2.000 Menschen umfassenden schwarzen Block auf einer der beiden Demonstrationen Steine auf Bankfilialen geworfen wurden und dass ebenfalls von einzelnen DemonstrantInnen, die dem schwarzen Block zuzurechnen sind, ein alleine und ungeschützt herumstehendes Polizeiauto angegriffen wurde. Nach Polizeiangaben wurden die beiden sich darin aufhaltenden Polizisten verletzt. Auf Fernsehbildern sah man allerdings, dass sie recht schnell den Platz des Ereignisses verlassen konnten. Aufgrund der vielfachen Polizeiprovokationen stellt sich die Frage, ob dieses Polizeiauto ein Köder war, auf den einige autonome DemonstrantInnen hereingefallen sind.

Sicher ist auch, dass die Polizei durch tieffliegende Hubschrauber den verlauf der Abschlusskundgebung massiv störte und es am Ende der Demonstration heftige Angriffe der Polizei auf Teile der Demonstration gegeben hat. Diese richteten sich nicht nur gegen den schwarzen Block. Die Polizeiübergriffe wurden von DemonstrantInnen zwei Mal zurück geschlagen und die Polizisten mussten sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen relativ weit in Seitenstraßen zurück ziehen. Daraufhin wurde ein massiver Einsatz mit Tränengas und Wasserwerfern gegen DemonstrantInnen durchgeführt, der auch die Abschlusskundgebung traf.

Bürgerliche Medien und Politiker, die Polizei und auch Sprecher von Attac gaben schnell autonomen DemonstrantInnen die Schuld an der Eskalation gewalttätiger Auseinandersetzungen. Von BILD, Merkel und Kavala konnte man nichts anderes erwarten, aber dass ausgerechnet Attac-Vertreter und andere Sprecher der Organisatoren eine einseitige Schuldzuweisung vornahmen war insbesondere angesichts der Ereignisse, die der Demonstration voraus gingen ein Skandal.

Kapitalistische Heuchelei

Denn die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen Teile der Anti-G8-Bewegung im Vorfeld der Protestwoche dienten dazu die Stimmung anzuheizen und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und Polizei propagandistisch vorzubereiten. Da wurde eine Terroristen-Hysterie angesichts eines angezündeten Autos des BILD-Chefredakteurs inszeniert, die das Ziel hatte, Menschen davon abzuhalten an den Protesten teilzunehmen bzw. gegen die Proteste aufzubringen.

Aus diesem Grund hatten Regierung und Staat ein Interesse an Bildern gewalttätiger Auseinandersetzungen. Die Bewegung sollte dadurch verunsichert, gespalten und diskreditiert werden. Gleichzeitig werden solche Bilder dazu genutzt, weitere staatliche Aufrüstungsprogramme zu rechtfertigen, siehe die direkt nach der Demonstration einsetzende Debatte um den Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei. Aufgrund dieser Interessenslage und der Enttarnung eines andere DemonstrantInnen zu Gewalt anstiftenden Polizeispitzels bei den später stattfindenden Blockaden, ist es daher gerechtfertigt die Frage aufzuwerfen, ob auch am 2. Juni Polzeiagenten in den Reihen des schwarzen Blocks ihre Finger im Spiel hatten. Viele DemonstrationsteilnehmerInnen berichteten jedenfalls von DemonstrantInnen, die auffällig neu eingekleidet waren und vermuteten hinter dem schick-schwarzen Demo-Outfit Staatsbedienstete.

Angesichts der alltäglichen durch das kapitalistische System verursachten Gewalt – ob in brutaler Form beim Krieg gegen Irak und dem Hunger in der Welt oder in subtilerer Form, wenn man von seinem Boss den Lohn gekürzt und beim JobCenter schikaniert wird – sind die Empörung der etablierten Politiker und bürgerlichen Medien über die „militanten Autonomen“ reine Heuchelei. Ihre Verteidigung des staatlichen Gewaltmonopols ist nichts anderes als die Verteidigung des Monopols der herrschenden Klasse den von ihr kontrollierten Staatsapparat zur Gewalt gegen potenziellen und realen Widerstand der Arbeiterklasse und der Jugend gegen die kapitalistischen Verhältnisse einzusetzen.

Autonome

Eine linke Kritik an den Aktionen, die von Teilen der Autonomen durchgeführt werden, hat also nichts gemein mit der heuchlerischen bürgerlich-kapitalistischen Verurteilung der „Gewalt“ während der Demonstration am 2. Juni.

