Von Subkulturen und der Sehnsucht nach einem freien Zugang zur Kunst
Die gefeierte Individualität ist im Kapitalismus eine clever aufgezogene Farce. Wir glauben, uns zu unterscheiden, etwas Besonderes zu sein. Die Musik, die wir hören, die Klamotten, die wir tragen, die Sprache, die wir sprechen – ist das nicht unser Stil, unser Ding, das von uns und unseren Leuten? Ja und nein.
In „Plastic Nation“ von Public Enemy heißt es in der Hookline:
„Tell me what you don’t like about yourself
I wanna change my face, and I wanna change my body, I wanna change my body
Tell me what you don’t like about yourself
I wanna change my face, it would be so … great.“
Was liebst du nicht an dir selbst? Das sagen sie dir: auf großen Plakaten, in auf Hochglanz polierten Magazinen und auf MTV.
von Ingmar Meinecke, Leipzig
Unterhaltung als Industrie
In den letzten Jahrzehnten verbuchte eine Industrie immer wieder Erfolge. Sie schmilzt keinen Stahl, montiert keine Autos und bohrt auch nicht nach Öl. Sondern sie produziert Trends, Vergnügen, Spaß. Private Radiosender überschütten uns täglich mit dem „Besten“ der Achtziger, Neunziger und von heute. Musik- und Filmindustrie lassen uns teuer für kleine silberne Scheiben zahlen und beschuldigen uns in den Kinos schon mal vorbeugend des Diebstahls. Konzertpreise erreichen nicht gekannte Höhen ebenso wie das Einkommen der Super-Popstars und die Profite der Majorlabels, während neue junge Bands kaum Proberäume finden. In unserer Freizeit werden wir in Vergnügungsparks gelockt, falls wir den Eintrittspreis meistern. Ansonsten bleiben wir vor dem Computer oder Fernseher hängen. Oder setzen uns mit einem Bier vor den Spätshop.
Immer wieder versuchen Jugendliche, Musiker und Künstler diese Tristesse des Alltags, diese kalte Maschinerie zu durchbrechen. Immer wieder entstehen neue Subkulturen außerhalb des Kommerz-
Pops, um einfach wieder zu sich selbst zu kommen. In den letzten 50 Jahren sind aus dem Untergrund immer neue Kulturen in atemberaubender Geschwindigkeit erwachsen: Rock ‘n’ Roll, Mods, Skins, Hippies, Disco, Punk, New Wave, Hip-Hop, Gothic, Techno, House. Sie hatten verschiedene Hintergründe – manche kamen eher aus der Mittelklasse, andere ganz klar aus der Arbeiterklasse. Viele waren und sind Kulturen von Minderheiten, ehe sie den Mainstream erreichten. Disco war zum Beispiel am Anfang vor allem auch eine sexuelle Befreiung für Schwule und Lesben. Sie waren die Pioniere des Dancefloors.
Hip-Hop – Party und Kampfansage
Hip-Hop und Rap waren eine klare Subkultur der Afroamerikaner. Sie entstand Mitte der Siebziger in dem New Yorker Stadtteil Bronx. Die Basis für die Hip-Hop-Kultur stellten die DJs. Wurden bis dahin die Songs nur aneinander gereiht, so begann Kool DJ Herc damit, sich Breakbeats herauszusuchen und diese zu wiederholen, indem er dieselbe Platte auf zwei Turntables auflegte und diese ineinander mixte. Ihm folgten rasch zwei weitere frühe Helden des DJing: Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa. Bambaataa wuchs in den späten Sechzigern auf. Er war noch geprägt von den militanten Kämpfen der Schwarzen gegen den Rassismus der USA, insbesondere den Aktionen der Black Panther Party. Gegen diese schlug der Staat mit aller Härte zu. Hatten sich die Panthers doch bewaffnet und sozialistische Schlussfolgerungen gezogen. Die Panthers sagten voraus, dass nach ihrer Zerschlagung die Ghettos den Drogendealern und Gangstern zufallen würden. Und so geschah es: In den Siebzigern erschütterten blutige Bandenkriege auch die Bronx. Bambaataa war damals selbst Mitglied der Gang „The Black Spades“. Doch als 1975 sein Freund Soulski mit neun Kugeln niedergeschossen wurde, verabschiedete sich Bambaataa langsam von den Gangs. Der Idee einer Organisation, die Geborgenheit bieten konnte, treu bleibend, gründete er die „Zulu-Nation“. Diese wurde eine wahre Institution des Hip-Hop. Aus den blutigen Straßenschlachten der Gangs wurden nun bald Battles zwischen den DJs und dann auch den MCs, die zur Musik der DJs zu rappen begannen. Bei den Battles der Rapper kommt es darauf an, im Rap-Dialog spontan die besseren Reime hinzukriegen. Bis 1979 blieb Hip-Hop eine reine Live-Kultur der New Yorker Ghettos.
