Hugo Chávez rückverstaatlicht ehemals privatisierte Betriebe
Nachdem Hugo Chávez im letzten Dezember mit beruhigendem Vorsprung wieder die Präsidentschaftswahl gewonnen hat und bei der Vereidigungszeremonie seinen Plan vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ angekündigt hat, richtet sich jetzt die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Frage der Verstaatlichungen.
von Pablo Alderete, Stuttgart
Die Chávez-Regierung profitiert von den sprudelnden Erdölerlösen und einer wachsenden Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt von Venezuela stieg im Jahr 2006 um 10,3 Prozent. Zum dritten Mal hintereinander weist Venezuela die höchste Wachstumsrate in Lateinamerika auf. Den Verstaatlichungen widmete die spanischen Tageszeitung El Pais in ihrer Wirtschaftsbeilage am 21. Januar mehrere Artikel. Fernando Cano beginnt seinen Artikel mit der Feststellung: „Venezuela hat die Welt wieder einmal überrascht. Der Präsident Hugo Chávez hat angekündigt, die wichtigsten Konzerne in den Bereichen Telekommunikation, Energie und Erdöl zu verstaatlichen.“
Telekommunikation
Direkt nach der Vereidigung seiner Minister kündigte Chávez an, die Kontrolle über den Telefonkonzern CANTV zu übernehmen und dafür der US-amerikanischen Firma Verizon, die 28,5 Prozent von CANTV besaß, Aktien abzukaufen. Angesichts der Alarmsignale an den Börsenmärkten beschwichtigte der Finanzminister Rodrigo Cabezas, dass Venezuela keine „Enteignung“ durchführen wird: „Der Verstaatlichungsprozess wird innerhalb des verfassungsrechtlichen und legalen Rahmen verlaufen, und der verbietet Enteignungen. Der Staat wird die entsprechenden Marktpreise für die Anteile zahlen“ (La Nación vom 11. Januar). Erleichtert zeigte sich der spanische Telekommunikationsriese Telefónica, führender Mobilfunkanbieter in Venezuela. Denn der Mobilfunkbereich ist von den Plänen nicht betroffen.
Energiesektor
Anfang der neunziger Jahre – vor Chávez’ Präsidentschaft – war der große Stromversorger Electricidad de Caracas (EDC) genau wie das Telefonunternehmen CANTV privatisiert worden. In den EDC hat sich nun der Staat einkauft, indem er der USFirma AES Corporation 82,14 Prozent der Aktienanteile an EDC für 739 Millionen US-Dollar abkaufte. Nach Regierungsangaben steht es jedem Energiekonzern weiterhin frei, in Venezuela zu bleiben – unter der Bedingung, dass der Staat eine Mehrheitsbeteiligung an der Firma oder dem Projekt behält.
Erdölindustrie
In der Erdölgewinnung und ihrer Weiterverarbeitung stellt privates Kapital lediglich 16 Prozent der venezolanischen Gesamtproduktion (Venezuela ist der achtgrößte Produzent von Erdöl). Seit 2005 wurden mehrere Abmachungen getroffen, die die Beteiligungsstruktur in Erdölprojekten zu Gunsten des Staates veränderten. Die spanische Firma Repsol hat die strategische Kontrolle über ihre Ölfelder der staatlichen Ölfirma PVDSA übertragen, die jetzt mehr als 70 Prozent der nationalen Produktion erbringt. Nach Regierungsangaben wurden – schon vor der Ankündigung von Verstaatlichungen – 32 Lizenzen von multinationalen Firmen zur Erdölausbeutung in gemischte Beteiligungsformen (empresas mixtas) umgewandelt. Der Staat hat über den PVDSA-Konzern die Kontrolle, die Multis agieren als „Juniorpartner“.
Chávez’ Wirtschaftspolitik
„Was für ein Ziel wird dann mit den Verstaatlichungen verfolgt?“, fragt Fernando Cano. Er schreibt, als praktische Konsequenz würde die Ankündigung von Verstaatlichungen den Druck auf die Firmen erhöhen, die bisher keine Abkommen mit dem Staat getroffen haben, das nachzuholen. Es würde British Petroleum, Exxon Mobil, Chevron, Conoco Phillips und Total and Statoil betreffen. Der Präsident der PVDSA, Rafael Ramirez, erwartet, dass mit den neuen Abkommen und den gemischten Beteiligungsstrukturen der Staat bis zum Jahr 2017 sechs Milliarden US-Dollar zusätzlich einnehmen wird. Auch sollen die Steuerabgaben für die Förderung von Erdöl von ein Prozent auf 16 Prozent pro gefördertes Barrel steigen, und die Gewinnsteuer von 34 Prozent auf 50 Prozent. Die Regierung verspricht sich davon folgende Resultate: Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, Verringerung der Abhängigkeit von den USA als Haupthandelspartner und Kontrolle über die Ölregion des Orinoco-Beckens, in dem eines der größten Erdölvorkommen der Welt vermutet wird.