Es wäre aber auch falsch, wenn man ignorieren würde, dass es Teile der linken bzw. autonomen Bewegung gibt, die sehr bewusst das Einwerfen von Schaufensterscheiben, Steinwürfe gegen Polizisten oder auch das Anzünden von Luxuskarossen der Kapitalisten oder ihrer Vertreter als eine sinnvolle politische Aktion verteidigen. Albern erscheint dann, dass die selben Autonomen sich darüber beschweren, dass genau solche Aktionen von Polizeispitzeln verübt werden. Die Frage, warum Staat und Polizei offensichtlich ein Interesse an solchen Handlungen haben, wird dann ausgeklammert.

Es ist auch unehrlich von einigen AktivistInnen aus der links-autonomen Bewegung, wenn sie die Aktionen am 2. Juni als reine Verteidigung darstellen. MarxistInnen verteidigen das Recht von DemonstratoinsteilnehmerInnen sich gegen Polizeiübergriffe zur Wehr zu setzen. Wir würden vorschlagen, dass eine solche Verteidigung in möglichst kollektiver und organisierter Art und Weise durchgeführt werden sollte. Am besten durch die Organisierung von Ordnerdiensten durch die veranstaltenden Organisationen, welche die restlichen Demo-TeilnehmerInnen schützen könnten. Es hat am 2. Juni eine Verteidigung der Demonstration gegeben. Diese war gerechtfertigt und wenn dabei Steine geflogen sind, liegt die Verantwortung dafür bei der attackierenden Polizei, die auf ihrer Seite Knüppel, Tränengas und Wasserwerfer zum Einsatz gebracht hat.

In der Frage der Verteidigung kann man ganz auf Seiten des Neu-Attac-und-immer-noch-CDU-Mitglieds Heiner Geißler stehen, der vor der Demonstratione geäußert hat, dass er zurückschlägt, wenn ihn jemand schlagen sollte, auch wenn es sich um einen Polizisten handelt. Das hat zwar wenig mit dem christlichen Prinzip des „die andere Wange hinhalten“ zu tun, aber die Christen haben ihre Prinzipien ja in der Menschheitsgeschichte nie sonderlich ernst genommen.

Aber es hat am 2. Juni zweifelsfrei auch Aktionen aus dem schwarzen Block bzw. von der autonomen Szene zuzurechnenden DemonstrantInnen gegeben, die keinen Verteidigungscharakter hatten. Und es hat so idiotische Aktionen gegeben, wie die Behinderung von Feuerwehrautos bei ihrem Einsatz. Solche Aktionen werden von der SAV abgelehnt und kritisiert, weil sie keinen Beitrag zum Aufbau einer starken antikapitalistischen Bewegung leisten, sondern im Gegenteil dem kapitalistischen Staat in die Hände spielen. Denn dieser kann solche Aktionen zum Anlass nehmen, staatliche Gewalt gegen die gesamte Bewegung zu rechtfertigen, staatliche Repression weiter auszubauen und dafür in der Masse der arbeitenden Bevölkerung Verständnis oder Akzeptanz zu finden, weil jeder normale Mensch Gewalt ablehnt, vermeiden will und nur akzeptiert, wenn es dazu keine Alternative gibt.

Eine Auseinandersetzung innerhalb der linken Bewegungen zu dieser Frage ist notwendig und kann nicht mit der Formel „alle Aktionsformen sind legitim“ unter den Teppich gekehrt werden. Denn manche Aktionsformen beeinträchtigen nun einmal die ganze Bewegung. Deshalb tritt die SAV für eine offensive Auseinandersetzung zur sogenannten „Gewalt-Debatte“ ein und dafür, dass demokratisch gebildete Ordnerdienste solche Demonstrationen ggf. auch gegen Polizeprovokateure und Randalierer aus den eigenen Reihen schützen sollten .

Bilanz der Proteste

Trotz der Auseinandersetzungen auf der Demonstration waren die Proteste gegen den Gipfel aber ein großer Erfolg. Das gilt auch für die Demonstration selber, die mit 80.000 TeilnehmerInnen einen Massencharakter hatte. Besonders erfreulich war, dass die Einschüchterungs- und Abschreckungskampagne in den letzten Mai-Wochen kaum wirkte und unter Jugendlichen sogar einen mobilisierenden Effekt hatte.