Erst da begann die Plattenindustrie aufmerksam zu werden. Die Produzentin Robinson stellte die Sugar Hill Gang extra für eine Studioaufnahme zusammen. Dieser gelang der erste Superhit auf Platte: „Rapper’s Delight“. Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa betrachteten dies als großen Betrug. Doch auch diese fanden schließlich, wenn auch nicht ohne innere Widerstände, den Weg auf Vinyl. Grandmaster Flash & The Furious Five setzten mit ihrer zweiten Single „The Message“ das Leben im Ghetto in Reime um. Sie rappten über Drogen, Arbeitslosigkeit und Polizeigewalt. Grandmaster Melle Mel sagte später über „The Message“: „Wir dachten, kein Mensch würde sich diesen knallharten Text anhören. Aber als die Platte dann rauskam, merkten wir, dass die Leute wirklich wissen wollten, was los ist, und nicht, was die Nachrichten oder die Zeitungen sagen. Und sie wollten es von jemand hören, der genau wie sie ‘ne Menge durchgemacht hat, und nicht vom Präsidenten, der hinter seinem Schreibtisch sitzt und sagt: Alles ist in Ordnung, blablabla.“
Auch der Hip-Hop blieb vor kommerziellem Abklatsch nicht verschont. So reimte die deutsche Crew Advanced Chemistry im Song „Alte Schule“ dann auch 1993: „Das war’n Zeiten, mit Breakdance in der Fußgängerzone, das war gar nicht ohne, Zeiten, als kein Rapvideo zeigte, wo’s lang ging, man selber dran ging, Zeiten, als an der Marke des Turnschuhs, den man trug am Fuß, keiner nahm Anstoß.“ Der weltweite Erfolg des Hip-Hop war zwar von einer Kommerzialisierung begleitet, trotzdem ist er nicht allein mit der Promotion durch die Musikindustrie zu erklären. Selbst in der DDR begannen Jugendliche begeistert Breakdance zu tanzen – allen argwöhnischen SED-Bonzen zum Trotz. Manche sahen sich bis zu 30 Mal und mehr im Kino den Film „Beatstreet“ an, um die Moves der B-Boys & B-Girls zu lernen. In den USA demaskiert eine Band wie Public Enemy auch heute noch Bush und das Kapital.
Überwachung und Einheitsbrei
Jugendliche haben heute und hier immer mehr Probleme, sich selbst zu entdecken und auszuprobieren. Sprayer werden hart verfolgt. Polit-Bonzen führen scheinheilige moralische Kampagnen gegen die „gewalttätige Jugend“ und überwachen sie am liebsten mit Kameras. Selbstverwaltete Jugendzentren werden geräumt – so wie gerade erst in Kopenhagen geschehen, wo die Polizei über 600 Jugendliche verhaftete. Wir haben bis auf wenige freie Radios keinen Einfluss darauf, was uns im Äther geboten wird. Auch der Aufbau eigener Nischen wird schwieriger. Hartz IV und Arbeitszwang lassen Musikern und Künstlern fast keine Luft mehr.
Dominierend werden immer mehr Produkte aus der Retorte wie die berüchtigten Girl- & Boygroups. Während das Internet und die Digitalisierung die Voraussetzungen zum massenhaften Zugang zur Kunst – seien es Filme, Musik, Bilder oder Lyrics – geben, so versuchen die Konzerne das freie Herunterladen zu verbieten, damit ihre Profite nicht geschmälert werden. Dieser Widerspruch schreit zum Himmel.
Fight the Power
In einer sozialistischen Gesellschaft gibt es keine Profitinteressen mehr. Damit haben alle die Möglichkeit eines freien Zugangs zu Kultur und Kunst. Künstler würden von der Gesellschaft finanziert werden. Vor allem würde durch eine gewaltige Arbeitszeitverkürzung für alle ein Job und ebenso mehr Zeit da sein, das zu machen, was man schon immer wollte – in einer Band spielen, Radiosendungen moderieren, Partys organisieren, weiß der Teufel. Ein historischer Beleg dafür ist die junge Sowjetunion um 1920, in der die Künste enorm aufblühten. Diese Freiheit der Kunst wurde später durch die stalinistische Bürokratie grausam erstickt. Diese Parodie des Sozialismus hatte Angst vor allem, was sie nicht kontrollieren konnte und was die beschränkten Bürokraten nicht verstanden. So machte in der DDR der Staat gegen Beatniks wegen angeblich „stinkender, ungepflegter Haare“ und „affenartigem Benehmen beim Tanz“ Stimmung. Bands wurden verboten. Dagegen formierte sich Widerstand unter Jugendlichen. Flugblätter riefen die „Beat-Freunde“ in Leipzig für den 31. Oktober 1965 zu einem „Protestmarsch“ in der Innenstadt auf. Mehr als 800 Beatfans demonstrierten am Leuschner-Platz. 267 Jugendliche wurden verhaftet und teils „zur Bewährung“ in den Braunkohlentagebau gesteckt.
Eine wirklich sozialistische Gesellschaft muss anders aussehen: Jugendliche müssen ihre eigenen Plätze haben und selbst über die Musik entscheiden, die sie machen und hören wollen. Sozialismus funktioniert nur mit strikter Demokratie von unten oder gar nicht.
Viele Linke haben nach 1968 allein auf die Pop-Kultur gesetzt. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass der Kapitalismus allerdings in der Lage ist, selbst kritische Subkulturen zu umarmen und unter einem Haufen Dollars zu ersticken und abzustumpfen. Fette Basslines können den Widerstand fördern, aber ebenso die Flucht nach innen. Kultur und Partys können den politischen Kampf nicht ersetzen. Aber Sozialismus und fortschrittliche Kunst gehören zusammen. Es gilt, das Wort und den Sound genauso zu erobern wie die Straße und für eine neue, eine sozialistische Welt zu kämpfen.