Widersprüche
Wiederholt kam es in den letzten Jahren in Venezuela zu Massenmobilisierungen; in erster Linie, um Vorstößen der Reaktion Einhalt zu gebieten. Vor diesem Hintergrund leiteten Chávez und seine Regierung die radikaleren Maßnahmen ein. Die Errungenschaften in Venezuela müssen mit aller Entschlossenheit verteidigt werden. Die Sozialreformen, die Verbesserungen für die Armen vor allem in den Bereichen Gesundheit und Erziehung und die politischen Signale, die Venezuela in die Welt aussendet – dass es möglich ist, den Vormarsch von Neoliberalismus und Kapitalismus zu stoppen und dass dafür mit dem Kampf um ein sozialistisches Gesellschaftssystem begonnen werden muss.
Die inneren Probleme Venezuelas zeigen sich dieser Tage in den Supermärkten und Metzgereien von Caracas und anderen Städten. Die Lebensmittelindustrie, die zu 80 Prozent von zwei mächtigen Familien, den Mendozas und Cisneros kontrolliert wird, bekämpft die von der Regierung verordneten Preiskontrollen. Der Inflationsdruck von 20 bis 36 Prozent für Lebensmittel trifft vor allem die Familien aus der Arbeiterklasse und der Armen. Die Regierung hat mit einem Gesetz gegen Lebensmittelspekulation geantwortet und gedroht, einige kleinere Firmen zu verstaatlichen – ohne eine Aussage zu der Rolle dieser zwei Oligarchen-Familien zu machen.
Gefahr der Konterrevolution
Die venezolanische Elite, unterstützt vom US-Imperialismus, ist bereit, zum nächstbesten Zeitpunkt das Rad der Geschichte zurück zu drehen und den Prozess, der seit 1998 begonnen hat, rückgängig zu machen. Dass in Venezuela den Kapitalisten die wirtschaftliche und politische Macht nicht entrissen wurde, bedeutet, dass die Kapitalisten und Großgrundbesitzer in der Lage verbleiben, sich für eine Konterrevolution zu sammeln. Ebenso steht die Chávez-Regierung von unten unter Druck. Armut, Inflation, Korruption bestehen weiterhin und erzeugen Unruhe.
Auf den derzeitigen Öleinnahmen darf man sich nicht ausruhen. Deshalb reicht es nicht, nur einzelne Bereiche der Wirtschaft zu verstaatlichen, sondern die gesamten Schlüsselindustrien. Um die Macht der großen Kapitalbesitzer zu brechen, sind Enteignungen durchzuführen und Entschädigungen nur bei erwiesener Bedürftigkeit zu gewähren – um die Gesellschaft grundlegend zu verändern und den Menschen große Verbesserungen zu bringen.
Arbeiterkontrolle
Um die Produktion statt nach dem Profit nach den Bedürfnissen von Mensch und Umwelt zu organisieren, ist die Frage von Verstaatlichungen zudem mehr als eine Verteilungsfrage. Es ist eine Machtfrage, weil sich die alte herrschende Klasse nicht freiwillig verabschiedet und ebenso die Massen in den Betrieben und Verwaltungen die Macht nicht an staatliche Funktionäre abgeben dürfen, sondern sie selbst ausüben sollten.
Das alles erfordert die aktive Einbeziehung der arbeitenden Bevölkerung auf allen Ebenen in Diskussionen und Entscheidungen. Umfassende Verstaatlichungen sollten Hand in Hand gehen mit der Einführung von Arbeiterkontrolle – als erster Schritt zur Verwaltung der Betriebe durch die Beschäftigten.
Arbeiterkontrolle bedeutet, dass die Belegschaften mittels demokratisch gewählter VertreterInnen – die jederzeit abwählbar sind und keine überhöhten Gehälter sowie Privilegien erhalten dürfen – über alle Fragen in den Betrieben selbst die Kontrolle haben: Löhne, Aufträge, Produktion, Verwaltung. Die verstaatlichen Betriebe sollten außerdem Teil eines demokratischen Produktionsplans werden.
Auf dem Weg zu einer grundlegenden Umgestaltung der Machtverhältnisse ist es nötig, dass die arbeitende Bevölkerung ihre eigenen Organisationen aufbaut. Soll die von Chávez initiierte Vereinigte Sozialistische Partei nach vorn weisen, ist auch hier die aktive Einbeziehung von Tausenden und Zehntausenden von ArbeiterInnen, verarmten Bauern und Jugendlichen geboten – die über Verstaatlichung, Arbeiterkontrolle und die erforderlichen Maßnahmen zur Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft lebendig diskutieren, streiten und die nächsten Aufgaben in Angriff nehmen.