Der Verlauf der Blockaden war ein noch größerer Erfolg. Zum einen weil die Teilnehmerzahl mit über 10.000 größer als erwartet war und vor allem, weil es den Blockierern gelang, den Gipfelablauf tatsächlich, wenn auch nur am Rande, zu stören. Die Polizei musste die Bannmeile, die um den 12,5 Millionen Euro teuren Sicherheitszaun ausgerufen worden war, im Verlaufe der Blockaden faktisch aufgeben und konnte effektive Blockaden nicht verhindern. Immerhin musste die Bundeswehr eingesetzt werden, um Journalisten zum Gipfel zu transportieren und zumindest eine Pressekonferenz konnte nicht wie geplant durchgeführt werden.

Der politische Erfolg besteht aber in der Durchsetzung einer massenhaften Aktion des zivilen Ungehorsams, die auf große Sympathien in der Bevölkerung stieß. So gelang es auch die Stimmung in Teilen der mecklenburgischen Bevölkerung, die sich durch die Auseinandersetzungen auf der Demonstration gegen den Protest entwickelt hatte, zumindest teilweise wieder zu kippen.

Auch der Besuch der Protest-Camps mit 18.000 und des Alternativ-Gipfels mit über 2.000 TeilnehmerInnen war sehr gut.

Gibt es also eine neue globalisierungskritische oder gar antikapitalistische Bewegung? Die Größe und Radikalität der Proteste hat sicherlich die wachsende antikapitalistische Stimmung in Teilen der, vor allem studierenden, Jugend zum Ausdruck gebracht. Marxistische Ideen stießen in der Protestwoche auf großes Interesse, genauso wie sich mit der Interventionistischen Linken offensichtlich eine Gruppierung herausbildet, die einen Teil der sich radikalisierenden Jugendlichen ansprechen und sammeln kann. Proteste dieser Art werden sicher auch in Zukunft eine große Teilnehmerzahl anziehen. Doch ob daraus eine Bewegung wird, die diesen Begriff verdient – die also auf kontinuierlicher Basis zu Selbstaktivität und -organisation unter einem größeren Teil der Jugendlichen führt – bleibt abzuwarten.

Abwesenheit der Gewerkschaften

Der positiven Mobilisierung unter Teilen der Jugend steht die fast völlige Abwesenheit der Gewerkschaften gegenüber. Die DGB-Spitze hatte es vorgezogen Gespräche mit Angela Merkel zu führen, anstatt zu den Protesten aufzurufen. Und in den Einzelgewerkschaften gab es zwar eine Reihe von Untergliederungen, die zum Protest aufriefen oder auch Busse organisierten, aber die Gewerkschaften drückten den Ereignissen nicht nur nicht ihren Stempel auf, man musste sie auch mit der Lupe auf den Protesten suchen. Angsichts der über sieben Millionen Gewerkschaftsmitglieder, die die potenziell stärkste organisierte Kraft in der Gesellschaft darstellen und angesichts der massiven Angriffe, der diese KollegInnen ausgesetzt sind, ist dieser faktische Boykott der Proteste durch die Gewerkschaftsführung geradezu kriminell. Offensichtlich fürchten die Gewerkschaftsbürokraten eine politische Befruchtung ihrer Mitglieder durch die globalisierungskritischen und antikapitalistischen Jugendlichen, die zu Forderungen nach einer politischen Verallgemeinerung gewerkschaftlicher Proteste beitragen könnte.

Auch die Gelegenheit zur massiven Steigerung des Telekom-Streiks wurde nicht ergriffen. Alle Ankündigungen den G8-Gipfel zu bestreiken blieben leere Drohungen.

Die Gewerkschaftsführung trägt durch ihren Boykott auch eine Verantwortung für den Verlauf der Demonstration am 2. Juni. Denn sie hätte mit einer ernsthaften Mobilisierungskampagne hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter nach Rostock mobilisieren können und sowohl durch diese Masse, als auch durch einen organisierten gewerkschaftlichen Ordnerdienst die DemonstrantInnen gegen Polizeiübergriffe genauso schützen können, wie Randalierer von der Demonstration isolieren können.

Dass dies ausblieb bedeutet auch, dass die radikalisierten Jugendlichen keine Vorstellung von der potenziellen Kraft der Arbeiterklasse bekommen können und sich so eher individualistischen Aktionsformen zuwenden könnten, als den Aufbau einer schlagkräftgen Massenbewegung der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen als zentrale Aufgabe für die Bewegung zu erkennen.

