Europa: Unzufriedenheit wächst

Bericht vom 9.Weltkongress des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI), Januar 2007, Teil 6
In der Europa-Diskussion wurde deutlich, dass in allen Ländern Europas einerseits die gleiche neoliberale Politik von Kürzungen sozialer Leistungen und Löhnen umgesetzt wird, andererseits die Unzufriedenheit und Wut in der Arbeiterklasse über diese Politik massiv anwächst.
 

von Holger Dröge, Berlin

Soziale Errungenschaften die zumeist nach dem 2. Weltkrieg gewonnen wurden, werden nun zurückgenommen. Viele Menschen können ihren bisherigen Lebensstandards oft nur auf Basis von Verschuldung bzw. durch die Arbeit in mehr als einem Job aufrecht erhalten. Aber auch die Wut unter größeren Teilen der Arbeiterklasse gegen diese Politik wächst. Teils entlädt sich diese in sozialen Bewegungen und Protesten, aber oft wird sie noch durch die Gewerkschaftsbürokratie zurückgehalten.

Gemeinsam in allen Ländern ist: Die Arbeiterklasse soll zahlen. In Westeuropa versucht kein bürgerlicher Politiker eine Vision von höheren Lebensstandards und einem besseren Leben anzubieten. Die meisten Menschen in Europa haben große Angst vor der Zukunft. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sind junge Menschen mit schlimmeren Bedingungen als ihre Eltern konfrontiert. Das wirtschaftliche Wachstum 2006 hat diese Situation nicht grundsätzlich verändert.

Gewinner…

Die Hauptlinie der Politik in Europa ist gerade neoliberale Politik. Das bedeutet, dass die kapitalistischen Profite durch Lohnsenkungen, Arbeitsplatzabbau und Privatisierung erhalten werden sollen. Dies funktioniert enorm: Überall in Europa verzeichnen die Kapitalisten neue Rekordprofite. In Deutschland zum Beispiel verdoppelten sich die Profite in den letzten zehn Jahren auf 420 Milliarden Euro im Jahr. Gleichzeitig befindet sich die Lohnquote nur noch auf dem Stand der 60er Jahre. In Italien besitzen die vier reichsten Familien mehr Vermögen, als der italienische Staatshaushalt ausmacht. Die Zahl der Milliardäre wächst dabei in enormer Geschwindigkeit, aber nicht nur ihre Zahl, sondern auch das von ihnen kontrollierte Vermögen wächst enorm.

…und Verlierer

Während der Reichtum der Kapitalisten wächst, zahlt die Arbeiterklasse den Preis dafür. Die Arbeitslosigkeit ist enorm gestiegen, während die Löhne fallen. In Deutschland sind nur noch 50 Prozent der Beschäftigten in einem Vollzeitjob beschäftigt. Elf Millionen Menschen arbeiten Teilzeit. Viele neue Jobs entstehen nur noch als Leiharbeit und zu schlechten Löhnen. Betont wurde in den Diskussionen, dass Deutschland, dass bei der Umsetzung neoliberaler Politik lange als Schlusslicht galt, massiv aufgeholt hat. Mit den Hartz-Gesetzen, der Erhöhung des Rentenalters und der anderen Kürzungspolitik wurde in Deutschland über wenige Jahre eingeführt, was zum Beispiel in Großbritannien 20 bis 25 Jahre dauerte. Dies hat hier in den letzten Jahren zu einer Reihe von großen Mobilisierungen von Gewerkschaften und Erwerbslosen geführt, gleichzeitig aber auch die Erpressbarkeit von Belegschaften erhöht und den betrieblichen Widerstand verkompliziert.

Widerstand

Überall in Europa will die Mehrheit der gegenwärtigen Gewerkschaftsführer die Offensive der Bosse nicht ernsthaft herausfordern. Die meisten handeln bewusst als Bremse der Gegenwehr. Diese Führer sind politisch fest im kapitalistischen System verwurzelt, wie der Skandal bei Volkswagen gezeigt hat, wo der Betriebsratsvorsitzende alleine 2002 fast 700.000 Euro an Bestechungsgeldern bekam.

Die Arbeiterklasse ist wütend, doch die Gewerkschaftsführung in einigen Ländern ist noch weitgehend in der Lage Proteste zurückzuhalten. Aber dies ist nicht von Dauer, wie die Entwicklung in anderen europäischen Ländern gezeigt hat. Dies hat sich in Frankreich in den Kämpfen gegen das CPE gezeigt. Es sind aber nicht nur die „üblichen Verdächtigen” Frankreich, Italien und Griechenland, in denen es Kämpfe gegeben hat, sondern auch in Ländern in denen es einige Zeit wenig Klassenkämpfe gegeben hat, wie zum Beispiel Belgien, Dänemark, den Niederlanden und Portugal.