Dies ist aber die entscheidende Aufgabe: die Verbindung der antikapitalistischen Proteste mit der Masse der Arbeiterklasse und der Aufbau einer gemeinsamen Massenbewegung, die den Kapitalismus und den kapitalistischen Staat tatsächlich herausfordern kann. Die Basis für eine solche Bewegung muss die Arbeiterklasse sein, also die Klasse aller Lohnabhängigen. Nur sie kann aufgrund ihrer ökonomischen Stellung die kapitalistische Gesellschaft zum Stillstand bringen und eine sozialistische Gesellschaft organisieren. Dazu muss eine kämpferische Arbeiterbewegung auf sozialistischer Grundlage wieder aufgebaut werden, die sich mit der antikapitalistischen Jugend verbindet und dieser eine Perspektive zur gesellschaftlichen Veränderung aufzeigt.

Rolle der Partei DIE LINKE

Trotz der antikapitalistischen Rethorik von Oskar Lafontaine und dem medial gut inszenierten Auftreten der Partei DIE LINKE (bzw. da diese während der Proteste noch nicht offiziell gegründet war – der Linkspartei.PDS und WASG) leistet die Führung der neuen Partei bisher keinen Beitrag zum sozialistischen Wiederaufbau einer kämpferischen Arbeiterbewegung. Der Widerspruch zwischen radikalen Reden und pro-kapitalistischem Handeln in Landesregierungen und Kommunen in Ostdeutschland war beim Auftreten der Partei DIE LINKE schon optisch präsent, wenn man sich die erste Reihe des nicht besonders beeindruckenden Blocks auf der Demonstration am 2. Juni betrachtete. Dort marschierten die zu „Marx 21“-Netzwerk“lern (so der Name ihres neues Magazins) mutierten Linksruck-Studierenden in einer Reihe mit der den Sozialabbau des Berliner Senats legitimierenden Katina Schubert, mittlerweile stellvertretende Vorsitzende von DIE LINKE. Die Marx21/Linksruck-AktivistInnen mussten sich die ganze Woche mächtig ins Zeug legen, um der Partei DIE LINKE den Anschein zu geben, sie sei aktiv und kämpferisch an den Protesten beteiligt. Für eine Partei mit über 70.000 Mitglidern und 54 Bundestagsabgeordneten war das Auftreten aber vielmehr enttäuschend. Warum dies so war, wurde deutlich als Bodo Ramelow am Rande des Evangelischen Kirchentags sagte, dieser sei der bessere gloablisierungskritische Protest!

Interessant war vor allem aber, dass die neue Partei in den Diskussionen der jugendlichen DemonstrantInnen eine sehr geringe Rolle spielte und diese sich offensichtlich mehr von radikaleren Ideen und Organisations- und Aktionsformen angesprochen fühlen, als dem bieder-parlamentarischen Profil der Partei DIE LINKE.

Beteiligung von SAV und CWI

Bei der Demonstration am 2. Juni bildete die SAV gemeinsam mit Mitgliedern ihrer Schwesterorganisationen aus Großbritannien, Irland, Schweden, Belgien und den Niederlanden einen kämpferischen und disziplinierten Block von ca. 200 TeilnehmerInnen. Im Verlauf der Woche stießen noch Mitglieder aus Griechenland zu den ca. 120 CWI-AktivistInnen, die an der gesamten Protestwoche teilnahmen.

SAV/CWI nahmen an allen wichtigen Demonstrationen und Blockaden teil und spielten vor allem bei der Durchsetzung des Demonstrationsrechts für die Demo für die Rechte von MigrantInnen am 4. Juni gemeinsam mit anderen Linken eine wichtige Rolle. Aber auch bei den Blockaden gehörten SAV und CWI zu den am besten organisierten Gruppen.

Vor allem aber waren es die SAV- und CWI-Mitglider die offensiv eine sozialistische Perspektive für die globalisierungskritische Bewegung vertraten und auf verschiedensten Veranstaltungen in Rostock, auf einem Protestcamp und beim alternativen Gipfel zur Debatte stellten.

Das Interesse war groß: es wurden über 1.100 Exemplare der Solidarität – Sozialistische Zeitung verkauft und über achtzig ProtestlerInnen erklärten, dass sie mit SAV und CWI die Diskussion fortsetzen wollen. Neun Jugendliche erklärten ihren Eintritt in die SAV.

Sascha Stanicic ist Bundessprecher der SAV und war an der Protestwoche in Rostock beteiligt.