Für die Frage, ob Kämpfe erfolgreich sein können, bekommt das Programm eine größere Bedeutung. Es stellt sich für ArbeiterInnen die Frage: „Wenn wir kämpfen, gibt es eine Siegeschance?”, lohnt sich die Auseinandersetzung also überhaupt? Belegschaften heute sind kleiner geworden, es gibt mehr Leiharbeiter und befristete Stellen. Viele gewerkschaftliche Erfahrungen sind verloren gegangen. Das bedeutet, dass die Gewerkschaften mit einem Kampfprogramm bewaffnet werden müssen. Es wird den Wiederaufbau der besten der alten und die Schaffung von neuen Traditionen umfassen müssen, besonders unter jungen ArbeiterInnen, die nicht die Erfahrung der Gewerkschaftsarbeit haben.

Die Mitglieder des CWI verstehen sich in diesem Prozess nicht bloß als Beobachter und Kommentatoren, sondern als aktiver vorantreibender Teil. In Großbritannien sind Mitglieder des CWI in vielen nationalen Vorständen von Gewerkschaften vertreten und setzen sich für einen kämpferischen Kurs ein. Aber auch in anderen Ländern sind Mitglieder des CWI aktiver Teil der Gewerkschaftsbewegung.

Europäische Wirtschaft

Für Marxisten sind die wirtschaftlichen Entwicklungen von enormer Bedeutung, so spielten diese auf dem Weltkongress auch eine große Rolle. Die Beschleunigung des europäischen Wirtschaftswachstums in der ersten Hälfte des Jahres 2006 mit einem Höchststand seit 2000 ließ die offiziellen kapitalistischen Kommentatoren und besonders die politischen Führer Optimismus verbreiten.

Aber selbst das prognostizierte höhere Wachstum von 2,6 Prozent, das 2006 in den „alten Ländern“ der Europäischen Union der 15 erreicht werden wird, liegt weit unter den Werten aus der jüngsten Vergangenheit. Früher waren die Wachstumsraten höher und erreichten 2000 mit 3,9 Prozent den Höhepunkt. Dieses langsame Wirtschaftswachstum war teilweise Ergebnis der internationalen Offensive der herrschenden Klasse, die den Lebensstandard nach unten drückte und Staatsausgaben begrenzte, was die Konsumnachfrage verringerte. Wo es in Europa Binnenwirtschaftswachstum gegeben hat, hat das weitgehend auf einer Erhöhung der Verschuldung basiert.

Das schnellere Wirtschaftswachstum von 2006 war das Ergebnis sowohl der weltwirtschaftlichen Lage (mit einem leichten Rückgang im Ölpreis) als auch verschiedener Gründe in manchen Ländern. In Spanien hält der Wirtschaftsboom nun schon seit 1995 an, allerdings ist er vor allem auf eine massive Immobilienspekulation und Verschuldung gestützt. In einer ganzen Reihe von Ländern hat eine Explosion der Immobilienpreise eine entscheidende Rolle gespielt, die Konsumausgaben zu halten, da sie es HauseigentümerInnen ermöglichte ihre Kreditaufnahme zu steigern auf der Grundlage, dass der Marktpreis ihrer Immobilien gestiegen war. Das kann allerdings nicht ewig so weitergehen.

Ein weiteres Merkmal der gegenwärtigen Lage ist der riesige Anstieg der Profite und ein Rückgang der Unternehmensverschuldung. Aber diese riesigen Geldbeträge werden zur Steigerung der Dividenden und zur Finanzierung einer Übernahmewelle verwendet statt für Investitionen.

Den kapitalistischen Regierungen ist bekannt, dass das Wachstum auf tönernen Füßen steht. Das Wirtschaftswachstum hat kaum zum Ausbau industrieller Beschäftigung geführt. Von daher ist klar, dass die Angriffe auf die Arbeiterklasse aus ihrer Sicht fortgesetzt werden müssen.

Kommende Kämpfe

Europa befindet sich heute in einer extrem instabilen Lage. Seine Wirtschaft hängt von Schulden ab, sowohl im Inland als auch in den USA, um das Wachstum anzuheizen. Bis auf wenige Ausnahmen sind seine Regierungen unbeliebt oder verhasst. In vielen Ländern verlieren die bürgerliche Institutionen, wie Gerichte, an Autorität, was die Entfremdung weiterer Teile der Arbeiterklasse mit dem kapitalistischen System ausdrückt.

Wenn die sich immer wieder entwickelnden Kämpfen in verschiedenen Ländern mit einer negativen Veränderung der wirtschaftlichen Lage zusammentreffen, wird dies enorme Konsequenzen haben. Große Bewegungen können daraus entstehen und es wird die Aufgabe des CWI sein, diese Bewegungen voranzubringen und dabei die Organisation aufzubauen. Bereits seit dem letzten Weltkongress 2002 hatte das CWI in vielen Ländern erfolgreich agieren können. In den nächsten Jahre gilt es dies zu verstärken.